Thesenanschlag – Dichtung und Wahrheit

Luthers Veröffentlichung der 95 Thesen am 31. Oktober 1517

Lange Zeit war sein Name vor allem Kennern der Reformationsgeschichte ein Begriff. Doch spätestens seit dem jüngsten Handschriftenfund, der im Februar 2015 die Diskussion um den Thesenanschlag von 1517 an der Wittenberger Schlosskirche neu belebte, ist der Theologe und Luther-Zeitgenosse Georg Rörer einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Der Assistent Luthers hatte 1541 notiert: „Im Jahr 1517 am Vorabend von Allerheiligen sind in Wittenberg an den Türen der Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin Luther vorgestellt worden.“ Die Mitteilung im damaligen Gelehrtenlatein befindet sich auf der letzten Seite einer Luther-Bibel von 1540, die der Reformator und sein Mitarbeiter in Wittenberg gemeinsam für eine geplante Neuausgabe der Bibelübersetzung nutzten. Das Exemplar war in Rörers Besitz, als er später nach Jena ging.

„Geburtswehen der Legende vom Thesenanschlag“

Martin Treu von der Stiftung Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt ist überzeugt, dass die Bemerkung Rörers „die älteste autographe Quelle“ für den Thesenanschlag ist. Damit widerspricht der Wittenberger Luther-Kenner Wissenschaftlern wie dem Jenaer Kirchengeschichtler Volker Leppin, die in dem Handschriftenfund bestenfalls „ein wichtiges Zeugnis“ für die „Geburtswehen der Legende vom Thesenanschlag“ sehen. Rörer sei ebenso wie der spätere „Gewährsmann“ Philipp Melanchthon kein Augenzeuge des Geschehens von 1517 gewesen, betont Leppin.

Für Treu hingegen ist der Eintrag eine persönliche Notiz Rörers zur Arbeit in der Bibelkommission für die Neuausgabe. „Er wollte nicht Geschichte schreiben, sondern lediglich die ihm wichtigen Daten jener Zeit festhalten“, sagt der promovierte Kirchenhistoriker. Für diese Annahme spreche die unmittelbar daneben erhaltene Mitteilung über die Ankunft Melanchthons 1518 in Wittenberg. Beides habe Rörer „absichtslos“ notiert, „um es nicht zu vergessen“.

Der jüngste Rörer-Fund in der Jenaer Universitätsbibliothek bedeute nicht, „dass der Mythos des 19. Jahrhunderts vom weltverändernden Thesenanschlag in sein Recht gesetzt wird“, betont Treu ausdrücklich. Die Ablass-Thesen seien nicht als Aufforderung zu Aufruhr und Aufstand veröffentlicht worden, sondern nach damaligen Brauch als Anregung des akademischen Disputs. Gleichwohl habe „Luthers Eckermann“ gemeinsam mit den anderen Protagonisten der Reformation an einem Anfang gestanden, „von dem damals niemand wusste, dass es ein Anfang war“.