Der Gottesdienst

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche, Im Auftrag des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05910-5

5. Praktische Empfehlungen

Das öffentliche Zusammenkommen im Gottesdienst gehört zu den wesentlichen Kennzeichen der Kirche: "Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden" (Augsburger Bekenntnis, Artikel 7).

"Was will Gott im vierten Gebot? Gott will [...], dass das Predigtamt und die christliche Unterweisung erhalten bleiben und dass ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme. Dort soll ich Gottes Wort lernen, die heiligen Sakramente gebrauchen, den Herrn öffentlich anrufen und in christlicher Nächstenliebe für Bedürftige spenden. [...] So fange ich den ewigen Sabbat schon in diesem Leben an" (Heidelberger Katechismus, Frage 103). Kirche ist, so sagen es die reformatorischen Bekenntnisschriften, überall da, wo Gottesdienste gefeiert werden mit Verkündigung des Evangeliums, Taufe und Abendmahl ­ Gottesdienste, die dem Evangelium entsprechen, die jeder Christ aufsuchen soll und für deren Gestaltung er und sie mitverantwortlich ist. Diese Gottesdienste machen deutlich, wovon die christliche Gemeinde lebt und was sie trägt. In den folgenden Abschnitten wird deshalb aus der Perspektive der konkreten Kirchengemeinde gefragt: Was folgt daraus für unsere gottesdienstliche Praxis? Was sind unsere Aufgaben? Was sind unsere Möglichkeiten?

5.1 Einladend feiern

Unsere Gottesdienste machen deutlich, wovon wir leben. Sie zeigen, wer wir sind: Kirche Jesu Christi. Aber wie sind wir es? Für wen sind wir es und vor wem ­ für uns selbst, für die Gesellschaft, vor der Öffentlichkeit, vor Gott? Wir feiern Gottesdienste, aber in welcher Gestalt tun wir es und mit welcher Ausrichtung? Christliche Gottesdienste sind keine selbstgenügsamen Veranstaltungen, auch wenn es zunächst die Gemeinschaft der Glaubenden ist, die sich zu ihrer eigenen Stärkung um Wort und Sakrament versammelt, wie Gott es ihr aufgetragen hat. Doch die Gemeinschaft der Glaubenden feiert Gottesdienst im Wissen um ihre Verantwortung für alle Mitgeschöpfe, für die Gesellschaft, in der sie lebt, für die Welt. Und so soll der Gottesdienst Gott die Ehre geben, die Glaubenden stärken und die Gemeinde aufbauen, zum Wohl aller. Dann wird er missionarisch ausstrahlen.

Die Glaubenden feiern ihren Gottesdienst vor Gott und geben ihm mit ihrem Tun die Ehre.

Weil wir unsere Gottesdienste zu Gottes Ehre feiern, sollte eines selbstverständlich sein: dass wir uns immer um die Qualität dessen bemühen, was wir dort tun und sagen. Weil Gott der erste Adressat unseres Feierns ist, sind die Ansprüche an das Niveau der Gottesdienste in keinem Fall zu ermäßigen, nicht hinsichtlich der ästhetischen Qualität der Sprache und der Bewegungen, der Musik, der Kleidung und des liturgischen Geräts, und schon gar nicht hinsichtlich der Inhalte.

Konkret heißt das erstens: Wir sollten uns mit allen Kräften bemühen, Gottesdienste so reich wie möglich zu gestalten, doch wir dürfen uns dabei nicht übernehmen. Wir sollten nichts planen, was wir nicht bewältigen können - lieber "schlicht und gut" als "aufwändig und gut gemeint".

Zweitens heißt es: Alle Gottesdienste wollen wichtig genommen und darum bis in alle Einzelheiten hinein gut vorbereitet sein. Eine Evangelien-Lesung, die der Lektorin im Moment des Vortrags erstmals vor Augen zu kommen scheint, ist genauso wenig zu akzeptieren wie eine Predigt, die in letzter Minute zusammengeschrieben wurde, oder wie eine Liturgie, bei der mangels Absprachen die Lieder nicht zur Predigt und die Predigt nicht zu den Gebeten passen.

Und drittens: Gottesdienste sind das Zentrum unseres kirchlichen Lebens. Das muss natürlich auch für ihre Vorbereitung gelten. Gemeinden werden deshalb die Zeiten, die sich ihre Pfarrerinnen und Pfarrer für theologische Arbeit, für das Bedenken biblischer Texte und das Formulieren einer Predigt nehmen, nicht nur respektieren, sondern sie einfordern und schützen.

Und was sollen wir tun, wenn der Gottesdienst bei uns nicht sorgfältig vorbereitet ist?

Was tun wir, wenn die Lieder nie zu den Lesungen passen, die Lesungen nicht zur Predigt und die Predigt nicht zur Gemeinde, weil unser Pfarrer sie immer aus dem Internet herunterlädt? Die Verantwortung für den Gottesdienst liegt zunächst bei Pfarrer und Kirchenvorstand - und diese Verantwortung sollte wahrgenommen werden, in Ermutigung, konstruktiver Kritik und Angeboten konkreter Unterstützung. Doch dann liegt die Verantwortung auch bei allen Gemeindegliedern. Durch regelmäßige Gottesdienstvorbereitungen in Gemeindekreisen und durch Beteiligung an der Feier selbst können sie die Pfarrerin entlasten. Vielleicht übernimmt an einem bestimmten Nachmittag, während der Pfarrer seine Predigt schreibt, ein Mitglied des Seniorenkreises den Telefondienst. Dann können die Internet- oder Lesepredigten wieder den Lektoren vorbehalten bleiben.

Die Feier des Gottesdienstes stärkt die Glaubenden, jede und jeden Einzelnen, und kräftigt ihre Gemeinschaft.

Damit der Gottesdienst diese stärkende, stabilisierende Wirkung entfalten kann, braucht es Verlässlichkeit, und es braucht für die Einzelnen die Möglichkeit, im Gottesdienst ihrer Gemeinde immer wieder zu Hause zu sein und darin die Nähe zu den Geschwistern im Glauben zu erfahren. Darum ist es wichtig, die vor Ort gebräuchlichen und vertrauten Formen als Regelfall beizubehalten, auch wenn sie "nichts Besonderes" sind, auch wenn sie für Menschen, die mit ihnen nicht vertraut sind, fremd wirken mögen. Die gewohnte, meist schlichte Feier ist genauso zu schätzen, sie ist genauso sorgfältig und liebevoll vorzubereiten wie etwa ein besonderer Jugend- oder ein Kirchweihgottesdienst.

Der Gottesdienst ist offen für Menschen, die Gott und die Gemeinschaft der Christen suchen, und baut so die Gemeinde auf.

Nicht jede Form eignet sich für alle, nicht jeder Gottesdienst spricht jeden an. Der eine kann mit der Musik Johann Sebastian Bachs nichts anfangen und würde darum nie einen Kantatengottesdienst besuchen, die andere hat Schwierigkeiten mit Popmusik. Darum ist es gut, wenn in den kirchlichen Angeboten insgesamt die Fülle der Möglichkeiten ausgeschöpft wird und Gottesdienste in unterschiedlichen Gestalten gefeiert werden, manchmal als Alternative, doch eher in Ergänzung zum Gottesdienst am Sonntagmorgen (vgl. 4.5). Natürlich kann eine kleine Gemeinde eine solche Vielfalt meist nicht bewerkstelligen, und sie sollte es auch nicht versuchen, weil darunter die Qualität des Angebotenen in der Regel empfindlich leidet. Andererseits müssen die Alternativen zu den vertrauten Gottesdienstformen auch nicht allein den City-Kirchen überlassen bleiben, denn es gibt die Möglichkeit der Kooperationen über Gemeindegrenzen hinweg, die Möglichkeit des Zusammenführens unterschiedlicher Begabungen oder des "Imports" einzelner erfolgreicher Projekte.

Gästen und seltenen Besucherinnen muss das Mitfeiern möglich sein. Alle, die kommen, sollen sich angesprochen fühlen. Ein Gottesdienstablauf, vorn im Gesangbuch eingeklebt, der die Melodien der Liturgie ebenso enthält wie die Gebräuche der Gemeinde im Hinblick auf das Sitzen und Stehen, hilft weiter. Und für besondere Gottesdienste sind ausführliche und sorgsam gestaltete Liedblätter nicht nur eine Entlastung von zu vielen Regiebemerkungen, sie können auch eine schöne Erinnerung sein.

Gerade im Blick auf den Versuch, Außenstehende für die Gottesdienstteilnahme zu gewinnen, ist es wichtig, dass wir in dem, was wir tun, glaubwürdig bleiben, dass wir also Formen finden, die uns entsprechen und die wir darum füllen können. Dass wir dabei immer darauf achten, nicht wesentliche Inhalte preiszugeben, und dass die einzelne Liturgie in sich stimmig gestaltet wird, versteht sich von selbst. Wir können nur dann missionarisch wirken, wenn wir glaubwürdig sind.

Kinder sind willkommen.

Wer sich als Kind im Gottesdienst der Großen herzlich aufgenommen, geborgen und frei gefühlt hat, der kann lernen, den Gottesdienst zu lieben. Er wird auch als Erwachsener wiederkommen. Es ist nicht immer und überall möglich, dass Kinder ihren eigenen Gottesdienst feiern (vgl. 4.5). Wenn Eltern nicht auf den Gottesdienstbesuch verzichten wollen, bis ihre Kinder im Konfirmandenalter sind, müssen sie ihre Kinder in den regulären Gottesdienst mitbringen dürfen. Das sieht nicht jeder gern, denn mancher fühlt sich dadurch in seiner Andacht gestört, auch wenn die Eltern ihre Kinder zur Rücksichtnahme anleiten. Dabei wissen wir alle, dass die Kinder von Christus eingeladen sind (vgl. Mk 10,14). Darum sind in unseren Gottesdiensten Kinder willkommen. Wir zeigen es ihnen, indem wir sie besonders begrüßen und ihnen einen Bereich zur Verfügung stellen, in dem sie leise spielen oder malen können, wenn es für sie zu langweilig wird. Und wir zeigen es ihren Eltern, indem wir gelassen tolerieren, wenn die Kinder den Altar erkunden wollen oder leise sprechen. Ohne Kinder sind unsere Gottesdienste gewiss ruhiger. Doch lebendiger und zugleich dem Evangelium näher sind sie mit ihnen.

Die Glaubenden nehmen in der Feier ihres Gottesdienstes ihre Verantwortung für die Welt wahr. Und: Die Feier des Gottesdienstes geschieht nicht im privaten Raum wie das Gebet des Einzelnen, sie geschieht öffentlich.

Im Gottesdienst dient Gott uns, den Menschen, die er aus Gnade erlöst hat, und wir beantworten sein Tun mit unserer Feier als unserem Dienst vor Gott. Zugleich aber ist unser Gottesdienst auch ein öffentliches Handeln, das uns vor anderen als Christen ausweist. Gottesdienst ist ein Tun in der Welt und für die Welt. Sichtbar wird dies vor allem in denjenigen Teilen der Liturgie, die die Welt ausdrücklich einbeziehen. Neben der Predigt sind dies die "Abkündigungen", die darum nicht an den Rand gedrängt werden sollten als etwas, das nur die Feierlichkeit stört. Weiter sind es die Kollekten, insbesondere für übergemeindliche Zwecke, die ihren Ort durchaus innerhalb des Gottesdienstes haben können, als Dankopfer vor dem Abendmahl - denn die Diakonie geht vom Gottesdienst der Gemeinde aus. Vor allem aber sind es die Fürbitten, die über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinausreichen und die Welt in ihrer Not und Erlösungsbedürftigkeit vor Gott bringen.

Auch mit den kirchlichen Amtshandlungen nimmt die Gemeinde ihre Verantwortung für die Welt in Gottesdiensten wahr: in Taufen und Konfirmationen, in Trauungen und Beerdigungen. Viele Menschen, die der Kirche sonst distanziert gegenüberstehen, suchen diese lebensbegleitenden Rituale, und sie suchen, teilweise vielleicht unbewusst, Gottes Segen, den sie hier erhalten. Gemeinden können sie diese Wünsche in vielerlei Weise aufnehmen. Sie können nicht nur ihre Kirchen zur Verfügung stellen, sondern auch auf andere Weise gestaltend mitwirken: Presbyterinnen, Kirchenälteste oder andere Glieder der Gemeinde können Tauffamilien und Konfirmandinnen begrüßen, indem sie ein Geschenk überreichen (zum Beispiel eine selbst gestaltete Taufkerze oder ein Taufbüchlein, ein Kreuz, eine Bibel mit einem eingeschriebenen Gruß). Einzelne Gemeindeglieder können Patenschaften übernehmen oder Trauernde, wenn diese es wünschen, besuchen und ihnen praktische Hilfen anbieten. Und immer können sie zu erkennen geben, dass sie die Menschen auf ihrem Weg mit ihren Gebeten begleiten.

5.2 Wir sind die Kirche

Wo immer Christen sind, werden öffentlich Gottesdienste gefeiert. Und sie sollen regelmäßig gefeiert werden. Wo Kirchen stehen, sollen sie nicht tot und still sein, sondern gefüllt werden mit dem Wort Gottes und den Gebeten der Glaubenden.

Denn "Kirche" ist die Versammlung der Glaubenden; Menschen folgen der Einladung Gottes, um das Wort der Heiligen Schrift zu hören und weiterzusagen, um die Sakramente zu spenden und zu empfangen, wie es uns aufgetragen ist. Sie beten miteinander, singen und musizieren, loben, klagen und bekennen. Die Kirche sind wir, Christinnen und Christen, die zum Gottesdienst zusammenkommen.

Bei uns lief es bisher großartig, unsere Gottesdienste sind sehr schön
und festlich und auch gut besucht ­ aber jetzt wird das Geld knapp.
Was ist zu tun?

Wir Christinnen und Christen leben vom Gottesdienst. Durch unsere Gottesdienste gewinnen unsere Gemeinden Kraft, auch für die Ausstrahlung nach außen. Darum freuen wir uns an den "schönen Gottesdiensten des Herrn" (Ps 27,4) und am Gotteslob. Und darum sollten wir daran nicht sparen, nicht an den Kerzen und Blumen, nicht an der Ordnung im Kirchraum, nicht an Gesangbüchern und noch viel weniger an der Kirchenmusik. Hier sollten zusätzliche Geldquellen aufgetan oder Mittel eingeworben werden. Die Gottesdienste sind das Fundament für das Leben der Einzelnen, für die Gruppen, für unsere Gemeinschaft, für unsere sozialen Aktivitäten. Wenn wir unsere Gottesdienste weniger wichtig nehmen würden als anderes, würde dieses Fundament unweigerlich zerfallen.

Und wenn wir nur Wenige sind?

Kirchengebäude gibt es, damit darin Gottesdienste gefeiert werden. Gerade in einem "entkirchlichten" Umfeld wie in vielen Großstädten und in vielen Gegenden im Osten Deutschlands sollte den Menschen diese Bedeutung der Kirchen lebendig vor Augen stehen. Hier sind die sonntäglichen Gottesdienste ein wichtiges Zeichen dafür, dass die Gemeinde Christi lebt und auf Gottes Gegenwart vertraut, dass sie sich durch äußere Umstände nicht entmutigen lässt, sondern zuversichtlich und verlässlich bei ihrer Sache bleibt.

Auch wo nur zwei oder drei Menschen im Namen Christi zusammenkommen, gilt ihnen die Verheißung von Gottes Gegenwart. Natürlich sind volle Kirchen schöner, eine große Schar von Feiernden trägt den Einzelnen besser, der Gesang vieler reißt einen eher mit. Zentrale Gottesdienste, zu denen die entfernt Wohnenden durch einen Fahrdienst gebracht werden, können zu einer solchen Erfahrung verhelfen. Allerdings treffen solche Angebote nicht immer auf Zustimmung, der Gottesdienst im Nachbardorf ist eben nicht der in der "eigenen" Kirche, der Fahrdienst wird, oft aus falscher Bescheidenheit, nicht in Anspruch genommen.

Dann ist es umso wichtiger, sich klarzumachen, dass es auf die Zahlen nicht ankommt, wenn es um die wesentlichen Inhalte und Handlungen geht. Beten und singen, miteinander auf das Wort des Evangeliums hören, beim Abendmahl am Tisch des Herrn zu Gast sein, das können auch wenige. Freilich sollte dazu die Gestalt der Feier der kleinen Teilnehmerzahl angepasst werden, zum Beispiel durch Stühle, die vor dem Altar zusammengestellt werden, durch die Entfaltung des Evangeliums in Form eines Gesprächs oder eines Tischabendmahls. Gerade der Gottesdienst mit wenigen Teilnehmern erfordert als öffentlicher Gottesdienst Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Nähe und Distanz. Wir mögen viele oder wenige sein: Gott selbst wird bei uns sein, wenn wir den Gottesdienst feiern.

Und wenn wir am Ort keinen Pfarrer oder keine Pfarrerin haben?

Die Verkündigung des Wortes Gottes und die Verwaltung der Sakramente sind in den Gliedkirchen der EKD an eine ordnungsgemäße Berufung der Pfarrerin oder des Prädikanten gebunden. Doch zugleich gibt es das Priestertum aller getauften Glaubenden, das jeden von uns mitverantwortlich macht für die Gestaltung des Glaubens und für die Verkündigung des Evangeliums, in der Praxis des Alltags ebenso wie im sonntäglichen Gottesdienst. Das bedeutet: Gemeinden brauchen sich durch die Abwesenheit einer Pfarrerin, eines Pfarrers keinesfalls an der Feier des Gottesdienstes gehindert zu fühlen. Sie sollen dann jemanden aus ihrer Mitte bestimmen, der dazu ausgebildet wird, die gottesdienstliche Feier oder die Andacht zu leiten. Wichtig ist, dass dies einmütig geschieht und dass diejenigen zustimmen, denen nach den kirchlichen Verfassungen eine besondere Verantwortung für die öffentliche evangeliumsgerechte Verkündigung und Sakramentsverwaltung zukommt (Pfarrer, Superintendentin, Bischof ).

Prädikanten oder andere dazu ausgebildete Glieder der Gemeinde, die das Abendmahl leiten wollen, brauchen eine eigene Beauftragung für einen konkreten Ort und einen definierten Zeitraum. Ob eine Gemeinde sich um diese Beauftragung für eines ihrer Glieder bemühen soll, richtet sich nach den jeweiligen Gegebenheiten. Grundsätzlich vermittelt ein Wortgottesdienst alles, was Menschen für ihr Leben in dieser und der anderen Welt brauchen. Dennoch wird es das geistliche Bedürfnis geben, den Zuspruch der Rechtfertigung und die Gemeinschaft mit Christus auch in leiblich spürbarer Weise zu erfahren. Ob dies an jedem Sonntag, einmal monatlich oder in einem anderen Rhythmus der Fall sein soll, ob die Feier des Abendmahls eine eindrucksvolle Ausnahme oder eine häufig und selbstverständlich gelebte Praxis sein soll, ist in den Gemeinden möglichst einmütig zu entscheiden, in Achtsamkeit für die Möglichkeiten und Bedürfnisse der verschiedenen Menschen.

Und wenn die Pfarrerin oder der Pfarrer wenige Minuten vor dem Gottesdienst plötzlich ausfällt?

Krankheit, Unfall oder ein heftiger Schneesturm hindern, für alle überraschend, den Pfarrer am Kommen. Um eine Vertretung zu finden, ist es zu spät. Was ist zu tun? Eine gute Lösung ist es, für solche Notfälle einen ausformulierten Gottesdienstentwurf mit Schriftlesung und kurzer Auslegung in der Sakristei liegen zu haben. Andernfalls kann man auch auf Andachten zurückgreifen, die sich in manchen Ausgaben des Gesangbuches finden. Ein Presbyter, eine Kirchenvorsteherin kann dann mit einem solchen Formular den Gottesdienst leiten. Eine andere Möglichkeit ist das Morgengebet, das in allen Ausgaben des Gesangbuchs zu finden ist.

Und wenn uns der Kirchenmusiker oder die Kirchenmusikerin fehlt?

Die Kirchenmusik ist ein wesentliches Element im evangelischen Gottesdienst. Aber was ist zu tun, wenn sich die Gemeinde keinen Kirchenmusiker leisten kann? Der Einfachheit halber auf Musik zu verzichten, ist keine gute Alternative. Besser ist es, Choräle, Lieder oder Taizé-Melodien auszusuchen, die sich gut zum unbegleiteten Singen eignen, und es mutig zu probieren - Gemeinden können in dieser Hinsicht durchaus wieder "mündig" werden. Vielleicht führt der Mangel auch zum Entdecken musikalischer Talente vor Ort, es muss ja nicht immer die Orgel sein, die den Gesang begleitet. Möglich sind schließlich auch Musikeinspielungen, die allerdings das eigene Singen nicht ersetzen können. Denn das Singen bezieht nicht nur Leib, Seele und Geist in das Gotteslob ein, es verbindet auch die Menschen, die es erklingen lassen, zur Gemeinde (vgl. 3.5).

Und wenn die Kraft für einen "richtigen" Gottesdienst nicht reicht?

Gottesdienste brauchen sorgsame Vorbereitung. Wenn es keine hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, die sich im Rahmen ihrer Arbeitszeit den Raum dafür schaffen können, kann diese Aufgabe für die engagierten Ehrenamtlichen zur Überforderung werden. Allerdings besteht die Alternative auch hier nicht im Verzicht: Auch kleine Formen sind "richtiger", vollgültiger Gottesdienst (vgl. 4.5), zum Beispiel eine Andacht mit der Lesung des Evangeliums, mit einem kurzen frei formulierten oder dem Gottesdienstbuch, dem Gesangbuch oder anderen Quellen entnommenen Gebet, mit einer Zeit der Stille, vielleicht noch einem Lied und der Verlesung einer kurzen Auslegung des Lesungstextes aus der Literatur.

Und wie oft muss ich da nun hingehen?

Ich "muss" gar nicht, die evangelische Kirche kennt keine Gottesdienstpflicht - auch wenn sie in ihren Lebensordnungen die Bedeutung der Teilnahme am Sonntagsgottesdienst besonders hervorhebt. Was aber hält mich fern, wenn ich weiß, dass ich dort eine Gemeinschaft von Menschen finde, die meinen Glauben teilen und mich darin bestärken? Was hält mich fern, wenn ich dort hintragen darf, was mich belastet und weiß: Ich gehe erleichtert wieder in meinen Alltag? Was hält mich fern, wenn ich dort in Wort und Klang, in Gebet und Segen die Gnade und Liebe Gottes erfahren kann? Und außerdem: Der Gottesdienst, der gefeiert werden soll, braucht Christen, die ihn feiern. Auch mich. Und auch ich brauche den Gottesdienst.

Und schließlich:

Gleichgültig, wie klein die Gemeinde ist, die zur Feier des Gottesdienstes zusammenkommt, ob sie "nur" miteinander in der Schrift liest und betet, ob sie eine vollständige lutherische Messe feiert oder ob sie einen Gottesdienst mit reichem kirchenmusikalischen Schwerpunkt erlebt ­ sie feiert immer in Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Christen an allen Orten und zu allen Zeiten, und sie stellt sich immer hinein in den Gottesdienst des Himmels, der nie unterbrochen wird. Auch zwei oder drei Menschen "vereinen ihre Stimmen" mit den "Kräften des Himmels", die Gott ohne Ende mit ihrem Jubel preisen, wie es die Abendmahlsliturgie besingt.

Wenn wir in diesem Bewusstsein feiern, wird uns das entlasten von dem ständig angespannten Blick auf Zahlen, Statistiken und Prognosen. Wir feiern im Wissen um die Gemeinschaft mit allen Glaubenden im Himmel und auf der Erde und in der Erinnerung an Gottes Verheißung, dass seine Kirche Bestand haben wird. Deshalb müssen wir uns weniger um die Umstände sorgen, unter denen wir zusammenkommen. Dadurch sind wir frei, an den zu denken, vor und mit dem wir unseren Gottesdienst feiern. Wir denken mehr an Gott.

5.3 Die Mitte des Gemeindelebens

Wie ein Fest den Alltag unterbricht, so bildet die Feier des sonntäglichen Gottesdienstes den Höhepunkt der Woche. Er ist der Ort, zu dem wir alles tragen dürfen, was uns bewegt. Er ist der Ort, an dem wir angenommen werden, mit allem, was wir mitbringen. Und er ist der Ort, an dem wir Belastendes ablegen und Stärkendes aufnehmen können.

Der Gottesdienst wird zu einem Fest, weil wir erwarten dürfen, hier Gott zu begegnen und die Nähe Gottes und die Gemeinschaft miteinander feiernd zu erleben. Im Gottesdienst wendet sich die christliche Gemeinschaft zu Gott hin, weil sie darauf vertraut, dass er sich zu den Menschen hingewandt hat und dass er es weiterhin tun wird, so wie er es verheißen hat (vgl. Mt 28,20). Wir dürfen sein Nahekommen in der Liturgie mit allen ihren Zeichen erwarten, in der Predigt, und, ebenso unmittelbar, doch noch stärker spürbar durch die Verbindung von Wort und Element, in der Taufe und im Abendmahl.

Der Gottesdienst ist das Zentrum des kirchlichen Lebens.

Diesem Satz stimmen viele zu, doch die Behauptung allein nützt nicht viel. Der Gottesdienst wird nur dann zum Zentrum der kirchlichen Arbeit und des Lebens einer Gemeinde werden, wenn die Gemeindearbeit entsprechend gestaltet wird, wenn das spirituelle Leben der Gemeinde gefördert und auf den Gottesdienst bezogen wird - wer es ausprobiert, wird es merken. Dafür gibt es viele Möglichkeiten: Bibelkreise bedenken miteinander den Predigttext. Hauskreise, Jugendgruppen, Frauenhilfe und Senioren bereiten Gottesdienste mit vor. Fürbittenanliegen aus ausliegenden Büchern oder von Pinnwänden werden in Gebetskreisen aufgenommen. Besuchsdienste berichten denen, die nicht kommen konnten, vom Gottesdienst und bringen vielleicht eine Aufzeichnung der Feier mit.

Menschen werden überlegt zum Gottesdienst hingeführt.

Das geistliche Leben der Gemeinde erwächst aus dem Gottesdienst und läuft auf ihn zu, denn Feste brauchen Vorbereitung, äußerlich (Kleidung, Verhalten, Einüben von Lesungen) wie innerlich - das Wissen darum ist in manchen unserer Lieder aufbewahrt ("Wie soll ich dich empfangen?"). Nur wer sich auf das Festgeschehen einstellen kann, wird etwas Wesentliches erleben. Neben der inneren Bereitschaft sind auch einige Kenntnisse erforderlich. Denn nicht alle gottesdienstlichen Gebräuche verstehen sich von selbst.

Wie ist ein solches Wissen heute zu vermitteln? Artikel in Gemeindebriefen können ebenso wie Gemeindeabende oder Themenpredigten einführen in das Kirchenjahr, in die einzelnen Elemente der Liturgie, insbesondere in diejenigen, die das Tun der Gemeinde betreffen, in die Sprache des Kirchenraumes. Eine solche Vermittlung beginnt bereits im Kindergottesdienst, der in kleinen Schritten in die Liturgie des Gottesdienstes einübt, und mit spezifischen Angeboten für Jugendliche, auch außerhalb des Konfirmandenunterrichts.

Der Gottesdienst lebt aus dem Gebet der Gemeinde.

Die Gottesdienstgemeinde ist betende Gemeinde. Damit ist zum einen die bewusste Rollenübernahme im Rahmen des Priestertums aller Getauften gemeint: Eine Gemeinde sollte sich ihr "Amen" nicht von Pfarrerinnen und Pfarrern aus dem Mund nehmen lassen. Sie handelt selbst in priesterlicher Vollmacht, wenn sie das Beten des Pfarrers für die Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht: "der Herr sei mit euch" - "und mit deinem Geist" (vgl. 4.2). Und sie begleitet die Pfarrerin, den Organisten, die Küsterin und die Lektoren mit ihrem stillen Gebet während des Gottesdienstes. Zum anderen tun die Gemeinden das, was sie bei der Einführung ihrer Pfarrerin, ihres Pfarrers versprochen haben, nämlich sie aufzunehmen und gemeinsam mit ihnen dem Aufbau der Gemeinde zu dienen - durch ihre Mitarbeit und durch ihr Mitbeten.

Der Gottesdienst braucht die alltäglich gelebte Spiritualität der Glaubenden.

Gottesdienste, so sehr sie Höhepunkte des gelebten Glaubens sind und so "besonders" sie immer sein mögen, sind keine "Events" - keine Einzelveranstaltungen, die für sich stehen und ohne weiteren Zusammenhang ihre Wirkung entfalten. Damit Gottesdienste als Orte der Gottesbegegnung erfahren werden können und lebendig sind, brauchen sie die alltäglich gelebte Spiritualität der Glaubenden. Dazu benötigen wir keine aufwändigen Praktiken und nicht einmal viel Zeit. Die Spiritualität der Christenmenschen besteht vor allem im Gebet, nicht nur in jedem Gottesdienst, sondern ebenso im Alltag (vgl. 3.2 und 3.4). Das Gebet kann als tägliche "stille Zeit" praktiziert werden, als tägliche Andacht, frei oder etwa mit Luthers Morgen- und Abendsegen, als Stundengebet, das selbst als Gottesdienstform zu bezeichnen ist, als tägliche Meditation eines Bibelwortes, zum Beispiel mit den Herrnhuter Losungen. Von entscheidender Bedeutung ist in jedem Fall die Regelmäßigkeit, denn erst sie lässt den tragenden Grund zuverlässig erfahren.

Wovon man täglich lebt, das soll man täglich feiern.

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