Der Gottesdienst

Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche, Im Auftrag des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05910-5

3. Theologische Orientierungen

3.1 Ein dem Evangelium gemäßer Gottesdienst

Die Begegnung mit dem uns zugewandten Gott

Das deutsche Wort Gottesdienst enthält ein doppeltes theologisches Programm: Gott dient uns und wir dienen ihm. Wir dürfen uns an ihn wenden, wie wir sind, mit allem, was uns bewegt und umtreibt. Und Gott verspricht uns seine Liebe, wendet uns sein gnädiges Angesicht zu.

Martin Luther hat dieses zweifache Dienen im Sinne eines dialogischen Ereignisses verstanden und auf eine knappe Formel gebracht: Im Gottesdienst - so sagt er bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche 1544 - solle "nichts anderes geschehen, als dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum ihm antworten in Gebet und Lobgesang". Damit ist der Gottesdienst als ein Beziehungs- und Klanggeschehen beschrieben, in dem sich eine Begegnung zwischen Gott und Mensch ereignet.

Gott dient uns

Das heißt: Gott bückt sich zu uns herunter. Gott redet uns an, durch Worte, Lieder und Zeichen. Er ist aber auch ansprechbar. Gott hört uns zu.

"Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater": Was der Evangelist Johannes (Joh 1,14) von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus schreibt, gilt auch für den christlichen Gottesdienst. Der menschenfreundliche Gott kommt menschlich zu uns. Er spricht durch fehlbare Menschen hindurch und offenbart uns sein Herz: "Fürchte dich nicht! Denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" (Jes 43,1). Diese Zusage ist reines Geschenk ohne Vorbedingung. Sie ist nicht an unser Tun oder unsere Person gebunden. So ist die Verheißung der Gegenwart Gottes die Voraussetzung für jeden Gottesdienst. Jesus sagt: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20).

Gott ist gegenwärtig, wo sein Wort verkündigt wird: In den alttestamentlichen Lesungen spricht er zu der hörenden Gemeinde von dem Weg, den er mit Israel gegangen ist, als er sein Volk aus der Gefangenschaft befreit hat. In der Lesung der Evangelien wird von der Sendung des Sohnes in die Welt erzählt, seinem Predigen, Heilen und Feiern, seinem Leiden, Sterben und Auferstehen; einer Geschichte, die uns bis heute trägt. In der Predigt redet Gott mit uns über unser Leben und gibt unserem Handeln aktuelle Orientierung. Aber auch in den "sichtbaren, sinnlichen Zeichen" von Taufe und Abendmahl spricht Gott uns an. Der dreieinige, uns in Jesus Christus gnädig zugewandte Gott ist durch seinen Heiligen Geist im Gottesdienst der Handelnde: Er predigt und tauft, lädt uns ein an seinen Tisch. Aber auch Räume und Bilder, sinnliche Zeichen und Gesten können sprechen und verkündigen. Nicht zuletzt hören wir in alten Chorälen und neuen Liedern die Freude und Gewissheit des Glaubens.

Zu guter Letzt erfahren wir Gottes gütige Zuwendung im Segen. Wie ein ausgerollter Teppich begleitet uns diese gnädige Spur des allmächtigen und barmherzigen Gottes in den Alltag hinein, wenn wir uns wieder in das tägliche Leben begeben.

Wir dienen Gott

Dass wir uns diese freundliche Zuwendung Gottes gefallen lassen und dankbar annehmen, ist bereits der erste Schritt menschlichen Gottesdienstes. Es drückt sich darin aus, dass wir schlicht "Amen" sagen, Gottes Freundlichkeit annehmen und Gott so die Ehre geben.

Gottesdienst enthält als dankbarer, lobsingender, zuweilen bittender oder klagender Dienst aber auch aktive Elemente: Wir versammeln uns in der Gegenwart Gottes. Wir machen uns auf einen geistlichen Weg, der zum Beispiel mit einem Kyrie beginnen kann, das unsere Angewiesenheit auf Gottes Erbarmen ausdrückt und immer wieder ins Gloria mündet, das Dank und Anbetung umfasst. Gottesdienst heißt daher, eingestimmt zu werden ins Gebet. Gemeinsam mit Israel sprechen wir den Psalter. Mit Jesus beten wir das Vaterunser. Wir dürfen Gott unser Herz ausschütten und klagen, dass wir traurig sind, und ihm vorhalten, dass wir ihn vermissen in einer Welt der Schmerzen (vgl. Röm 8,19). In den Fürbitten legen wir ihm die Not der Menschen dieser Erde ans Herz, wir danken ihm aber auch dafür, dass er bei uns ist und die Welt schön gemacht hat. Ein Gottesdienst ist immer ein geistlicher Weg, der Veränderung mit sich bringt: ein Weg von der Klage zum Lob, ein Weg, bei dem unsere Gottesbeziehung vergewissert und erneuert wird. Wir erfahren Vergebung und Trost. Perspektiven der Freude und der Hoffnung öffnen sich. Gott selbst nimmt uns auf und verwandelt uns. Wir stimmen in das weltweite Lob Gottes ein.

Die Feier im Namen des dreieinigen Gottes

Am Anfang eines jeden Gottesdienstes steht der Name des dreieinigen Gottes. Das Eingangswort erinnert uns an unsere Taufe und verspricht Gottes Gegenwart für eine Veranstaltung, die Menschen zwar sorgfältig vorbereiten, die aber zuerst und zuletzt Gottes Sache ist.

Im Gottesdienst vergegenwärtigt sich der dreieinige Gott. Hier berühren sich Zeit und Ewigkeit, hier wird Gottes Geschichte mit unserer Lebensgeschichte verknüpft. Hier ist der Raum zum Aufatmen, die Zeit, immer wieder den Sieg Jesu zu feiern und uns be-geist-ern und animieren zu lassen zum Gottesdienst im Alltag der Welt.

Gott der Schöpfer: Im Gottesdienst lässt uns der Schöpfer des Himmels und der Erde teilhaben an seinem Sabbat, an seiner Ruhepause am siebten Schöpfungstag. So leuchtet das Licht des Schöpfungsmorgens neu auf.

Jeder Gottesdienst ist eine Einkehr in die schöpferische Pause, die Gott sich selbst gönnte, als er die Welt geschaffen hatte. Der Gottesdienst unterbricht unseren Alltag, wir dürfen einfach kommen und sein, wie wir sind, hier müssen wir uns nicht durch unsere Leistung beweisen. Diese Unterbrechung tut uns gut, Leib und Seele dürfen aufatmen. Zugleich ist jeder Gottesdienst ein schöpferisches Geschehen. Das menschliche Geschöpf wird zum Staunen über eine Welt animiert, die der Schöpfer sehr gut geschaffen hat, und zu eigener Kreativität beflügelt.

Gott der Sohn: Jeder Gottesdienst ist ein Osterfest, weil uns hier der gekreuzigte und auferstandene Herr Jesus Christus begegnet. Durch seinen Sieg steht uns der Himmel offen. Im Gottesdienst erfahren Christen daher Vergebung der Sünden und ewiges Heil.

Martin Luther schreibt in einer Gesangbuchvorrede: "Singet dem Herrn ein neues Lied! Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann's nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen."

Christlicher Gottesdienst hat also mit einem Sieg zu tun und mit der Freude, die daraus für alle entsteht, die daran teilhaben. Dabei gibt es nur einen Verlierer: den Tod. Denn was an Karfreitag und Ostern passiert ist, brachte die Wende schlechthin. Deshalb feiern Christen im Gottesdienst, dass Gott ihnen die Hölle zugeschlossen und den Himmel geöffnet hat.

Gott der Heilige Geist: Im Gottesdienst führt uns der Heilige Geist zur Gemeinschaft in der einen heiligen christlichen Kirche zusammen. Er stiftet uns zur Begeisterung für Gott an und inspiriert uns zu Taten der Versöhnung in der Welt.

Im Gottesdienst wird uns nicht nur die Ruhe des Sabbats und das Wunder von Ostern vergegenwärtigt, hier wird auch die Kraft des Heiligen Geistes erfahrbar. Hier gibt es kreative Inspiration aus der Fülle des schöpferischen und alles neu machenden Geistes. Gott zeigt uns, dass es auf diesem Planeten noch etwas anderes gibt als Macht, Geld und Erfolg. Aber: Die Begegnung mit dem Heiligen Geist löst keine Weltflucht aus. Gottes Geist sperrt uns nicht ein, sondern macht den Raum weit. Er erschließt uns die Welt als Gottes Welt, als neue Schöpfung. Liturgie und Diakonie gehören deshalb zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Sie charakterisieren eine lobende (doxologische) und eine dienende (diakonische) Grundhaltung der Christen. In der Fürbitte und beim Dankopfer (Kollekte) vollzieht sich der Perspektivenwechsel zum diakonischen Handeln. Menschen lassen sich hineinnehmen in die Verantwortung für die Schöpfung und den Frieden, werden in das Erbarmen Gottes, in seine Hingabe an die Welt hineingezogen.

Wer selbst den Segen Gottes gehört und gesehen, geschmeckt und gespürt hat, wird ihn weitergeben. Wer mit dem Herzen und mit dem Mund bei Gott ist, wird auch mit den Händen und Füßen bei den Menschen sein, in einer Welt und für eine Welt, die Gott liebt. So tragen wir den Dienst Gottes an uns hinaus in unseren "Gottesdienst im Alltag der Welt" (vgl. Röm 12,1f.).

Das Kriterium für einen evangeliumsgemäßen Gottesdienst: der Dienst Jesu Christi

Ein evangelischer Gottesdienst lebt vom Evangelium Jesu Christi, von der befreienden Zusage, dass Gott durch Jesus Christus die Welt mit sich versöhnt und heil gemacht hat (vgl. 2 Kor 5,17-21). Deshalb orientiert sich jede gottesdienstliche Feier an der Offenbarung Gottes in Christus, der von sich selbst gesagt hat, dass er nicht gekommen sei, um sich dienen zu lassen, sondern um selbst zu dienen (vgl. Mk 10,45): Jesus dient den Menschen durch seine Verkündigung des nahen Reiches Gottes, die wir in vielen Gleichnissen vernehmen können, aber auch dadurch, dass er Kranke heilt und mit Menschen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft oder Frömmigkeit Tischgemeinschaft hält. Sein Kommen offenbart Gottes Liebe zu allen Menschen. Sein Dienst gipfelt darin, dass er sich für uns am Kreuz dahingibt. Zugleich verherrlicht Jesus damit Gott, den Vater, der ihn am dritten Tage auferweckt. Er gibt uns damit auch ein Vorbild, wie wir selbst ein Leben der Hingabe an den Nächsten führen können. "Seid unter euch so gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht" (Phil 2,5). Ein dem Evangelium gemäßer Gottesdienst hat im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi seinen Ursprung und erhält aus der Vergegenwärtigung Christi zugleich seine rettende und klärende Kraft. Das Dienen Jesu als Hingabe an die Menschen und Verherrlichung Gottes ist damit das doppelte Kriterium eines jeden Gottesdienstes: Jeder Gottesdienst muss sich daran messen lassen, ob das Dienen Jesu als Hingabe an die Menschen und als Verherrlichung Gottes in rechter Weise aufgenommen ist.

3.2 Gottesdienst am Sonntag und im Alltag

Das ganze christliche Dasein als gottesdienstliches Dasein

Der christliche Gottesdienst verklingt nicht an der Kirchentür. Der für seine Feier charakteristische Grundrhythmus von Sich-Dienen-Lassen und Dienen pulsiert in das tägliche Leben hinein. Der Grundrhythmus findet aber in der liturgisch gestalteten Feier des Gottesdienstes seinen dichtesten Ausdruck und seine klarste Form. Dort wird dieser Grundrhythmus öffentlich. Weil er das lebendige Verhältnis zwischen Gott und Mensch ausdrückt, will er möglichst in jeder Stunde des Lebens schwingen, also auch vor der Kirchentür, also auch mitten im (oft so unfestlichen) Alltag der Welt.

Der Gottesdienst am Sonntag und der Gottesdienst im Alltag bilden einen Lebenszusammenhang, der es erlaubt, das ganze christliche Dasein als ein gottesdienstliches Dasein anzusprechen. So wie der Alltag mit seinen Themen, Ängsten, Hoffnungen und Freuden ständig in der Feier des Gottesdienstes präsent ist, so kann der Alltag zum Raum des Gottesdienstes werden. Auch dort kommt es zum Gottesdienst, wo Menschen im Gespräch mit Gott stehen - wo sie sich auf ein Bibelwort besinnen, wo sie einen Psalm anstimmen, wo sie beten oder einfach nur das Erlebte in eine Beziehung zu ihrem Glauben setzen. Das ist überall möglich. Auf diese Weise wird der gottesdienstliche Raum, in dem die Gemeinde zusammenkommt, zum Urbild für das ganze christliche Leben. Und umgekehrt ist das christliche Leben im Alltag gottesdienstlich geprägt, wenn wir uns das Dienen Gottes in unseren ganz konkreten Lebenslagen immer wieder neu gefallen lassen und es mit unserem Dienen erwidern. Der Wechsel zwischen göttlicher Anrede und menschlicher Antwort soll das ganze Leben des Christenmenschen prägen.

Wo das geschieht und wo Menschen aus solchem Gespräch mit Gott heraus agieren, ereignet sich Gottesdienst. Es gibt keinen Ort, an dem es nicht zum Gottesdienst kommen könnte. Der festliche Rhythmus des Gottesdienstes am Sonntag schwingt durch die ganze Woche.

Gottesdienst im Alltag der Welt

In der evangelischen Kirche wird an dieser Stelle betont vom "Gottesdienst im Alltag der Welt" gesprochen. Dafür gibt es schon im Neuen Testament Anhaltspunkte. Die frühen Christen verfügten nicht über eigene Tempel oder heilige Orte und schon gar nicht über Priester, sie versammelten sich in ganz normalen Häusern (vgl. 2.1). Gottesdienstliche Begriffe und Vorstellungen wanderten in ihr Alltagsleben ein und gewannen eine neue Bedeutung. So ermahnt der Apostel Paulus die römischen Christen, dass sie ihre Leiber als ein Opfer hingeben sollen, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, und fügt hinzu: "Das sei euer vernünftiger Gottesdienst" (Röm 12,1). Der Opferkult, feierliches Zentrum aller antiken Kultfeiern, wird durch die Hingabe der Person für Gott und den Nächsten ersetzt. Beim nun ganz in geistlich-geistigem Sinn verstandenen Gottesdienst werden Liturgie und Diakonie verschmolzen. Der Glaube selbst wird zum Gottesdienst (vgl. Phil 4,18), das im Glauben ausgebrachte Lob Gottes ist das wahre Lobopfer für Gott (vgl. Hebr 13,15). Die Christen werden ermahnt: "Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott" (Hebr 13,16).

Solches Handeln entspringt der Freude an Gott und der Dankbarkeit für das, was man von ihm empfangen hat. Wo soll der lange Atem herkommen, den man in den Zerreißproben des Alltags braucht, wenn man gleich nach dem Handeln trachtet, ohne nach den Quellen zu fragen, denen das Handeln entspringen soll? Das Dienen im Horizont des Gottesdienstes ist durch eine bemerkenswerte Verbindung von Passivität und Aktivität bestimmt. Menschen dienen Gott am besten dadurch, dass sie ihm vertrauen. In dieser Verankerung im Beschenktwerden kann das menschliche Dienen nicht der Resignation verfallen und erhält die so nötige Spannkraft zum aktiven Handeln.

3.3 Wort und Sakrament

Die Feier des Gottesdienstes ist grundlegend für die Kirche

Der christliche Glaube entsteht und lebt aus dem Evangelium von Jesus Christus, das allen Menschen Gottes Liebe und seine bedingungslose Zuwendung verheißt. Die Liebe Gottes, die in der Botschaft Jesu, in seinem Leiden am Kreuz und in seiner Auferstehung offenbar geworden ist, gilt jedem einzelnen Menschen, doch sie zielt ebenso auf die Gemeinschaft der Menschen untereinander im Glauben an Jesus Christus. Entsprechend ist auch der christliche Glaube keine selbstgenügsame Beziehung einzelner Menschen zu Gott. Der Glaube ist vielmehr angewiesen auf die Gemeinschaft der Glaubenden, in der das Evangelium verkündigt und bezeugt wird. Wie es die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden nur gibt, weil Einzelne im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus zur Gemeinschaft des Leibes Christi versammelt werden, so ist umgekehrt die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, in der das Evangelium bezeugt wird, nötig, damit Einzelne zum Glauben gelangen können.

Es gibt vielfältige Weisen, in denen Menschen das Evangelium einander weitersagen und bezeugen können und sollen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch die Feier des Gottesdienstes. Im Gottesdienst versammelt sich die christliche Gemeinde, um gemeinsam Gottes Wort zu hören. Die Feier des Gottesdienstes begründet und nährt so die Verbundenheit der Glaubenden untereinander und ist damit grundlegend für das Sein der Kirche.

Im Mittelpunkt steht das Evangelium

Im Evangelium verheißt Gott seine Gerechtigkeit und Güte, in der er die Menschen, die ihm vertrauen, allein aus Glauben ohne alle Werke gerecht sein lässt. Die Feier des Gottesdienstes zielt darauf, solchen Glauben immer neu zu wecken und zu vergewissern. Darum "stehen die Verkündigung und das Hören des Evangeliums als Zusage der biblisch bezeugten Gnade Gottes für die gegenwärtige Gemeinde im Mittelpunkt der Feier des Gottesdienstes" (Die Kirche Jesu Christi, S. 40).

So wie Gott dem Menschen als Schöpfer "Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält" (Martin Luther, Kleiner Katechismus), so verheißt er im Evangelium seine bedingungslose Liebe und seine versöhnende Gerechtigkeit. Hier wird der Mensch nicht nur mit seinem Intellekt, sondern mit allen seinen Sinnen angesprochen. Darum gehört zur Verkündigung des Wortes, die alle Teile des Gottesdienstes durchzieht, auch die Feier der Sakramente. Denn die Sakramente bringen dem Menschen Gottes Zuwendung im Evangelium nicht nur zu Gehör, sondern lassen ihn sehen, schmecken und fühlen, "wie freundlich der Herr ist" (Ps 34,9). In der Feier der Sakramente wird für die Gemeinde und jeden Einzelnen zugleich auch die Gemeinschaft im Glauben erfahrbar.

Die Verkündigung des Wortes Gottes hat eine sakramentale Dimension, indem die Worte des Evangeliums dem Menschen das in Jesus Christus gründende Heil gewissermaßen vor Augen malen. Umgekehrt wird in der Feier der Sakramente das Evangelium hörbar, indem bei Zueignung der sichtbaren Zeichen - dem Wasser bei der Taufe, Brot und Wein bei der Feier des Abendmahls - mit der Taufformel bzw. den Einsetzungsworten die Verheißung des Evangeliums laut wird. Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung ergänzen einander nicht einfach, sondern stehen als hörbares und sichtbares Wort in einem inneren und unlöslichen Zusammenhang.

Folgen für die Feier des Gottesdienstes

Während nach dem Verständnis der römisch-katholischen Kirche, der orthodoxen Kirchen und der anglikanischen Kirchen die Eucharistie unverzichtbarer Bestandteil des Sonntagsgottesdienstes ist, können weltweit in den meisten evangelischen Kirchen Sonntagsgottesdienste auch als Wortgottesdienste ohne Abendmahl gefeiert werden. Denn nach evangelischem Verständnis ist jeder Gottesdienst, in dem das eine Evangelium, die Botschaft von Jesus Christus, verkündigt und gehört wird, ein Gottesdienst im Vollsinne des Wortes. In der Feier der Sakramente wird diese Botschaft nicht "vollständiger", sondern "für alle Sinne" verkündigt. So hat der ohne Abendmahl gefeierte Gottesdienst grundsätzlich den gleichen theologischen Status wie der mit Abendmahl gefeierte. Die grundlegende Bedeutung der Sakramente für den Glauben der Einzelnen und für die Gemeinschaft der Glaubenden wird auch in der Feier von Wort- bzw. Predigtgottesdiensten bedacht. So erinnern das trinitarische Votum zu Beginn des Gottesdienstes und das Sprechen des Glaubensbekenntnisses an die Taufe, während in allen liturgischen Bezügen auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und die in ihm gründende Hoffnung auf das Reich Gottes thematisch an das Abendmahl erinnert wird. Überdies weisen die Abkündigungen auf Taufen in der Gemeinde und auf die nächste Feier eines Gottesdienstes mit Abendmahl hin.

Es ist dabei wichtig, dass regelmäßig Gottesdienste mit Abendmahl gefeiert werden, dass der Rhythmus für die Gemeinden transparent ist und dass in der Feier der Abendmahlsgottesdienste der liturgische Spannungsbogen zwischen Wortverkündigung, Predigt und Abendmahl zur Geltung kommt. Ebenso bedarf auch die Gestaltung der Taufpraxis und der Angebote von Taufgottesdiensten sorgfältiger Planung, die die Bedeutung der Taufe als Grund und Ausgangspunkt des christlichen Lebens herausstellt. Dazu kann die ausdrückliche Erinnerung an die Taufe in der Besinnung im Eingangsteil des Gottesdienstes dienen.

3.4 Gebet

Gebet als grundlegende liturgische Haltung

Wenn wir den Gottesdienst mit Luthers Formel aus der Torgauer Kirchweihpredigt (vgl. 3.1) als Dialog der Gemeinde mit Gott verstehen, dann ist das Gebet die grundlegende Dimension, der Pulsschlag des Gottesdienstes. In diesem Sinne sprach Luther in Torgau davon, dass Gott mit uns redet und wir ihm antworten. Luther bezog das aber nicht auf bestimmte "liturgische Stücke" wie Predigt und Lieder, sondern auf den Gottesdienst insgesamt. In allen Teilen, Phasen und Dimensionen des Gottesdienstes, in Gruß und Begrüßung, in Wort und Musik, in Predigt, Glaubensbekenntnis und Zeichenhandlungen, ja selbst bei den Abkündigungen und bei der Geldsammlung sprechen wir mit Gott und er mit uns (vgl. 2 Kor 9,11­15).

In diesem Sinn ist die Haltung des Betens charakteristisch für den gesamten Gottesdienst. Die Konzentration auf die betende Haltung unterscheidet den Gottesdienst von anderen Aktivitäten der Gemeinde wie Seelsorge, Unterricht, Gemeindeleitung oder Öffentlichkeitsarbeit. Der Gottesdienst hat auch von alledem gewisse Anklänge, aber der Dialog mit Gott, die betende Haltung, steht im Vordergrund. Die meisten Gottesdienstbesucher haben auch ein Gespür dafür, ob das bei einem Gottesdienst der Fall ist. Sie umschreiben das positiv als "geistliche Dichte" beziehungsweise "spirituelle Atmosphäre"; oder sie heben einfach hervor, man könne hier Ruhe und Stille erfahren und "zu sich selbst kommen". In diesem grundlegenden Sinne ist das Gebet mehr Hören als Reden (vgl. 1 Sam 3,10).

Man kann die Gebetshaltung als eine "von innerer Lebendigkeit durchwirkte Passivität" (Gerhard Ebeling), als ein schrittweises Loslassen des normalen Handelns beschreiben. Die eigenen Taten treten in den Hintergrund. Die spirituelle Dimension des Lebens und die Wohltaten Gottes, der sich durch Jesus im Geist ansprechen lässt, werden zugänglich. Beten ist ein Handeln, bei dem der Mensch sich den Grenzen des eigenen Handelns stellt, des Handelns Gottes gewiss wird und daraus Kraft schöpft.

Gebet als liturgische Handlung

Das Beten als spezielle liturgische Handlungsform ist von der grundlegenden betenden Haltung des gesamten Gottesdienstes zu unterscheiden. Die wesentlichen Gebetsinhalte sind Anrufung, Klage, Dank, Bitte, Gedenken und Fürbitte. Sie kommen im Gottesdienst in verschiedenen Verbindungen vor (vgl. auch 4.2). Im Eingangsteil nähern wir uns dem Beten. Zunächst nehmen wir das Beten Israels auf: Die Psalmen bilden das Eintrittsportal zum gottesdienstlichen Beten, das mit dem "Ehr' sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist" markiert wird. Im "Herr, erbarme dich" ("Kyrie eleison)" suchen wir den Kontakt mit Gott in der Weise, wie es die Kranken mit Jesus taten: "Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" (Mk 10,46); dieser Ruf verbindet die Bitte mit dem Bekenntnis. In unierten Gottesdiensten wird an dieser Stelle mit einer "Hinführung zum Kyrie" eigens das zur Sprache gebracht, was uns am Beten hindert. Dieses Element kann im lutherischen Gottesdienst im Vorbereitungsgebet (vor dem Eingangslied) seinen Platz finden. In dem auf das Kyrie folgenden "Allein Gott in der Höh' sei Ehr" gedenken wir des weihnachtlichen Jubels (vgl. Lk 2,14). Wir bekennen uns dazu, dass Gott für uns ansprechbar ist. Im Anschluss beten wir das "Tagesgebet", in dem der Charakter des jeweiligen Gottesdienstes vom Sonntagsevangelium her anklingt. Man nennt dieses Gebet auch "Sammelgebet" ("Kollektengebet"), weil sich hier die Gedanken des Eingangsteils und der folgenden Lesungen treffen.

Im Verkündigungsteil steht das Nachdenken über die Bibel im Vordergrund. Das Beten beschränkt sich auf sehr kurze, aber intensive Stücke. Gott wird nach der ersten Lesung gepriesen mit dem "Halleluja" ("Lobet Gott!"), das allerdings in der Passionszeit entfällt. Der im Evangelium selbst zu uns sprechende Jesus Christus wird eigens begrüßt mit "Ehre sei dir, Herr" und gepriesen mit "Lob sei dir, Christus". Das Glaubensbekenntnis ist hingegen von der Sprachform her kein Gebet, sondern eine Vergewisserung dessen, was die Gemeinde glaubt, vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit.

Beim Abendmahl ist das Sprechen Jesu Christi zur Gemeinde in den Einsetzungsworten umgeben von verschiedenen Gebetsformen, in denen die Gemeinde des Handelns Gottes gedenkt (zum Beispiel im "Heilig, heilig, heilig", "Sanctus") und in denen sie um seine heilsame Zuwendung bittet (zum Beispiel im "Christe, du Lamm Gottes", "Agnus Dei"). Die neueren Agenden (wie auch das Evangelische Gottesdienstbuch) empfehlen mit der Ökumene die feierliche Erinnerung ("Anamnese") an Christi Tod und Auferweckung und die Anrufung des Geistes ("Epiklese"). Vor dem gemeinsamen Essen steht dann das ­ als "Tischgebet" beim Mahl Jesu verstandene ­ Vaterunser.

Die Fürbitten können zwischen Wortteil und Mahlteil stehen und verweisen auf die abwesenden Menschen, an die beim Feiern von Wort und Sakrament gedacht werden soll. Verbinden sich dagegen die Fürbitten mit dem Dankgebet nach dem Abendmahl, öffnen sie den Blick für den Zusammenhang der empfangenen Gabe mit der Aufgabe, die Anliegen anderer Menschen vor Gott zu bringen. Ging es in der Eröffnung um den Weg der Gemeinde zu ihrem eigenen Beten, so sind jetzt die anderen im Blick. Auf sie und auf den Rückweg in den Alltag bezieht sich das letzte Stück des liturgischen Gebetsweges. Etwas ganz Besonderes ­ und für so manchen der Höhepunkt des Gottesdienstes ­ ist schließlich der "aaronitische Segen" (mit den Worten des Priesters Aaron, 4 Mose 6,24­26), in dem sich die betende Haltung des Gottesdienstes noch einmal verdichtet.

Öffentliches Gebet

Es gibt viele Formen des individuellen und des gemeinschaftlichen Gebetes. Das Besondere des liturgischen Gebetes ist, dass es in der Öffentlichkeit stattfindet. Der Gottesdienst ist keine Vereinsversammlung von Kirchenmitgliedern. Zu ihm wird öffentlich eingeladen, und jeder hat Zutritt, weil der Gottesdienst die Veröffentlichung von Gottes Zuwendung ist. Man kann die christliche Gemeinde beim Beten beobachten. Man muss bei den Christen "sehen, wie die glauben, leben und lehren" (Martin Luther). Das liturgische Gebet soll darum von persönlicher Wahrhaftigkeit geprägt, aber auch für viele verschiedene Gemeindeglieder und für die Öffentlichkeit angemessen sein. Die gottesdienstlichen Gebete sollen alltagssprachliche Frische und liturgische Würde miteinander verbinden, damit durch sie das Einzigartige des Gesprächs zwischen Gott und Mensch erfahren werden kann.

3.5 Musik im Gottesdienst

Musik als Gottesgabe und Menschenkunst

Musik ist eine Gabe des Schöpfers, die uns bewegt und eine Kunst des Menschen, die wir gestalten. Als eine den ganzen Menschen anregende Lebensäußerung erfüllt sie uns mit Freude und verherrlicht den Schöpfer.

Musik tut uns gut, ja, sie vermittelt sogar eine "Ahnung" von Gott: In Tönen und Rhythmen, Melodien und Harmonien gibt sie Zeugnis von der Phantasie des Schöpfers und macht seine Weisheit sinnlich erfahrbar. Für viele Kulturen und Religionen sind daher Jubel und Klage, Gebet und Kult ohne Musik nicht denkbar. Die Reformatoren haben sich die Musica sogar als eine Person vorgestellt, die die Menschen an die Hand nimmt und in die Natur führt, um dort die Schönheit der Schöpfung zu entdecken und zum Lob Gottes zu inspirieren (vgl. EG 319: "Die beste Zeit im Jahr ist mein").

Doch ist die Musik nicht nur ein Klanggeschenk Gottes, sondern auch eine Kunst, um die Menschen sich engagiert bemühen müssen. Seit vielen Jahrhunderten ist sie daher an den abendländischen Universitäten und Hochschulen etabliert.

Auch auf den ersten Seiten der Bibel wird schon ein Musiker erwähnt: "Von Jubal sind hergekommen alle Zither- und Flötenspieler" (Gen 4,21). Ihm zur Seite steht Mirjam. Sie schlägt eine Art Handpauke und singt und tanzt dazu, nachdem Gott das Volk Israel vor dem Ertrinken im Roten Meer und der Hand der Feinde errettet hat: "Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan" (Ex 15,21). Gesang, Rhythmus und Tanz gehören nicht nur zum Alltag der Menschen der Bibel, auch die ganz besonderen Erfahrungen mit Gott werden musikalisch beantwortet.

Diese Dimension darf im alttestamentlichen Gottesdienst nicht fehlen. Davon geben besonders die in aller Regel instrumental begleiteten Psalmen ein beredtes Zeugnis. Sie reichen vom Aufschrei der Klage bis hin zu ekstatischem Jubel, sie feiern Gottes Namen in der Mitte der Gemeinde und erzählen, was Gott für sein Volk und in der ganzen Welt tut. Das Vertrauen auf den bewahrenden Schöpfer kommt ebenso zum Klingen wie der Dank an den Retter und Erlöser. Das Ziel des Psalters ist der Lobpreis Gottes. Mit dem Psalter gehen wir Christen beim jüdischen Volk nicht nur in die Schule des Betens, sondern lernen auch, Gott singend zu verehren.

Musik als klingendes Gottes- und Christuswort

Kirchenmusik hat elementaren Anteil an Verkündigung, Klage und Lobpreis im christlichen Gottesdienst. Wort und Musik, "Singen und Sagen", gehören im Blick auf das dialogische Wechselspiel in der Liturgie wesentlich zusammen. In Kol 3,16 finden sich gleichsam die "Einsetzungsworte der Kirchenmusik": "Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern; singt Gott dankbar in euren Herzen." Als klingendes Wort Christi erzählt Kirchenmusik von Christus, ja mehr noch: Christus selbst teilt sich musikalisch der Gemeinde mit. Dies ist die verkündigende Dimension der Musik, die für das evangelische Musikverständnis prägend geworden ist. Im Gottesdienst geschieht aber noch mehr: Viele Lieder sind gesungene Gebete, die im dankbaren Herzen ihren Ursprung haben (doxologische Dimension). Verkündigung und Gebet können sich also in musikalischen Formen ereignen, von denen hier Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder genannt sind.

Die Psalmen sind die meistvertonte Gedicht- und Gebetssammlung der Musikgeschichte und bilden ein Herzstück des christlichen Gottesdienstes bis heute. Zahlreiche Psalmlieder und Liedpsalmen bringen Klage und Lob vor Gott (vgl. EG 270 ­306). Der Begriff Hymnen bezieht sich vornehmlich auf Christuslieder, wie man sie an vielen prominenten Stellen im Neuen Testament findet (vgl. Joh 1,1­18, Phil 2,6 ­11 u. a.). Diese Tradition setzt sich in den Gesängen der Alten Kirche und des Mittelalters fort und lebt in Chorälen, Kantaten und Motetten weiter bis heute. Mit den geistlichen Liedern sind vermutlich spontan gedichtete Gesänge gemeint, mit denen in immer aktueller Weise das Evangelium musikalisch ausgelegt und angeeignet wird. Von daher ergibt sich die Aufgabe, dass Kirchenmusik ständig erneuert wird und offen ist für innovative Formen von Musik (Popmusik, Avantgarde).

Musik kann im Gottesdienst instrumental und vokal erklingen. Instrumentalmusik (zum Beispiel durch die Orgel) prägt den Beginn und das Ende des Gottesdienstes, leitet Gemeindegesänge ein und begleitet sie. Sie kann das gesprochene Wort kommentieren und meditieren, aber auch unterlegen. Zur Vokalmusik gehören liturgische Wechselgesänge (wie Psalmen, Kyrie, Halleluja) und Gemeindelieder (wie Eingangslied, Wochenlied, Predigtlied, Schlusslied), aber auch Gesänge des Chors (mehrstimmige Motetten oder Kantaten, Kanons oder Gospels) oder von Solisten (zum Beispiel Arien, Balladen).

Zugleich gehört die Musik zu den zentralen Elementen evangelischer Spiritualität, die nicht auf den Gottesdienst beschränkt ist. Musik geschieht nicht nur zur Ehre Gottes, sondern auch "zur Recreation des Gemüths" (Johann Sebastian Bach). Musikalische Formen, zum Beispiel kleine Singsprüche und Kanons, können den Gottesdienst am Sonntag und im Alltag gut miteinander verbinden.

Musik als Instrument des Heiligen Geistes

Kirchenmusik hat Anteil an allen Wirkungen des Heiligen Geistes. Sie erleuchtet Menschen und ermutigt zum Glauben, schafft Gemeinschaftserfahrungen und weckt den Lebensmut. Sie vermittelt Bildung wie die Katechismuslieder Luthers und stärkt unsere Widerstandskraft gegen das Unrecht wie "We shall overcome".

Gottes Geist lässt beim Singen und Musizieren Menschen zueinander finden, die oft wenig miteinander zu tun haben. Über Milieu-, Frömmigkeits- und Generationengrenzen hinweg stiftet Kirchenmusik Gemeinschaft. Von daher ist sie ein zentrales Element für Gemeindeaufbau und Gemeindeentwicklung. Musik hat nicht nur integrative, sondern auch therapeutische Kraft, sei es, dass sie durch Singen und Spielen aktive Beteiligung ermöglicht, sei es, dass sie durch rezeptives Hören tröstet und zur Ruhe kommen lässt. Kirchenmusik kann - oft intensiver als die Worte der Verkündigung - Gefühle der Freude oder Erhebung auslösen, Angst und Schmerz ausdrücken, aber auch neue Hoffnung vermitteln.

Kirchenmusik nimmt eine wichtige kulturelle Aufgabe wahr und stellt ein zentrales Element des Bildungsauftrags der Kirche dar. Im ländlichen Bereich ist die Kirche mit ihrer Musik oft der Kulturträger schlechthin. In den Städten wird, zum Beispiel durch gottesdienstliche oder konzertante Aufführungen, große Kirchenmusik einer breiten, oft säkularisierten Hörerschaft zu Gehör gebracht. In beiden Kontexten leisten kirchliche Ensembles einen kaum zu überschätzenden Beitrag dazu, dass Menschen noch singen oder mit Musik in Berührung kommen.

Eine Liedstrophe von Paul Gerhardt (EG 324,1) bündelt vier Dimensionen der Kirchenmusik in ihrer liturgischen und spirituellen Bedeutung:

"Ich singe dir mit Herz und Mund": Das beste und höchste Ziel jeder Musik ist es, Gott zu loben und ihm die Ehre zu geben. Menschen erheben ihre Herzen und machen mit bewegenden Klängen und inspirierten Rhythmen den Schöpfer groß. Wer singt, betet doppelt!

"Herr, meines Herzens Lust": Wenn ein Mensch von Gott singt und vor ihm musiziert, geschieht das nicht nur mit der Stimme oder mit den Händen, sondern kommt von Herzen. Der ganze Mensch kommt dabei zum Klingen: summt und lacht, jubelt und klatscht, hüpft und tanzt. Kirchenmusik macht Freude, sie darf im besten Sinne des Wortes lustvoll sein und be-geistern.

"Ich sing und mach auf Erden kund": Das besondere Profil protestantischer Kirchenmusik ist die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Sie lädt ein und vergewissert im Glauben. Mit prophetischer Stimme tritt sie eigenständig für Gerechtigkeit in der Welt ein.

"Was mir von dir bewusst": Evangelische Kirchenmusik eröffnet uns neue Zugänge zu den Inhalten des Glaubens. So geschieht Vergewisserung und "Bewusstseins-Bildung"; wir werden durchklungen vom "Sound des Geistes", der uns geistlich und geistig aufbaut und bildet.

3.6 Der eine Gottesdienst und die Vielfalt der Gottesdienstformen

Viele Gottesdienstformen

Der eine evangelische Gottesdienst, die Begegnung mit dem Herrn im Hören und Feiern des Evangeliums, kann nicht von einer bestimmten agendarischen Form her definiert oder auf sie begrenzt werden. Weil es auf Gottesbegegnung, Lebenserneuerung und Gemeinschaft ankommt, hat die evangelische Gottesdiensttradition immer schon eine besondere Freiheit gegenüber der Form besessen. Dem entspricht es, dass wir im "Evangelischen Gottesdienstbuch" die beiden Grundformen des (lutherischen) Messgottesdienstes mit liturgischen Gesängen und die Form des südwestdeutschen (reformierten) Predigtgottesdienstes vorfinden. Außerdem gab und gibt es neben diesem "Hauptgottesdienst" vielfältige Formen wie den Singgottesdienst oder die Gebetsversammlung im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Besonders in den letzten fünfzig Jahren sind neue Formen entstanden wie das "Politische Nachtgebet", das "Feierabendmahl", der "Gesprächsgottesdienst" oder die "Beatmesse", und in den letzten Jahren sind der Gospelgottesdienst und neue Gottesdienstformen für Erwachsene und Gemeindeferne besonders erfolgreich gewesen (vgl. 4.5). Für viele Kirchenmitglieder jedoch sind der Heiligabendgottesdienst und die lebensgeschichtlichen Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung) die wichtigsten Gottesdienste.

Gottesdienst und christliche Identität im Neuen Testament

Einen evangelischen "Einheitsgottesdienst" hat es nie gegeben und braucht es auch nicht zu geben. Aber die verschiedenen Gottes- dienste und Gemeindeformen erwachsen aus einem gemeinsamen Zentrum, das mit der Person Jesu, der Lehre Jesu und dem Leben Jesu gegeben ist (1 Kor 3,11), wie es im Neuen Testament nachzulesen ist (vgl. 2.1). Die Versammlung "im Namen Jesu" war die Mitte des christlichen Lebens (Mt 18,20; 1 Kor 14,25). Sie hob die Glaubenden immer mehr von der jüdischen und hellenistischen Umwelt ab und machte sie zu "Christen". Der Gottesdienst stiftete trotz aller Unterschiedlichkeit des Alltagslebens die neue Identität der an Christus Glaubenden. Das "Brotbrechen", die betende Versammlung um Jesu willen in den Häusern (Apg 2,42) verband sie trotz der Vielfalt liturgischer Formen. Das Entscheidende war, dass der auferstandene Jesus Christus als gegenwärtig erfahren wurde.

Das eine Evangelium von der Zuwendung und Ansprechbarkeit Gottes

Vergleichbares wird man auch für die liturgische Vielfalt der Gegenwart sagen können. Die Einheit der unterschiedlichen Gottesdienste lässt sich nicht einfach von bestimmten Strukturen her beschreiben, so hilfreich diese für die Wiedererkennbarkeit der liturgischen Abläufe auch sind. Die Formen des Gottesdienstes bleiben verschieden, denn das Evangelium Jesu Christi ist der entscheidende Bezugspunkt für unterschiedliche Anlässe und Formen des evangelischen Gottesdienstes. Die Einheit besteht in der Christuserfahrung. "Christus zu erkennen, bedeutet, seine Wohltaten zu erkennen" (Philipp Melanchthon). Nur von diesem Punkt her kann beurteilt werden, welche gottesdienstlichen Formen und Inhalte in der jeweiligen Situation angemessen sind. Der christliche Gottesdienst eröffnet die Begegnung mit dem uns in Jesus Christus zugewandten und mit uns redenden Gott (vgl. 3.1 und 3.4). Dieser Gott hat keine fremde, bedrohliche oder unberechenbare Gestalt, sondern einen Namen und ein menschliches Antlitz (vgl. 2 Mose 3,1-14; Phil 2,5-11).

Wenn in dieser Weise an Gott gedacht, von Gott und mit Gott geredet und wenn von ihm her das Leben in aller Schönheit und in allen Abgründen gedeutet und gestaltet wird, ist der christliche Gottesdienst bei sich selbst. Dann wird der dreieinige Gott als derjenige erkannt, der Schuld richtet und vergibt, der das Leiden trägt und tröstet. Er kommt zum Menschen und ist ihm als Heiliger Geist unmittelbar gegenwärtig. Der eine christliche Gottesdienst wird immer dann gefeiert, wenn Menschen erfahren, dass sie mit Gott sprechen können durch Jesus Christus im heiligen Geist (vgl. 3.4).

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