Volkslied des Glaubens
Der Choral prägt bis heute die Kirchenmusik, doch er ist gefährdet
Das Choralsingen droht nach 500 Jahren auszusterben. Diese Form des gemeinschaftlichen gesungenen Glaubensbekenntnisses hatte Martin Luther geprägt. Auf diese Weise sind die Inhalte der Reformation weitergetragen worden. Nun ist das Choralsingen von der Kultusministerkonferenz auf Empfehlung der Deutschen Unesco-Kommission in das deutsche Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden.
Zeit der Reformation, erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Eine neue Art von Vokalmusik breitet sich zusammen mit den Ideen Martin Luthers in Kirchen der deutschsprachigen Regionen Kerneuropas aus: das Choralsingen. Diese Art des Singens in Gemeinschaft mit Gläubigen hat etwas Kämpferisches, pocht auf neue Quellen für religiöse Identität und kirchlichen Zusammenhalt „von unten“. Die ersten Choräle werden von Luther und seinen Mitstreitern volksliedhaft aus frühchristlichen Hymnen, Bibelstellen und Psalmen vom Lateinischen in die Alltagssprache der Menschen übersetzt. Das Revolutionäre der Reformation manifestiert sich so auch im Formalen des gemeinschaftlich gesungenen Bekenntnisses, im Choralsingen. Jetzt, bald fünf Jahrhunderte später, ist das Choralsingen von der Kultusministerkonferenz auf Empfehlung von Experten der Deutschen Unesco-Kommission als eine von sieben Kulturformen in das deutsche Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden. Nichts weniger als ein kultureller Ritterschlag!
Was unter dem Begriff Choralsingen verstanden wird, ist nicht eindeutig. Klar jedoch dürften seine historischen Vorläufer zu benennen sein: Choraliter, also unisono angestimmt wie der frühkirchliche Gregorianische Gesang und im Versrhythmus gesungen, gestaltet sich das Singen in dieser speziellen Variante des Chormusizierens. Luther, der Spracherneuerer, fasst die aus dem canticum vernaculum hervorgehende Form als „heimisches volkssprachliches Lied“. Früh hat der Reformator die verbindende Dimension des Gesangs für die Reformation als Singbewegung erkannt. „Die Musik ist eine Gabe und ein Geschenk Gottes. Sie vertreibt den Teufel und macht die Menschen fröhlich“, äußerte er in einer seiner Tischreden. Im Choralsingen, wissen wir heute, wird seine Theologie der Musik zur gültigen Form, der Quantensprung vollendet. Das heute von der Kirchengemeinde intonierte evangelische Kirchenlied ist erfunden.
„Erinnerung an das, was wir wirklich sind: Brüder und Schwestern"
Initiator des Vorstoßes in Gremien der deutschen Unesco-Kommission ist Klaus-Martin Bresgott, kommissarischer Leiter des Kulturbüros des Rates der EKD. Er unterstreicht den Beitrag des Choralsingens für die Emanzipation der protestantischen Kirchengemeinden. „Das Singen war nicht länger nur den Priestern vorbehalten“, betont der Chordirigent und Herausgeber mehrerer Chorbücher. Vielmehr sei es von den Gemeindemitgliedern in der für jedermann verständlichen deutschen Muttersprache praktiziert worden. Bresgott: „Melodien 'von der Straße' fanden Eingang in neue Choralkompositionen, was zu einer großen Popularisierung von Choralmelodien und -texten in den verschiedenen Regionen Deutschlands beitrug.“
Ähnlich begreift der Dirigent und Chorleiter Nicol Matt den Wesensgehalt dieser Vokalkultur: „Als studierter evangelischer Kirchenmusiker mit jahrelanger Diensterfahrung war für mich der Choralgesang so etwas wie das 'Volkslied' des Glaubens.“ Matt, der in der evangelischen Kirche in Kork und Willstätt als Organist und als Chorleiter in der katholischen Kirche in Offenburg tätig war, spricht von Liedern, „welche die Menschen miteinander verbinden und eins werden lassen in ihrem Glauben und Gefühlen. Eine Kommunikation in der Gemeinschaft, die uns an das erinnert, was wir wirklich sind: Brüder und Schwestern.“
Der Choral ist geliebt aber gefährdet
Aus dem Gemeinschaftserlebnis ist auch Bresgotts Initiative entstanden. Die Motivation hierfür rühre, wie er berichtet, aus der Erfahrung der Konzertstafette "366+1, Kirche klingt 2012" zum Jahresthema „Reformation und Musik“ im Rahmen der Lutherdekade. Durch alle 366 Tage des Schaltjahres 2012 hatte sich ein im Dominoprinzip verbundenes Band von Konzerten, Gottesdiensten und Soireen in offenen Kirchen mit einem wöchentlichen Leitlied-Choral durch ganz Deutschland gezogen. „Der Choral ist allerorten präsent“, lautet Bresgotts zentrales Resümee der Aktion, „aber auch gefährdet“: Die Beschäftigung mit dem Choral, erläutert er, sei immer auch eine Herausforderung durch die dezidierte Textgebundenheit. „Einerseits lässt sich singend vieles sagen, was sich schwer aussprechen lässt, andererseits fordern die Texte auch eine direkte Auseinandersetzung mit der Sprache und dem historischen Kontext.“
Das Material des Choralsingens, die Vielfalt der über die Jahrhunderte für eine große Bandbreite an Anlässen entstandenen Choräle, dürfte auch für Experten kaum überschaubar sein. Paul Gerhardt, Johann Pachelbel, Georg Philipp Telemann, Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy können als herausragende Komponisten auf diesem Gebiet gelten. Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“, im Evangelischen Gesangbuch als Lied Nummer 477 geführt, und das in zahlreichen musikalischen Bearbeitungen existierende „Nun danket alle Gott“ (EG 321) – um nur zwei Beispiele zu nennen – weisen eine Popularität auf, die weit über liturgische Zwecke hinausgeht. Als 1955 die letzten deutschen Soldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Friedland heimkehren, wird „Nun danket alle Gott“, das im 19. Jahrhundert zur vaterländischen Hymne aufgestiegen ist, in dem Lager spontan von allen intoniert. Soll es patriotisch oder pathetisch wie bei Richard Wagners Chor „Wacht auf, es nahet gen den Tag“ in seiner Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ zugehen, sind Choräle immer willkommen.
„Der rote Faden durch jeden Gottesdienst“
Die Wucht, die dem Choralsingen innewohnen kann, schildert Matt, einer der führenden jüngeren Dirigenten im Sektor von Einspielungen anspruchsvoller Vokalmusik: „Ich erinnere mich gut an eine Mammutproduktion für eine niederländische Plattenfirma, für die ich alle 371 Choräle Bachs aufgenommen habe.“ Über drei Wochen am Stück von morgens bis nachts sei mit wechselnden Instrumentalisten und Sängern gearbeitet worden. „Ich war wie im Rausch und gleichzeitig beseelt von Bachs Kompositionen und staunte vor der Allmacht der Musik.“
Wer an das Choralsingen im alltäglichen evangelischen Gottesdienst denkt, sollte einen nicht unwesentlichen Aspekt vernachlässigen, den Part der Orgel. Stefan Horz, Organist an der Evangelischen Kreuzkirche Bonn, sagt: „Der Choral ist ja eigentlich der rote Faden durch jeden Gottesdienst.“ Wie er gesungen wird, werde wesentlich durch die Art und Weise des Orgelvorspiels geprägt, „das dem Choralsingen durch die Gemeinde vorangeht und den Charakter des folgenden Kirchenlieds ausleuchtet“. Häufig, erläutert Horz, eröffneten das Orgelvorspiel und die Orgeluntermalung zwischen den Strophen dem Organisten die Freiheit zur Improvisation. „Dies gehört mit zu den schönen Aspekten des Berufs.“
Auf Freiheiten und Spielräume verweist auch Bresgott mit Blick auf das Choralsingen von morgen. Gerade weil seine Bewahrung nicht selbstverständlich sei, „ist es umso schöner, dass es eine deutliche Fortschreibung der Choraltradition gibt“. Der EKD-Kulturexperte ist da zuversichtlich. Anzeichen seien in speziellen Weiterentwicklungen des Kirchenliedes, bei Liedermachern und in der Verflechtung mit anderen Genres wie etwa Gospel und Jazz zu beobachten.
Ralf Siepmann (evangelisch.de)