Der Gottesdienst

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche, Im Auftrag des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05910-5

1. Einführung

Sonntagmorgen, kurz vor halb zehn

Es ist Sonntagmorgen, kurz vor halb zehn. Obwohl der Gottesdienst erst in einer halben Stunde beginnen wird, ist in der Kirche schon einiges los. Manche sitzen bereits auf ihren Plätzen, andere stehen noch am Eingang. Man begrüßt und unterhält sich. Man lacht. Die Stimmung ist gelöst und doch voller Erwartung. Auch die Pfarrerin ist schon gekommen. Sie unterhält sich mit der Kantorin und begleitet dann eine Gruppe von Jugendlichen nach vorne zum Altarraum. Der neu gegründete Gospelchor hat seinen ersten Auftritt in der Gemeinde. So werden an diesem Sonntagmorgen auch viele neue Gesichter zu sehen sein. Gesangbücher werden ausgeteilt und die Neuankömmlinge herzlich begrüßt. Nicht ohne Stolz sagt ein Vater: "Mein Sohn ist heute auch dabei."

So oder ähnlich kann es sein, wenn sich am Sonntag die christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Wenn nach dem Orgelvorspiel der Gottesdienst "im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" eröffnet wird, kommt wieder der alte und doch ganz unverbrauchte Rhythmus der Liturgie zum Klingen, das Wechselspiel von Anrede und Antwort, von Verkündigung und Gebet, von Gottes Zusagen im Evangelium und Gottes Lob im Lied der Gemeinde. Die gottesdienstlichen Ausdrucksformen sind bunt und vielgestaltig. Ob Familiengottesdienst mit dem Kindergarten oder Gospelgottesdienst mit moderner Musik, ob klassische liturgische Feier im Stil der lutherischen Messe oder ein offen gestalteter Gottesdienst unter Beteiligung einzelner Gemeindeglieder, ob Thomasmesse oder Taizégottesdienst ­ solche Vielfalt ist charakteristisch für den evangelischen Gottesdienst. Aber gerade darin behaupten sich die zentralen Strukturmomente des Gottesdienstes, die schon der Evangelist Lukas für die frühchristliche Gemeinde herausgestellt hat: "Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet" (Apg 2,42).

Der Gottesdienst als Pulsschlag des christlichen Lebens

Die Christen aller Konfessionen feiern Gottesdienst - der Gottesdienst ist der Pulsschlag des christlichen Lebens. Nirgends wird deutlicher, wovon die christliche Gemeinde lebt und was sie trägt, als wenn sie sich an den dafür bestimmten Orten versammelt und singend, betend, hörend, lobend, dankend und musizierend vor Gott tritt. Bei allen Gemeinsamkeiten kommen freilich auch Unterschiede und unterschiedliche Akzentsetzungen zum Vorschein. Das kann man schon an der Wortwahl ablesen. Die evangelischen Christen bevorzugen seit der Reformation das Wort "Gottesdienst", während ihre römisch-katholischen Glaubensgeschwister lieber den Ausdruck "Messe" oder "Heilige Messe" verwenden, die Anglikaner eher "worship", Anbetung, sagen, und die Orthodoxen von der "Göttlichen Liturgie" sprechen, abgeleitet vom griechischen leitourgia, einem Wort, das ebenfalls einen Dienst bezeichnet. Im unterschiedlichen Sprachgebrauch schwingen unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliche konfessionelle Konturen mit. Sie können sich gegenseitig ergänzen, aber auch behindern. Wenn es gelingt, sie aufeinander zu beziehen, erweisen sie sich als ein schätzenswerter Reichtum.

Wichtige Fragen zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes

Um diesen Reichtum wahrzunehmen, muss das eigene Verständnis des Gottesdienstes klar sein. So entsteht die Frage: Weshalb bevorzugt die evangelische Christenheit das Wort "Gottesdienst", was geschieht überhaupt beim Gottesdienst und was ist das Evangelische daran? Diese Frage entspringt keineswegs dem Bedürfnis nach Abgrenzung. Das Evangelische ist nämlich kein Sondergut der evangelischen Kirche ­ es ist Ausdruck für den Vorrang des Evangeliums in allen Lebensäußerungen der Christenheit und damit ein ökumenisches Merkmal. So kann das evangelische Verständnis des Gottesdienstes auch in den Gottesdienstvollzügen anderer Kirchen angetroffen werden. Die evangelischen Kirchen stehen freilich in der Pflicht, das Evangelische im Verständnis des Gottesdienstes so klar wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Wenn das Evangelische von so grundsätzlicher Bedeutung ist ­ was ergibt sich daraus für die Gestaltung des Gottesdienstes?

Eine nächste Frage schließt sich unmittelbar daran an: Was wird eigentlich mit dem Dienen zum Ausdruck gebracht und wer dient wem, wenn Evangelische betont vom Gottesdienst sprechen? Nach konfessionsübergreifender Überzeugung wird der Gottesdienst als Ausdruck eines doppelten, sich vielfältig berührenden Dienens aufgefasst: Gott dient den Menschen, die den Gottesdienst feiern, und die den Gottesdienst feiernden Menschen dienen Gott.

Weil Gott den Menschen dient, dürfen die Besucher eines Gottesdienstes erwarten, dass sie nach dem Gottesdienst reicher sind als vorher. Was muss in Gottesdiensten geschehen, dass sich eine solche Erfahrung einstellen kann? Und was steht einer solchen Erfahrung hinderlich im Wege?

Eine weitere Frage erwächst aus der Bedeutung des Abendmahls für die Feier des Gottesdienstes. Das Abendmahl war von Anfang an ein gottesdienstlicher Höhepunkt, gewinnt doch in ihm die Gemeinschaft der Gemeinde mit Jesus Christus erkennbar Gestalt. Auf diese Weise entstand bald das Bedürfnis, möglichst in jedem Gottesdienst das Abendmahl zu feiern. Für römisch-katholische und orthodoxe Gottesdienstbesucher ist das selbstverständlich. Obwohl Luther und Calvin die häufige - und das hieß für sie: die sonntägliche - Feier des Abendmahls empfohlen hatten, blieb in den allermeisten evangelischen Kirchen das Abendmahl nur ganz bestimmten Sonntagen vorbehalten. Denn die Reformation war aus der befreienden Verkündigung des Evangeliums der Rechtfertigung des Sünders, also aus einem mit dem Predigtwort bezeugten Freiheitsruf, erwachsen. Das Wort der Verkündigung trat plötzlich aus dem Schatten des liturgischen Ritus, und der gottesdienstlichen Predigt wuchs ein so großes Ansehen zu, dass an ihr das Gelingen oder Misslingen des Gottesdienstes zu hängen schien. Für die evangelische Christenheit ist darum der "Wortgottesdienst" ein Gottesdienst in vollem Sinne. Wenn es sich so verhält, muss die Frage nach der Häufigkeit von Abendmahlsgottesdiensten und der Stellung des Abendmahls im Ablauf der gottesdienstlichen Feier bedacht werden.

Eine letzte Frage führt zur Eingangsszene zurück: zu einem Gottesdienst, der offensichtlich gut besucht wird und in dem sogar viele neue Gesichter auftauchen. Es gibt Gottesdienste, die eine erstaunliche Anziehungskraft entwickeln können. Das ist jedes Mal für die Gemeindeglieder und die Mitwirkenden ermutigend. Wir kennen freilich auch Gemeinden, in denen Gottesdienste vor fast leeren Kirchenbänken gefeiert werden müssen. Aber auch in solchen Gemeinden kann es Ausnahmen geben, zum Beispiel bei einer Hochzeit oder am Erntedanktag oder zum Heiligabend. Der Gottesdienst muss sich heute in einem weithin entkirchlichten Umfeld behaupten und stößt zudem auch noch auf die Konkurrenz attraktiver Freizeitangebote. Deshalb stellt sich die Frage nach seiner Qualität in einer früheren Generationen unbekannten Intensität.

Der sonntägliche Kirchgang ist einem punktuellen Gottesdienstbesuch zu bestimmten Anlässen gewichen, und mit der Pluralisierung der kulturellen Stile hat es der Gottesdienst immer schwerer, alle Gemeindeglieder anzusprechen. Manch einer wird nur deswegen vom Evangelium nicht erreicht, weil er sich an der gottesdienstlichen Musik oder an den Formen der kirchlichen Rede stört. Doch auch eine Anpassung des musikalischen Stils löst das Problem nicht. Die Offenheit bei der Gestaltungsweise muss mit der Überzeugungskraft und Klarheit des verkündigten Glaubens zusammenkommen.

Wie können Gottesdienste so gestaltet werden, dass die Menschen sie nicht versäumen möchten, weil sie sich angesprochen fühlen und sich einbezogen wissen? Wie kann die Ausstrahlung des Evangeliums so zum Leuchten kommen, dass unsere Gottesdienste sogar für Menschen interessant werden, denen der christliche Glaube nichts mehr sagt? Das Nachdenken über den Gottesdienst wird diese Fragen aufnehmen. Wenn der christliche Gottesdienst im Dienst Gottes an den Menschen verwurzelt ist, dann will dieser Dienst auch denjenigen zugutekommen, die ihre Begegnung mit Gott noch vor sich haben.

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