AIDS - Orientierung und Wege in der Gefahr

Eine Kirchliche Stellungnahme, 1988

I. Einleitung

Viele Stimmen sind bislang zum Thema AIDS laut geworden. Teilweise widersprechen sich die öffentlich geäußerten Meinungen. In dieser Situation ist es nicht möglich, ein abschließendes und nur auf Zustimmung zielendes Wort zur Sache zu sagen. Zu unübersichtlich ist die Lage, zu unabsehbar die weitere Entwicklung. Neben der Angst vor einer weltweiten Katastrophe steht die Warnung vor übertriebenen Ängsten. Auf der einen Seite ist durch die öffentlichen Medien eine Flut von Informationen zum Thema AIDS über uns hereingebrochen, auf der anderen Seite gibt es vielfach ein hohes Maß an Abwehr, Desinteresse und nicht zuletzt Fehlinformationen bis in Kreise der Bevölkerung hinein, von denen man eine besondere Sachkunde erwartet. Eine tiefe Verunsicherung im Blick auf die zur Geltung zu bringenden Werte und ethischen Orientierungen ist weithin verbreitet.

In dieser Situation will die Evangelische Kirche in Deutschland mit einer Stellungnahme zur Klärung und Orientierung beitragen. Sie läßt sich dabei von Einsichten des christlichen Glaubens leiten. Der Glaube ist uns Anlaß zu einer nüchternen Wahrnehmung der Wirklichkeit und zu einem liebevollen Umgang mit den Menschen in unserer Gesellschaft und ihren Problemen. Im Vertrauen auf Gott den Schöpfer, Erlöser und Versöhner sehen wir unsere Mitverantwortung in einer Situation, in der die Unsicherheiten und Fragen größer sind als die Lösungen und Antworten. Wir Christen sollten versuchen, der Angst vor AIDS das ihr zukommende Maß zu setzen, zugleich aber auch die realen Bedrohungen und Gefährdungen menschlichen Lebens nicht leichtfertig zu überspielen.

In diesem Sinne wenden wir uns besonders an die Gemeinden in der evangelischen Kirche und darüber hinaus an die Öffentlichkeit in unserem Lande, insbesondere an die Verunsicherten und Betroffenen, die AIDS-Infizierten und AIDS-Kranken und ihre Betreuer, die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft.

Wir alle müssen davon ausgehen, daß es sich bei der AIDS-Krankheit nicht um ein Sonderproblem bestimmter Gruppen, etwa der Homosexuellen oder der Drogenabhängigen handelt, sondern um eine Bedrohung der gesamten Gesellschaft. Die zahlreichen, gerade auch kirchlichen Stellungnahmen, die bis heute zu diesem Thema vorliegen, kreisen um eine Warnung vor einer Ausgrenzung der Betroffenen, um die Hilfe für die Kranken und um die Möglichkeiten der Seelsorge und praktischen Hilfen der Kirche. Wir begrüßen, daß eine wachsende Einheitlichkeit der Meinungen in den Stimmen der Kirchen deutlich wird. Die Kirchen beteiligen sich an den kontroversen Diskussionen um Maßnahmen und Strategien nicht, sondern konzentrieren sich auf die seelsorgerlichen und diakonischen Dimensionen des Themas. Es ist die Aufgabe der Kirche, daß sie sich in Seelsorge und Diakonie der AIDSKranken annimmt, wo immer sie ihnen begegnet und wo sie darum gebeten wird. Sie ist für sie da, wie sie für alle Kranken in ihren Ängsten, Konflikten und Verzweiflungen da ist. Dies ist ein entscheidender Schwerpunkt in ihrer Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen der AIDS-Bekämpfung, angefangen vom Vorbeugen, über die Betreuung und Begleitung der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes bis hin zur gesellschaftlichen Mitverantwortung.

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