Christentum und politische Kultur

Eine Erklärung des Rates der EKD, EKD-Text Nr. 63, 1997

III. Über das Verhältnis des Glaubenszeugnisses der Kirche zu der kulturellen Prägekraft des Christentums in der Gesellschaft

1. Der Verkündigungsauftrag der Kirche

  1. Die Verkündigung der christlichen Kirche will die Herzen der Menschen zum Glauben an das Evangelium bewegen (Mk 1,15), damit sie ihr Gewissen und ihr ganzes Leben durch das Wort Gottes bestimmen lassen, Gottes Geboten folgen und seinem gnädigen Anspruch sich dankbar anvertrauen. Die Verkündigung der Kirche wird immer auch Widerspruch und Protest gegen das Evangelium hervorrufen, doch die Kirche würde ihren Auftrag verraten, wenn sie den Erfolg ihrer Verkündigung durch eine evangeliumswidrige Anpassung an die jeweiligen geschichtlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse erzielen wollte.
  2. Der Auftrag der christlichen Kirche ist es, unbeirrt durch wechselnde geschichtliche Umstände und kulturelle wie politische Zeitlagen das Evangelium zu verkündigen, von dem die Christen aller Zeiten Hilfe im Leben und Sterben erwarten, und zwar nicht nur für sich, sondern für alle Menschen. Das Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18), auf das das sichtbare Zeichen des Kreuzes verweist, ist nach neutestamentlichem Zeugnis das Evangelium von Jesus Christus, "der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt worden ist" (Röm 4,25).
  3. Das Glaubenszeugnis der christlichen Kirche ist in der Welt nicht ohne Echo geblieben. Allerdings ist das Echo zwiespältig. Das Wort vom Kreuz hat immer wieder das Bekenntnis zum Evangelium von Jesus Christus geweckt und wachgehalten. Das Wort vom Kreuz ist aber auch immer wieder auf Ablehnung und Unverständnis gestoßen, wie der Apostel Paulus schon sagt: "Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit (1. Kor 1,23).
  4. Die Bezeugung des Evangeliums durch die Verkündigung der Kirche und durch den gelebten Glauben der Christenmenschen hat vielfältige Wirkungen in der gesellschaftlichen Welt, in den Formen und Gestalten der christlichen Überlieferung des Glaubenszeugnisses, in Denktraditionen und Verhaltensweisen. In dieser Perspektive ist es nicht nur theologisch zulässig und geboten, sondern auch der Sache nach evident, wenn von der Prägekraft des Christentums gesprochen wird, die über die Kirche hinausreicht und zu den Fundamenten gehört, von denen unsere politische und gesellschaftliche Kultur bestimmt ist. Ob es sich allerdings in jedem Fall wirklich um eine noch christlich wirkende Prägekraft handelt, läßt sich nur nach Maßgabe des "Wortes vom Kreuz" beurteilen.

2. Die Verantwortung der Kirche für die Prägung der Kultur

  1. Die Prägekraft des Christentums verweist auf Tiefendimensionen unserer Kultur, die in einer Welt, die sich durch eine hohe Veränderungsdynamik auszeichnet, leicht vergessen und verdeckt werden. Die außerhalb der Kirchenmauern (extra muros ecclesiae) lebendigen Wirkungen des Christentums sollte die Kirche darum konstruktiv begleiten, auch wenn sie nicht in den Formen kirchlichen Handelns auftreten.
  2. Dies gilt besonders auf dem Hintergrund der Erfahrungen dieses Jahrhunderts, in dem staatliche Willkür und gottlose Hybris sich über die Grenzen hinweggesetzt haben, die menschlichem Handeln durch die Anerkennung der in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründenden Würde gezogen sind.
  3. Vieles von dem, was als Konkretion christlicher Alltags- und Festtagskultur im Leben der Gesellschaft lange Zeit präsent war, ist in seiner aktuellen Bedeutung zurückgedrängt worden (s. Ziff. 30) . Manches davon ist lebendig, wird aber im öffentlichen Diskurs bespöttelt, und zwar auch in der Kirche. Der Traditionsabbruch christlicher Kultur, besonders in den neuen Bundesländern, ist unübersehbar und tiefgreifend. Politische Ideologie und staatlicher Zwang haben daran entscheidend mitgewirkt (s. Ziff. 21). Die Verbindungslinien zwischen christlichem Bekenntnis und unserer vom Christentum beeinflußten Kultur können sich verlieren. Die Kirche sollte solche Linien neu knüpfen und sie, wo sie bestehen, erhalten und pflegen. Sie darf sich nicht aus dem öffentlichen Bewußtsein drängen lassen, sondern muß in neuer Weise und auf neuen Wegen ihre Bedeutung für das gesellschaftliche Leben deutlich machen.
  4. Die Erinnerung und Vergegenwärtigung geschichtlicher und kultureller Wirkungen des Christentums soll im Dienste einer heilsamen Aufklärung der Gegenwart geschehen. Dabei kann das Wort vom Kreuz nur dann für die fundamentalen Werte der Kultur in Anspruch genommen werden, wenn das Zeichen des Kreuzes zuerst und vor allem für das Evangelium steht, von dem diese Wirkungen ausgegangen sind und in denen sie ihren ersten, wenn auch oft verdunkelten, Grund haben.

3. Beiträge des Glaubenszeugnisses der Kirche zur Bildung gesellschaftlicher Werte und Grundüberzeugungen

  1. Die öffentliche Bedeutung des christlichen Glaubens bezieht sich insbesondere auf diejenigen gesellschaftlichen Lebenseinstellungen, von denen Grundorientierungen für das persönliche Leben ausgehen. Das Wort vom Kreuz prägt für den christlichen Glauben weiterhin die Werte der Kultur und die Wertungen, die für die Lebensgestaltung des Menschen maßgeblich sind - durchaus auch mit einer "Umwertung aller bisherigen Werte". Die Kirche weiß sich darum für die Deutung der aus dem Christentum hervorgegangenen kulturellen und gesellschaftlichen Werte und Grundüberzeugungen verantwortlich, in denen diese Lebenseinstellungen geformt und praktisch werden.
  2. Das Glaubenszeugnis der Kirche soll die Menschen dazu bewegen, im persönlichen wie im öffentlichen Leben das erste Gebot zu achten und zu befolgen, nämlich, Gott allein die Ehre zu geben.
  3. Das Glaubenszeugnis weist hin auf den als Inbegriff der Versöhnung geglaubten Gekreuzigten, zu dem sich Gott, der Ursprung allen Lebens, bekannt hat. Die Ohnmacht des Gekreuzigten zeigt, was in Wahrheit Macht und Allmacht genannt zu werden verdient, nämlich die unsere Verfehlungen und unsere Schuld erlösende und dadurch tilgende Allmacht der Liebe.
  4. Das Kreuz ist im christlichen Glauben und durch das Christentum zum Symbol helfender Liebe geworden. Es zeigt uns, daß wir allemal hilfsbedürftige Menschen sind und daß es für hilfsbedürftige Menschen Hilfe gibt.
  5. Im Kern sind es unverändert solche Kriterien, die auch heute den Respekt vor der Prägekraft des Christentums begründen. Von dieser Kraft leben auch der von der Kirche klar unterschiedene Staat und die von ihm geschützte pluralistische Gesellschaft. Sie gehört zu den Voraussetzungen, ohne die Staat und Gesellschaft ihre eigenen Aufgaben und Ziele nicht erfüllen und verfolgen können (s. Ziff. 33).
  6. Die Kirche wendet sich mit ihrer Mission an alle Menschen, damit das Zeugnis des Evangeliums in das Leben der Menschen in Familie, Gesellschaft und Staat einwirkt. Auch wenn sich die Kirche an den Quellen des Glaubens orientiert und aus ihnen lebt, weiß sie doch zu schätzen, was an alltäglichen und festtäglichen Traditionen, an Sitte und Konvention, an persönlicher Überzeugung und Freiheitsbewußtsein, an Bindungsfähigkeit und Verantwortungsgefühl auf die vielfältigen kulturellen Prägungen des Christentums zurückgeht (s. Ziff. 61). Und genauso wertvoll ist, was an weltlichen Lebenserfahrungen, was insbesondere an Erfahrungen von Mitmenschlichkeit, die auch aus anderen ins Christentum eingegangenen und von ihm übermittelten Quellen entspringt, zu diesen christlichen Lebenseinstellungen hinzugetreten ist und so zum Ganzen unserer Kultur gehört.
  7. Die Kirche weiß, daß sie nicht unmittelbar identisch ist mit der Gemeinschaft der Gläubigen. Ebenso gilt für die vielfältigen Formen und Traditionen des Christentums in der Gesellschaft, daß sie nicht ohne weiteres, sondern nur durch die ihnen zugrundeliegenden Glaubens- und Wertüberzeugungen Bedeutung für das persönliche und gesellschaftliche Leben gewonnen haben. Zur kulturellen Prägekraft des Christentums gehört die Vielzahl alltäglicher Bezüge, die dem praktischen Lebensvollzug Stetigkeit und Orientierung geben, auch wo sie nicht den Charakter des ausdrücklichen Glaubenszeugnisses haben. Die Verkündigung des Evangeliums ist der immer neue Ursprung all dessen, woraus die Traditionen des Christentums sich erneuern. Darum kann und soll das Zeugnis der Kirche in Gestalten der sichtbaren Kirche und der menschlichen Traditionen ausgerichtet und vermittelt werden, auch wenn es nicht an diese gebunden und durch sie letztlich bestimmt ist.

4. Pluralismus und Toleranz

  1. Ob die Mitglieder einer christlichen Kirche in der Gesellschaft eine Mehrheit bilden oder eine Minderheit, ist zwar für die Bedeutung des Christentums als Prägekraft der Kultur von Belang. Doch die an alle Menschen sich richtende Verkündigung der Kirche wird hier und dort dieselbe Wahrheit verkündigen: die Wahrheit, die frei macht (Joh 8,32). Der Wahrheitsanspruch des Evangeliums will von sich aus Menschen überzeugen, er kann und will schlechterdings nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Nicht mit menschlicher Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort (26) hat die Kirche den Wahrheitsanspruch des Evangeliums zur Geltung zu bringen. Darum ist die schon genannte Unterscheidung der Kirche vom Staat und seinen äußeren Zwangsmitteln auch in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung (s. Ziff. 67). Toleranz ist allen christlichen Kirchen geboten. Toleranz ist im Verhältnis zwischen den Konfessionen, sie ist aber in einer vom Christentum geprägten Gesellschaft auch im Verhältnis der Mehrheiten gegenüber Minderheiten und im Umgang von Minderheiten untereinander zwingend geboten. Toleranz als Abwesenheit von Zwang und als ausdrücklicher Verzicht auf Zwang und Gewalt ist allerdings mehr und anderes als die Beliebigkeit, die alles - also auch die Intoleranz! - gelten läßt (s. Ziff. 31). Im Willen zu einer Toleranz, die, ohne Preisgabe des eigenen Standpunktes, die Identität eines jeden achtet und fördert, vereinen sich die christliche Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen und die Höchstschätzung der Würde der menschlichen Person, die die praktische Vernunft für unantastbar erklärt.
  2. Diese für den demokratischen Rechtsstaat und die demokratische Gesellschaft grundlegenden Werte speisen sich aus verschiedenen Traditionen, mit denen auch unterschiedliche Begründungen für diese Werte verbunden sind. Diese Unterschiede können im Konfliktfall von größter Bedeutung sein. Wird die Menschenwürde allein und nur aus der Vernunftnatur des Menschen begründet, könnte die Anerkennung der Menschenwürde auf die Fähigkeit zu aktiver Vernunftbetätigung begrenzt gelten. Wird die Menschenwürde dagegen begründet im Geschaffensein des Menschen von Gott und in der Anrede des Geschöpfes durch den Schöpfer, so ist darin die Vernunftnatur des Menschen eingeschlossen, die Anerkennung und der Schutz der Würde des Menschen aber umfassender begründet.
  3. Auch in einer pluralistischen Gesellschaft hat die Kirche deshalb "die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk". [27] Was die Bekennende Kirche im Dritten Reich in ihrer Theologischen Erklärung von Barmen (Barmen VI) geltend gemacht hat, das gehört auch heute zum Kern des christlichen Selbstverständnisses: Gottes Wort geht die einzelne Person und die Gesellschaft gleichermaßen unmittelbar an.
  4. Der Staat hat keine Macht über Glauben und Gewissen und soll darum auch nicht versuchen, Glaube und Gewissen zu beherrschen und sich willfährig zu machen. "Erst die Unterscheidung zwischen dem Auftrag der Kirche und dem Auftrag des Staates erlaubt und ermöglicht eine positive Beziehung zwischen beiden ... Weil die demokratische Staatsform sich selbst solche Grenzen als verbindlich setzt, kann und soll eine positive Beziehung von Staat und Kirche in der Demokratie auch konkret wahrgenommen und gestaltet werden". [28]
  5. Toleranz und Pluralismus sind gleichsam kulturelle Geschwister. Aber Toleranz wie Pluralismus gedeihen nur, wenn - statt alles in einer unklaren Schwebe zu lassen oder alles für gleich gültig zu halten - das charakteristische Profil von Personen, Gruppen und Institutionen zur Geltung kommen kann (s. Ziff. 70). Die Kirche verkündigt das Wort vom Kreuz, als Evangelium und zugleich als Verpflichtung zur Toleranz, die den anderen - auch als Last - erträgt. Wenn sie dabei klar und eindeutig redet, beeinträchtigt das den Pluralismus in der Gesellschaft nicht, es belebt und stärkt ihn. Daß ihr Wort gehört wird, kann sie nicht erzwingen und schon gar nicht mit fremder Hilfe erzwingen wollen. Doch auch einer pluralistischen Gesellschaft, deren plurale Freiheiten durch den demokratischen Rechtsstaat geschützt werden, sollte einleuchten, daß die Kirche die Prägekraft des Christentums, die zum Zusammenhalt von Gesellschaft und Staat beiträgt, an dem mißt, worin die christliche Überlieferung ihren bleibenden Grund hat: am Gebot Gottes und am Evangelium von Jesus Christus.
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