Christentum und politische Kultur

Eine Erklärung des Rates der EKD, EKD-Text Nr. 63, 1997

I. Zum Verhältnis von demokratischem Rechtsstaat und Christentum im Rahmen des Grundgesetzes

1. Laizistischer Auftrag des Grundgesetzes?

  1. Das Grundgesetz kennt keinen laizistischen Auftrag. Bei der Verfassungsgebung waren Verfassungsalternativen mit einem solchen Auftrag wohl bekannt. Sie wurden in Deutschland nicht eingeführt, besonders nicht in der Schule. Das Grundgesetz hat mit der Einführung des Religionsunterrichts als Regel für alle Länder einen Rahmen vorgegeben. Im übrigen ist die Ordnung der Schule Ländersache, wobei der jeweilige Landesgesetzgeber einen weiten Spielraum hat. Er hat die Kompetenz, die Schule als christliche Gemeinschaftsschule einzurichten. Sie orientiert sich an den aus dem Christentum hervorgegangenen, heute aber Allgemeingut bildenden Werten, die man mit dem Begriff der christlich-abendländischen Tradition umschreibt. Diese Schule ist keine Bekenntnisschule im Sinne einer christlichen Konfession, aber bildungsmäßig eben dieser Tradition verpflichtet.
  2. Das alles ist nicht beiläufig geregelt worden, sondern ist ein zentraler Gegenstand der Verfassungsgebung 1919 und 1949 gewesen, und zwar gerade wegen der heute wieder strittig gewordenen Probleme. Schon im revolutionären Umbruch 1919 gab es in einigen Ländern Bestrebungen, die Schule von der christlichen Tradition zu trennen. Gegen die Verbannung des christlichen Elements aus der Schule und gegen die Diskriminierung des Religionsunterrichts erhob sich massiver politischer Widerstand, der sich nicht zuletzt am fast allseits abgelehnten Beispiel des laizistischen Frankreich orientierte. Eine Petition erbrachte damals sieben Millionen Unterschriften. Die Verabschiedung der Verfassung konnte nur durch mühsam erarbeitete Kompromißlösungen gesichert werden, die den damaligen Status quo der schulischen Realität festschrieben. Im Parlamentarischen Rat bildete die Schulfrage 1948/49 abermals einen wesentlichen Streitpunkt. Wieder wurde ein laizistischer Auftrag für den Staat zurückgewiesen. Für die Schule bestätigte ein neuer Verfassungskompromiß die Zuständigkeit der Länder mit der selbstverständlich vorausgesetzten Absicht, diesen das Festhalten an ihren besonderen Schultraditionen weiterhin zu ermöglichen.
  3. Diese Grundentscheidung ist seit 1949 noch zweimal bestätigt worden. Als im Zuge der Abschaffung der kleineren, wohnortnahen Grundschule ("Zwergschule") in den sechziger Jahren das damals noch vorherrschende System der Bekenntnisschule aufgehoben wurde, bestand zwischen den politischen Parteien Einigkeit, daß die Schule für Schüler aller Bekenntnisse von Rechts wegen eine christliche Gemeinschaftsschule sein darf. Und es ist erst wenige Jahre her, daß das Grundgesetz, nach Zurückweisung von entsprechenden Anträgen, durch die Schlußabstimmung im Deutschen Bundestags zu den durch die Vereinigung verursachten Grundgesetzänderungen abermals bestätigt worden ist (s. auch Ziff. 43).

2. Zur Neutralität des Staates

  1. Der Verfassungsgrundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn aus dem Zusammenklang des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 und 3 sowie Art. 33 Abs. 3 GG), der Religionsfreiheit (Art. 4, 140 GG i.V. m. Art. 136 Abs. 1 und 4 WRV) und dem Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 1 WRV) hergeleitet und zu einem zentralen verfassungsrechtlichen Prinzip entwickelt. Danach enthält sich der Staat eines religiös-weltanschaulichen Urteils. Er trifft in diesem Zusammenhang keine autoritativen Entscheidungen, und er identifiziert sich mit keiner Religion, Konfession oder Weltanschauung. Das Urteil über letzte Wahrheiten beläßt er den einzelnen und ihren Kirchen und Religionsgemeinschaften (s. Ziff. 52).
  2. Neutralität kann in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Konsequenzen haben, je nach dem normativen Zusammenhang und dem Bezugspunkt der dem Staat konkret aufgegebenen Entscheidung. Der Begriff ist mehrdeutig und muß auf den jeweiligen Sachbereich bezogen werden. Bei staatlichen Kern- und Hoheitsfunktionen, wie Rechtspflege oder Gesetzgebung, fordert Neutralität eher Distanz. Anders ist es, wo der Staat bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in seine Obhut nimmt, sie mehr oder minder seiner Leitung unterstellt und sie organisiert, wie das beim Schulwesen der Fall ist. Die Leitungsorgane und die Amtsinhaber dieser Einrichtungen sind dem Staate zuzurechnen, nicht jedoch die weiteren Mitglieder oder Benutzer. Hier begegnen sich staatliche Ämterorganisation und bürgerliche Freiheit. Die identifizierende Selbstdarstellung ist demzufolge nicht nur für die staatliche Seite möglich und zulässig, sondern auch Ausdruck gesellschaftlicher und bürgerlicher Freiheit, wobei sich Grenzen aus den Grundrechten der Beteiligten ergeben.
  3. In der Schule stellt sich die Neutralität also gerade nicht als distanzierende und ausschließende Wertneutralität dar. Vielmehr ist hier dem Landesgesetzgeber aufgegeben, den vom Grundgesetz gesetzten Rahmen unter Berücksichtigung auch und gerade der christlichen Tradition auszufüllen (s. Ziff. 24 und öfter).
  4. In der 1973 ergangenen Entscheidung über das Kreuz im Gerichtssaal hat das Bundesverfassungsgericht die unterschiedlichen Erfordernisse des Neutralitätsprinzips mit dem Hinweis angesprochen, daß abstrakt gültige Forderungen aus jenem Prinzip eine umfassende "Erörterung" nötig machten, die "neben rechts- und justizgeschichtlichen Untersuchungen ein Eingehen auf die verschiedenen Verhältnisse und Anschauungen in den einzelnen Landesteilen der Bundesrepublik erfordern [würde] und insbesondere eine rechtsgrundsätzliche Würdigung des ... Prinzips der 'Nicht-Identifikation'". [8] Das Gericht stellte sich auf den Standpunkt, Umfang und Tragweite einer solchen Prüfung stünden in keinem Verhältnis zur Bedeutung des zu entscheidenden Falles.
  5. In der damaligen Entscheidung wurde festgestellt, "daß weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und daß auch im übrigen das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden 'Identifikation' mit spezifisch christlichen Anschauungen nicht derart ist, daß die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen in einem entsprechend ausgestatteten Gerichtssaal von andersdenkenden Parteien, Prozeßvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird. Denn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt von ihnen weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten". [9]
  6. Vor diesem Hintergrund hat der Beschluß von 1995 neue Akzente gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht sieht nunmehr in der Anbringung von Kreuzen eine Neutralitätsverletzung. Einen Hinweis darauf, warum im vorliegenden Fall das bisher vom Gericht Gesagte nicht mehr gelten soll, enthält die Entscheidung nicht (s. Ziff. 4).

3. Trennung von Staat und Kirche

  1. Die prinzipielle Trennung von Kirche und Staat wird in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV mit dem Satz festgestellt, daß keine Staatskirche bestehe. Mit dieser Entscheidung ist das landesherrliche Kirchenregiment, das traditionelle Band, das Thron und Altar verband, gelöst. Seitdem sind Staat und Kirche organisatorisch getrennt. Das Kultusministerium ist nicht mehr die Aufsichtsbehörde des Landeskirchenamtes. Jede Form staatlicher Kirchenhoheit ist zu Ende.
  2. Die Deutsche Nationalversammlung hat mit der Trennung aber, im Unterschied zu Frankreich, den USA oder der Sowjetunion, welche Beispiele den Abgeordneten vor Augen waren, nicht die Absicht verbunden, daß Staat und Kirche nicht zusammenarbeiten können und dürfen. Das bezeugen die Verfassungsartikel, in denen die Zusammenarbeit sogar ausdrücklich festgeschrieben wurde: Religionsunterricht, Theologische Fakultäten, Anstaltsseelsorge, Kirchensteuer. Es ist ganz unbezweifelt, daß für das Grundgesetz diese Konzeption gewollt war.
  3. Die "Trennung von Staat und Kirche" in der DDR unterschied sich fundamental von der in der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz ausformulierten. Sie stand nicht im Kontext der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, sondern im Kontext des Weltanschauungsstaates, der die Öffentlichkeit zur Durchsetzung seines Wahrheitsanspruchs beherrschte und kontrollierte und der die Kirche aus der Öffentlichkeit verdrängen wollte. Diese Art der Trennung verwehrte den Kirchen die Teilhabe an den Grundrechten und demokratischen Freiheiten, wie sie ein liberaler Rechtsstaat gewährleistet (s. Ziff. 61). Das in Art.41 der DDR-Verfassung von 1949 im Anschluß an die Weimarer Verfassung den Religionsgemeinschaften zugestandene Recht, "zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen", wurde in der Verfassung von 1968 gestrichen.
  4. Unter staatlichem Druck und dem Einfluß einer atheistischen Ideologie sind die Kirchen in der früheren DDR einem Minorisierungsprozeß und die Gesellschaft einem Entkirchlichungsprozeß unterworfen worden. Im Westen Deutschlands gibt es ähnliche Prozesse; im freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat sind sie jedoch nicht von Zwangsmaßnahmen einer aggressiven gegen die Religion gerichteten Politik bestimmt. Die unterschiedlichen Gründe von Verlust der Kirchenbindung und Abbrüchen im Blick auf christliche Fundamente der Kultur können und sollen hier nicht im einzelnen untersucht werden. Die Kirchen haben sich in beiden Teilen Deutschlands auf diese Lage einzustellen, ohne ihren Auftrag, der sich an alle Menschen wendet, und den Anspruch auf Öffentlichkeit preiszugeben.

4. Zum Verhältnis von negativer und positiver Religionsfreiheit

  1. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Beschluß von 1995 dem Grundrecht der negativen Religionsfreiheit eine Interpretation gegeben, die in ihrer Bedeutung für die bundesstaatliche Kompetenzzuweisung und für die positive Religionsfreiheit der anderen betroffenen Schüler Fragen aufwirft.
  2. Die Grundrechte schützen jeden einzelnen. Sie sind Individual-Schutzrechte und daher Mehrheitsentscheidungen nicht zugänglich. Grundrechte gelten in Bund und Ländern gleich und unmittelbar. Sie schränken damit die Gestaltungsmöglichkeit des Landesgesetzgebers ein, auch im Bereich des Schulrechts. Bei der Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit kann es freilich zu einem Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsgewährleistung und föderalistischer Kompetenzzuweisung kommen. Hier hat das Gericht der negativen Religionsfreiheit sowohl gegenüber der Landeskompetenz wie gegenüber der positiven Religionsfreiheit, anders als früher, den Vorrang eingeräumt. [10]
  3. Die Einheit der Verfassung findet bei der Grundrechtsauslegung dadurch die gebotene Berücksichtigung, daß die bundesstaatliche Kompetenzzuweisung mit-bedacht wird. Wenn das Grundgesetz den Ländern die Aufgabe der Ordnung des Schulwesens zuweist und in Art. 7 die religiöse Ausgestaltung ausdrücklich zuläßt, wirkt sich das in gewissem Umfang auf die tatsächliche Gewährleistung der Religionsfreiheit im einzelnen aus. Da der Staat nicht jedem Elternwunsch nach religiöser oder weltanschaulicher Ausgestaltung der Schule entsprechen kann, darf er unter Beachtung der Religionsfreiheit und des Grundsatzes der Toleranz die Schule als eine christlicher Tradition verpflichtete Gemeinschaftsschule einrichten (s. Ziff. 14). Für Eltern und Schüler mit dissentierenden Auffassungen folgt daraus die Pflicht, in bestimmten Grenzen solche aus der Tradition folgenden Bezüge hinzunehmen. So ist das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher gesehen worden.
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