Christentum und politische Kultur

Eine Erklärung des Rates der EKD, EKD-Text Nr. 63, 1997

II. Zur Bejahung des Christentums durch den Staat des Grundgesetzes

1. Das Christentum kann dem Staat nicht gleichgültig sein

  1. Die Rechtsprechung steckt in der Auslegung des Grundgesetzes den Rahmen ab, innerhalb dessen Streitfälle über den Zusammenhang von Christentum und demokratischem Rechtsstaat zu entscheiden sind. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat allgemeine Grundsätze entwickelt, die sich auf das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zu inhaltlichen Traditionen des Christentums und deren Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft beziehen.
  2. Auch die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 knüpft an diese allgemeinen Grundsätze an. So heißt es in den Entscheidungsgründen: "Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein" (s. Ziff. 4). [11]
  3. Wie diese Grundsätze über den Schulbereich hinaus für das Verhältnis zwischen dem Staat des Grundgesetzes und den christlichen Kirchen Bedeutung haben können, beantwortet der Hinweis auf geschichtliche Traditionen allein noch nicht zureichend. Auch darüber hinaus spielt das - positiv gewürdigte und in seiner Prägewirkung beachtliche - Christentum im demokratischen Rechtsstaat eine erhebliche Rolle.

2. Die Anerkennung dieser Grundsätze in der Staatspraxis

  1. In der Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland finden die genannten Grundsätze aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Reihe von Entsprechungen. Sie sind zwar nicht ganz unumstritten, bisher aber fast einmütig durchgehalten und bei verfassungsgerichtlicher Nachprüfung für zulässig erklärt worden. Letzteres gilt, wie bereits dargelegt, vor allem für die Schule.
  2. Auch in vielen anderen Lebensbereichen, insbesondere im sozialen und diakonischen Bereich, hat sich eine Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und den christlichen Kirchen oder ihren Einrichtungen entwickelt. Das hat zu einer auch verfassungsrechtlich anerkannten besonderen Stellung der Kirchen geführt [12] , auch wenn gleichartige Beziehungen des Staates zu anderen Religionsgemeinschaften grundsätzlich möglich sind und gelegentlich praktiziert werden. Der Fortsetzung solcher Staatspraxis steht der voranschreitende und zu begrüßende europäische Einigungsprozeß nicht hinderlich im Weg. Die erklärte Bereitschaft der Europäischen Union, "den Status, den Kirchen ... in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen", zu achten und ihn nicht zu beeinträchtigen [13] , zeigt ein wachsendes Verständnis der Gemeinschaft dafür, daß die verfassungsrechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften als Ausdruck der Identität der Mitgliedsstaaten und ihrer Kulturen sowie als Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes Achtung verdienen.
  3. Die Diskussion über die Streichung des Buß- und Bettages als eines gesetzlichen Feiertages hat in Erinnerung gerufen, daß die staatliche Feiertagsordnung bis auf vereinzelte Ausnahmen nur christlich geprägte Feiertage kennt (s. Ziff. 61).
  4. Das und vieles andere sind fortwirkende geschichtliche und neu gebildete Formen des Zusammenwirkens, deren Aufrechterhaltung auch den Nichtchristen gegenüber legitim ist. Das gilt jedenfalls solange, wie "der 'ethische Standard' des Grundgesetzes", nämlich "die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen" [14], gewahrt bleibt und kein Zwang zur Anerkennung christlicher oder anderer Glaubensinhalte ausgeübt wird (s. Ziff. 70). Lassen sich Konflikte zwischen widerstreitenden Rechten nicht völlig vermeiden, so sind "Zwangselemente" auf "das Minimum" zu begrenzen. [15]

3. Zur Bedeutung der Bejahung des Christentums

  1. Vor dem Hintergrund der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, wie sie im I. Teil dargelegt wurde, und seiner Offenheit gegenüber dem Pluralismus unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Anschauungen ist die Frage weiter zu konkretisieren, wie die Bedeutung der Bejahung des Christentums in seiner überragenden Prägekraft wahrgenommen wird und welche orientierende Funktion das christliche Erbe für Staat und Gesellschaft auszuüben vermag.
  2. Die zum Gemeingut gewordenen Werte und Normen des abendländischen Kulturkreises seien "weitgehend vom Christentum geprägt", stellt dazu das Bundesverfassungsgericht in einer seiner Kruzifix-Entscheidungen von 1975 fest. [16] Darauf beruhen und daraus entstehen jene "Voraussetzungen", von denen "der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt" und "die er selbst nicht garantieren kann". [17]
  3. Für Christen ist die Abwehr eines mit der Demokratie unvereinbaren Übels, nämlich des Totalitarismus, unabdingbares Gebot. Totalitarismus ist unvereinbar mit der Menschenwürde, wie sie im Christentum mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet wird. Erfahrungen aus der Zeit der NS-Diktatur und aus der DDR bieten neuere Beispiele dafür, daß kirchliches Leben im Gehorsam gegenüber dem Evangelium und die in ihm bestehenden religiösen Bindungen vor der Unterwerfung unter totalitäre Ansprüche bewahren helfen (Barmen V; s. auch Ziff. 39 und öfter). [18]
  4. Einen wichtigen Prüfstein für die aktuelle Wahrnehmung der Prägekraft des Christentums bildet das Gebot der Toleranz. Toleranz ist ein anerkanntes Verfassungsgebot. Sie mußte in langen Auseinandersetzungen auch gegen Ansprüche christlicher Kirchen durchgesetzt werden. Kaum ein Vorwurf ist gegen die christlichen Kirchen so oft und so leidenschaftlich erhoben worden, wie der Vorwurf der Intoleranz.
  5. Dieser Vorwurf ist deswegen besonders gravierend, weil Toleranz mit dem Wesen des christlichen Glaubens unlöslich verbunden ist. Die Geschichte der christlichen Kirchen ist freilich auch durch Exzesse von Intoleranz gezeichnet. Oft waren sie Folgen eines fanatisierenden Mißverständnisses der Wahrheit des Evangeliums. Zwar duldet das Evangelium keine Kompromisse (Gal 1f.). Aber seine Wahrheit ist die Wahrheit des Wortes vom Kreuz, das die "Toleranz Gottes" (Luther) bezeugt. Gott trägt nicht nur in Christus die Sünden der Welt (Joh 1,29: "qui tollit peccata mundi), sondern er trägt und erträgt auch die Menschen, die sein Wort und seinen Willen mißachten. Diese Toleranz Gottes ist das Kriterium, das die Kirche - auch selbstkritisch - geltend zu machen hat. Sie übersteigt allerdings alles, was von menschlichen Personen und Institutionen erwartet werden kann.
  6. Die Anerkennung der Grundsätze der Toleranz ist für die Kirchen aus einer innerchristlichen Konfliktgeschichte hervorgegangen, in der einzelne Personen, kleine christliche Kirchen und Gruppen den großen Kirchen vorangegangen sind. Einerseits ist hier an die von Martin Luther exemplarisch in Worms vor Kaiser und Reich in Anspruch genommene Freiheit des im Wort Gottes gebundenen Gewissens zu denken [19], andererseits an seinen nie preisgegebenen, 1520 von der Römisch-Katholischen Kirche als Irrtum verurteilten (DS 1483) Satz: "Ketzer verbrennen ist wider den Heiligen Geist".
  7. Gleichermaßen sind Menschenrechte, zumal das Recht aller Menschen auf Freiheit und Gleichheit und die in den sozialen Rechten zum Ausdruck kommende Orientierung am Ziel sozialer Gerechtigkeit, oft außerhalb oder sogar gegen die Kirchen verwirklicht worden. Und doch speist sich ihre Überzeugungskraft aus biblischen Wurzeln, vor allem aus der Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes (s. Ziff. 3) und der aus ihr hergeleiteten Erkenntnis der Menschenwürde. Das gilt auch für die Entwicklung der Menschenrechte, für die sich einzelne oder Gruppen mit ausdrücklicher Distanz zu den Kirchen eingesetzt haben, dabei durchaus in Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben. Die geistesgeschichtlichen Motive, die in dieser Konfliktgeschichte auf dem Weg zur allgemeinen Anerkennung von Toleranz und Menschenrechten wirksam geworden sind, gehören zu den tragenden Voraussetzungen des modernen demokratischen Rechtsstaates und seiner freiheitlichen Verfassung.
  8. Auf diesem Hintergrund hat 1985 die Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" die Demokratie zwar nicht zur "christlichen Staatsform" erklärt, aber die "Nähe" der Grundorientierung des demokratischen Staats "zum christlichen Menschenbild" und eine theologisch und ethisch begründete positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat aufgezeigt. [20] Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch das Theologische Votum der Evangelischen Kirche der Union von 1986 zu Barmen V. [21] Nicht nur geschichtliche Vorgänge, sondern auch solche aus dem christlichen Glauben gewonnenen Einsichten und die ihnen entsprechende Praxis zahlloser am Aufbau und an der Erhaltung der Demokratie mitarbeitender Christen wirken sich bis heute prägend auf die Kultur und auf die Wertüberzeugungen der freiheitlichen Demokratie aus.
  9. Dies gilt nicht zuletzt für den Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Die Soziale Marktwirtschaft, in der ein Ausgleich von Eigennutz und Gemeinwohl gesucht wird, verdankt ihre Entstehung wesentlich den Impulsen christlicher, vor allem protestantischer Ethik und ist auch für ihren weiteren Bestand auf deren prägende Einflüsse angewiesen. Entsprechend ist es eine entscheidende Voraussetzung für die Erhaltung und Konsolidierung des Sozialstaates, daß beides, die Fähigkeit zur Eigenverantwortung und die gemeinsame Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit, aus der Quelle der christlichen Tradition gespeist und lebendig gehalten wird. [22]
  10. Die Wirkung der Prägekraft des Christentums in Vergangenheit und Gegenwart führt nicht dazu - und soll das auch nicht -, daß die vom Grundgesetz gebotene Neutralität des Staates in Fragen des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses zugunsten der einen und zu Lasten der anderen Überzeugung geschwächt oder durchbrochen wird. Allerdings verpflichtet solche Neutralität den Staat nicht zur Äquidistanz gegenüber allen religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen (s. Ziff. 49 und öfter). Das verbieten der Respekt vor der Prägekraft des Christentums und die innere Nähe zu ihr, wie sie in der Verfassung zum Ausdruck kommt.
  11. Das Gemeinschaftsgut tragender Überzeugungen und Orientierungen hat gegenüber den christlichen Kirchen einen selbständigen Rang und muß von ihnen auch als kritischer Maßstab gewürdigt werden. Es ist in die Verfassungspraxis des Staates aufgenommen worden und wird dort, oft ohne Kenntnis seiner Herkunft, auch von Nichtchristen akzeptiert. Christen haben weder ein stärkeres Recht als andere noch eine besondere Zuständigkeit, diese Vorstellungen und Überzeugungen zu definieren und weiterzuentwickeln. Das ist Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger gemeinsam, eben weil es um die lebensnotwendigen Voraussetzungen des säkularen Staates geht. In diesem Rahmen sind allerdings Christen gemeinsam durch ihren Glauben dazu aufgerufen, sich um die Pflege und Weiterentwicklung der auf christlicher Grundlage entstandenen gemeinsamen Wertvorstellungen besonders zu bemühen.

4. Kritische Punkte im Blick auf die Verfassung

  1. Eine so geprägte Staats- und Gesellschaftsauffassung und die Glaubensüberzeugungen der Kirchen führen gelegentlich zu Annäherungen, die kritische Fragen nach den Konsequenzen für die staatliche Neutralität auslösen (s. Ziff. 12ff). Solche Fragen wurden zum Beispiel eindringlich zu den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gestellt, die sich Anfang der 90er Jahre mit der Reform des Grundgesetzes beschäftigte. Sollte es bei der "Verantwortung vor Gott" in der Präambel des Grundgesetzes bleiben und warum eigentlich? Streichungsanträge kamen dazu von kirchenfernen Kritikern, die die Formulierung für überholt hielten, aber auch von kirchlich Engagierten, die es als unangemessen erachteten, von Gott an dieser Stelle und in dieser Allgemeinheit zu reden (s. auch Ziff. 11).
  2. Die Mehrheit der Verfassungskommission und auch der gesetzgebenden Gremien hat an der bestehenden Fassung der Präambel festgehalten. Dabei war allen Beteiligten klar, daß es nicht um das Gottesverständnis einer bestimmten Religion oder Konfession oder um den Versuch gehen konnte, das Verfassungsrecht theologisch anzureichern. Bewußt allgemein wurde vielmehr der Bezug auf Gott als Erinnerung daran verstanden, "daß der Mensch nicht allmächtig und nicht die letzte Instanz ist und daß es bei der Normierung einer Verfassung eine besondere Verantwortung gibt." [23]
  3. Ähnliche Auffassungen wurden bei anderen Gelegenheiten zu dem Erziehungsziel der "Ehrfurcht vor Gott" in Verfassungen deutscher Länder geäußert. [24]

5. Verträglichkeit mit der Neutralität des Staates

  1. Es ist absehbar, daß sich zu derartigen, dem Wortlaut nach religiösen Begriffen im staatlichen Recht häufiger als bisher Diskussionsbedarf ergeben wird. Das von Fragestellern und Kritikern mit Grund empfundene Spannungsverhältnis ist durch die vorgetragenen Begründungen nicht rundum befriedigend geklärt.
  2. Eine solche Klärung könnte mit harten Schnitten und Streichungen versucht werden, um eine Trennung von Staat und Religion auch verbal zum Ausdruck zu bringen. Die in den Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts seit 1975 (s. Ziff. 33) vertretene Rechtsauffassung von der zulässigen staatlichen Bejahung des Christentums als prägender Kraft legt eine andere Betrachtung nahe.
  3. Das Gericht hat eine neuartige Gestaltung des staatlichen Umgangs mit dem Christentum nicht beschrieben oder vorschreiben wollen. Es ist vielmehr von tatsächlichen Verhältnissen ausgegangen, in denen christlich geprägte Grundsätze in einer entsprechenden Staatspraxis ihre Beachtung gefunden haben und finden. Hinzugekommen ist durch die Rechtsprechung nur die ausdrückliche Bewertung, daß diese Staatspraxis verfassungsrechtlich zulässig ist.
  4. Ist das so, dann besteht bei aller staatlichen Neutralität ein besonderes Verhältnis zwischen dem Denken und Handeln christlicher Kirchen und ihrer Glieder einerseits und der staatlichen Gemeinschaft andererseits (s. Ziff. 52 und öfter). Es liegt in der Konsequenz jener bis in die Gegenwart hinein und weiter wirksamen Prägung, die sich aus der geschichtlichen Entwicklung der geistigen, ethischen, politischen und rechtlichen Verhältnisse in Deutschland ergeben hat. Ihre Wirkungen auslöschen und für die Zukunft ausschließen zu wollen wäre unsinnig, schädlich und verfassungspolitisch bedenklich.
  5. Mit Spannungspunkten, wie sie am Beispiel des Gottesbezuges in der Präambel des Grundgesetzes sichtbar werden, leben wir in unserer Verfassungsordnung und werden das, mit gelegentlicher zeitgemäßer Verständnisklärung, auch künftig tun. Wir stellen uns der Aufgabe und Herausforderung, daß Öffentlichkeit und Politik sich der Mobilisierung weiterer christlicher Prägekraft nicht widersetzen, sondern deutliche und hilfreiche Beiträge zur Entwicklung ethischer Maßstäbe im Umgang mit schwierigen Gegenwartsfragen von Kirchen und Christen sogar ausdrücklich anfordern. Daß solche Beiträge nicht kirchlichem Machtstreben, sondern dem Bemühen um das Wohl der ganzen Gesellschaft unter Einschluß der Nichtchristen dienen, entspricht den Erwartungen an die Kirchen. Sie nach bestem Vermögen zu erfüllen entspricht dem kirchlichen Auftrag. Dieser Wirkungszusammenhang ist Ausdruck jener geschichtlichen Gegebenheiten, die die Präsenz des Christentums in der Gestaltung des staatlichen Zusammenlebens auch gegenüber Nichtchristen legitimieren und zumutbar machen.

6. Bejahung des Christentums und der besonderen Stellung der christlichen Kirchen

  1. Der Staat des Grundgesetzes und die großen christlichen Kirchen haben in ihren vielen Berührungspunkten und vielfältigen Kontakten Beziehungen zueinander weitergeführt und entwickelt, die von kritischen Beobachtern der religiösen Neutralität des Staates beanstandet werden. Die christlichen Kirchen würden begünstigt und bevorzugt, so lauten die von Zeit zu Zeit geäußerten Einwände. Die Antworten gehen zumeist dahin, daß die tatsächlichen Verhältnisse, die Größe und die gesicherte Verfaßtheit der Kirchen Voraussetzungen für die Beziehungen und Zusammenarbeit schafften, die bei anderen Religionsgemeinschaften nicht in dieser Weise gegeben seien. Auf besondere Inhalte christlichen Glaubens und Bekenntnisses wird dabei nicht abgestellt.
  2. Durch das Neutralitätsprinzip im Licht der zitierten Bewertungen des Bundesverfassungsgerichts wird der Staat nicht daran gehindert, das vor allem in den Kirchen organisierte Christentum besonders zu würdigen, nachdem er doch dessen prägende Kraft durchaus bejaht. Bei dieser Würdigung geht es nicht um die staatliche Unterstützung kirchlicher Bekenntnisäußerungen; für die Vermittlung von Glaubenswahrheiten dürfen staatliche Mittel nicht eingesetzt werden (s. Ziff. 12). Bedenken gegen ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Staat und Kirche sind um so weniger begründet, je weniger dabei Fragen des Glaubens und Bekenntnisses berührt sind.
  3. Es ist keine grundlose Ungleichbehandlung anderer Religionsgemeinschaften oder gar eine Diskriminierung, wenn der Staat in der Gestaltung seiner Zusammenarbeit mit den christlichen Kirchen der Erfahrung Rechnung trägt, daß diese zu seinem Bestand an Werten und zum gedeihlichen Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger unvergleichlich viel beigetragen haben und weiterhin beizutragen bereit sind. Dazu gehören Demokratienähe, der Toleranzgehalt des Christentums (s. Ziff. 35 bis 38 und öfter) und die Verpflichtung auf Freiheit und Gleichheit der Menschen ebenso wie die nachhaltige Förderung und Stärkung der Gemeinschaftsfähigkeit durch die Kirchen. Ohne eine solche kann eine freie Gesellschaft die Kraft für die Erfüllung ihrer Aufgaben und die Bewältigung ihrer Konflikte nicht aufbringen.
  4. Damit sind tatsächliche Gegebenheiten aufgezeigt, die historisch und aktuell bei manchen anderen Religionsgemeinschaften so nicht oder sogar ganz anders vorliegen. Gewiß schließt die für alle geltende Religionsfreiheit das Recht ein, die eigenen Angelegenheiten der jeweiligen Religionsgemeinschaft innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbständig zu regeln. Unter diesem Vorbehalt sind sogar problematische Regelungen und entsprechende Glaubenshaltungen vom Freiheitsrecht geschützt, die zum gedeihlichen Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft nichts beitragen oder es sogar erschweren. Um der Religionsfreiheit willen ist das zu tolerieren. Daß der Staat es aber bei seinem Umgang mit Religionsgemeinschaften vollständig zu ignorieren und, wo es zum Beispiel um Zusammenarbeit geht oder auch um die Verleihung besonderer Organisationsrechte, allen mit der gleichen Aufgeschlossenheit zu begegnen hätte, könnte allenfalls Ausfluß einer Pflicht zu blinder Neutralität sein. Sie ist vom Grundgesetz nicht gewollt. Spätestens die Erfahrungen mit Sekten, die in ihrer Kirchlichkeit wie in ihrer Gemeinwohlverträglichkeit gleichermaßen zweifelhaft sind, haben dafür die Augen geöffnet. [25]
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