"Das Evangelium muss laufen." - Ein Leben für die Verkündigung

Jürgen Schmude

Berlin, Gedenkveranstaltung für Bischof D. Dr. Herrmann Kunst

Sich an Bischof Hermann Kunst zu erinnern, heißt auf ein reiches Leben zurückzublicken. Reich an guten Gedanken und an Arbeit, reich an Erfolgen, reich an Jahren. Sein Alter brachte es mit sich, dass er mehr Jubiläen feiern konnte, als es den meisten sonst vergönnt ist. Zu seinem sechzigsten, seinem siebzigsten, dem fünfundsiebzigsten und achtzigsten, wohl auch dem fünfundachtzigsten und jedenfalls dem neunzigsten Geburtstag gab es Festveranstaltungen mit gehaltvollen Reden. Festschriften wurden vorgelegt. Sie ergänzten das umfangreiche und bemerkenswerte Schrifttum, das aus der eigenen Feder von Hermann Kunst stammte oder von ihm herausgegeben worden war.

Man könnte meinen, es ist alles gesagt und noch viel mehr geschrieben. Was kann noch hinzukommen? Warum ein Jahr nach dem Tod dieses berühmten und geschätzten Mannes noch eine Gedenkveranstaltung mit weiteren Reden?

Dafür gäbe es gute Gründe, selbst wenn seine Geschichte mit der Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres und seinem damaligen Ausscheiden aus dem Amt des Bevollmächtigten der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der EG geendet hätte. Erwartungsgemäß aber endete sein Dienst für Kirche und Staat damals nicht. Bis in sein höchstes Alter blieb er tätig: in Ehrenämtern, in der aufmerksamen Verfolgung der Geschehnisse und in der Beratung derjenigen, die mit seiner Hinterlassenschaft weiter arbeiteten. Sein Rat war geschätzt ,er wurde erbeten.

Da mag man erwägen, ob es uns nicht Dankbarkeit und Respekt gebieten, auch noch einmal nach Jahresfrist auf diese überragende Persönlichkeit des deutschen Protestantismus und ihr Werk zurückzublicken. Gewiss, aber ebenso sehr handeln wir dabei im eigenen Interesse.

Es lohnt sich, besser zu verstehen und bewusst zu nutzen, was er angeschafft und eingerichtet hat. Es hilft uns beim sorgsamen Umgang mit den von ihm eröffneten Wirkungsmöglichkeiten, den Sinn dieser Errungenschaften zu bedenken und die Risiken, unter denen sie stehen. Es ist lehrreich, sich an die Rolle dieses Kirchenmannes in und mit der Politik genauer zu erinnern. Wenige in vergleichbarer Lage schaffen es, die Balance in diesem Spannungsfeld mit solchem Augenmaß zu halten, wie er es stets bewiesen hat. Man kann sich, wenn man es denn schafft, ein Beispiel an ihm nehmen, auch heute noch.

Vor zehn Jahren, Anfang September 1990 ließ sich Bischof Hermann Kunst von mir über die Arbeit an der Zusammenführung des Bundes der Kirchen in der DDR und der damals noch westlichen Evangelische Kirche in Deutschland berichten. Darin gab es, wie auch sonst im Wiedervereinigungsgeschehen, eine nahezu unübersehbare Fülle an Gesichtspunkten, Fragen und Problemen. Durch alles das hindurch nahm er das Wesentliche wahr und formulierte es so klar und eindringlich, dass ich es mir sogleich nach dem Gespräch wörtlich notierte. Die Notiz erschien mir von vornherein als wertvolles Zeitzeugnis, so dass ich sie mir gut aufgehoben habe.

In meine Beschäftigung mit allerlei großen und kleinen Einzelfragen hinein gab er den dringenden Rat, wir sollten uns als Kirchenleute nicht zu lange mit uns selbst beschäftigen. Diesen Fehler habe man nach 1945 schon einmal gemacht. Sondern: "Das Evangelium muss laufen!" Das stand für ihn an erster Stelle. Damals, im September 1990, und in der ganzen Zeit seines Lebens. Um organisatorische Arbeit und politische Aufgaben konnte er sich wahrlich kümmern. Aber: "Der wichtigste Beitrag der Kirche für die Politik ist der gesunde Gottesdienst." Darin müsse mutig das Evangelium gepredigt werden. "Das braucht die Welt."

In dieser festen Überzeugung hat er sich früh für den Beruf des Pastors entschieden und ist ihm - gegen alle Versuchungen durch andere Möglichkeiten und Angebote - treu geblieben. Dieser Berufung ist er gefolgt in der Gemeinde, als Kriegspfarrer, als Superintendent und in der westfälischen Kirchenleitung. Pastor ist er geblieben in den 28 Jahren als Bevollmächtigter der EKD in Bonn, in 16 Jahren Dienst als Evangelischer Militärbischof und in zahlreichen neben- und ehrenamtlichen Funktionen.

Weil er Pastor bleiben wollte, konnten die Angebote politischer und anderer Leitungsämter ihn nicht locken. Bei seiner Verabschiedung als Bevollmächtigter bestätigte ihm Bundeskanzler Helmut Schmidt: "Er ist zwar aus dem Amte geschieden, aber Pastor, so denke ich, Pastor, als den er sich immer verstanden hat, Pastor wird er bleiben."

Dieser Bischof, dieser einflussreiche Freund und Gesprächspartner der Spitzenpolitiker über Jahrzehnte hin, ein Pastor? Hat er sich eine Rolle zugelegt, die ihm den Anschein der Bescheidenheit geben sollte? Man nannte ihn doch Diplomat im Lutherrock, protestantischer Nuntius, Fürstbischof und vieles andere mehr.

Nein, es war keine Rolle. Es war sein Leben, sein Leben für die Verkündigung. Schon seine Leistungen, seine Erfolge und sein Einfluss konnten ihm hohes Ansehen einbringen. Das einzigartige, zuverlässige Vertrauen aber, das er rundum fand, galt dem Seelsorger, dem Pastor der Politiker. Es galt dem Mann, der zuhörte, der stärkenden Zuspruch gab und der ganz gewiss für die Menschen in der verantwortlichen Arbeit gebetet hat. Das war und blieb das Wichtigste. So habe ich es mit ihm erlebt.

Auf dieser Grundlage dann konnte er Dinge bewegen, konnte aktiv helfen und gestalten. Er konnte tun, was Bischof Lilje einmal die "Fortsetzung der Verkündigung mit anderen Mitteln" genannt hat.

Und er wollte das tun. Es musste ein neues Verhältnis zwischen Kirche und Staat und einen neuen Umgang der Kirche mit der politischen Verantwortung geben. Genau dieser Aufgabe wollte sich der Pastor Hermann Kunst stellen, nicht andern. Eben deshalb verweigerte er sich dem Ruf in andere kirchliche Ämter, z.B. das eines Landesbischofs.

"Ich persönlich habe das Aussprechen des Schuldbekenntnisses (- von Stuttgart 1945 - ) gemeinsam mit meinen Brüdern wie eine Befreiung empfunden", sagte er. Nun müsse man als Kirche aber auch bereit sein, wirklich einen neuen Weg zu gehen. An ihm wollte er in Bonn arbeiten.

Er hat es getan, und zwar mit weitreichenden Erfolgen, die uns auch heute tagtäglich zugute kommen, ob uns das nun bewusst ist oder nicht. Gewiss, das Amt des Bevollmächtigten, für das es bis dahin kein Vorbild gab, hat er bleibend geprägt. Aber entscheidend war die von ihm entwickelte und durchgesetzte Partnerschaft eigener Art zwischen Staat und Kirche, die man außerhalb Deutschlands so nirgends findet. Sie ist vortrefflich gelungen, sie hat sich bewährt.

Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, die klare Unterscheidung der staatlichen und kirchlichen Aufgaben, ? dazu gab es für Hermann Kunst nach seinen Erfahrungen als Mann der Bekennenden Kirche keine Alternative, darin gab es auch keine Kompromisse. Und auch das war die von ihm geltend gemachte Konsequenz seiner Erfahrungen in der Diktatur: dass der Staat sich beschränken und den freien Kräften der Gesellschaft, zumal den kirchlichen, die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben überlassen sollte. So ist es, zumal im sozialen Bereich, inzwischen bewährte deutsche Praxis.

Dazu braucht man rechtliche Regelungen, grundsätzlicher Art und weitreichender Wirkung. Man kann sie in Verhandlungen herbeiführen. Sachkunde und diplomatisches Geschick sind dabei nicht fehl am Platze. Bischof Kunst wusste noch etwas darüber hinaus einzusetzen: das Vertrauen, das man ihm von allen Seiten entgegen brachte. Es machte vertrauensvolle und vertrauliche Gespräche möglich, in denen sich erreichen ließ, was sonst vielleicht in umständlichen Prozeduren oder gar nicht geschafft worden wäre.

Die politischen Gesprächspartner wussten und erlebten immer wieder, dass sie da einem Mann und einer von ihm vertretenen Kirche begegneten, die die politische Arbeit kannten und ernst nahmen. Das wurde in den gehaltvollen Beiträgen deutlich, die Kunst selbst und, von ihm angestoßen und begleitet, die Kirche leisteten. Darunter sei besonders das von Kunst mit Grundmann Schneemelcher und Herzog herausgegebene "Evangelische Staatslexikon" hervorgehoben. Dieses, so die Herausgeber, "Zeugnis eines in evangelischer Freiheit vollzogenen Ringens und Strebens um einen Beitrag zur Lösung der Fragen unserer Zeit in Kirche und Staat" ist auf lebhaftes Interesse gestoßen und liegt inzwischen in seiner dritten Auflage vor.

"Die Kirche soll in den großen Entscheidungsfragen der Gesellschaft nach Möglichkeit klare und eindeutige Orientierungspunkte angeben", heißt es in der Demokratiedenkschrift der EKD von 1985, die auf den Erfahrungen dieses Bischofs aufbaute. Er hatte diese Orientierungsaufgabe längst erkannt und sich ihr immer wieder gewidmet. So ist die Ostdenkschrift der EKD von 1965 entstanden, die mit ihrer Empfehlung, die Versöhnung allen Gebietsansprüchen im Osten überzuordnen, zunächst für ungeheuren Aufruhr sorgte. Vorbereitet worden war dieser Vorschlag durch das von Kunst angeregte und in der Entstehung begleitete "Tübinger Memorandum", das namhafte Wissenschaftler 1961 vorstellten und für dessen Verbreitung Kunst sorgte.

Die Kirche müsse die Dinge ihrer Sicht gemäß aussprechen, dann aber auch Kritik aushalten, meinte Kunst einmal im Rückblick auf die Reaktionen zur Ostdenkschrift. Er selbst hat beherzt Kritik auf sich genommen und ausgehalten als er mit anderen 1970 die Studie "Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung" mit handfester Kritik am damaligen rechtspolitischen Reformprozess veröffentlichte. In der Tagung der EKD-Synode im Februar 1971 hat er die Kritik an diesem Werk mit einer ausführlichen Erklärung beantwortet, in der er eine Reihe von Angriffen zu entkräften versuchte, im übrigen aber feststellt:" Wir haben in dieser Sache nichts anderes gewollt, als unser Amt als Pastoren wahrnehmen. Freilich, das haben wir dann auch gewollt." Erneut also der Pastor, aber nicht nur im freundlichen Zuhören und Zureden, sondern auch in der Bereitschaft mit seinen Mahnungen Anstoß zu erregen.

Ausschließlichkeitsansprüche erhob er damit nicht. "Es gibt eine Politik von Christen, aber keine christliche Politik", sagte er dazu. Und so sehr er wohl in mancher Hinsicht ein Konservativer war, so sehr schätzten sie ihn auf allen Seiten: Adenauer, Heinemann, Heuss, Gerstenmaier, Helmut Schmidt, Richard v. Weizsäcker, Roman Herzog und viele andere mehr. Zum sechzigsten Geburtstag Herbert Wehners schrieb Kunst auf Einladung von Willy Brandt einen offiziellen Glückwunschartikel in der Parteizeitung "Vorwärts".

Nein, da war nicht jemand besonders geschickt. Da spielte er nicht eine überzeugende Rolle. Da war ein Mann als Pastor durch und durch glaubwürdig. So wurde er von ganz unterschiedlichen Politikern akzeptiert und geschätzt, auch als Freund.

An Herbert Wehner habe ihn besonders beeindruckt, sagte Hermann Kunst, dass dieser sich in rührender Weise einzelner Schicksale angenommen habe. Er habe sich für Menschen in persönlichen Schwierigkeiten eingesetzt.

Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Kunst mit dieser Schilderung zeigte, was ihm selbst besonders wichtig war. Er handelte danach in einem Bereich, zu dem er besonders verschwiegen war: dort nämlich, wo die Teilung Deutschlands Menschen in Not gebracht hatte. Eine Ahnung davon habe ich selbst Mitte der 60er Jahre bekommen, als ich meine eigene Familienzusammenführung in eine Liste des Bischofs eintragen ließ.

Da hatte er bereits reiche Erfahrung und viele schöne Erfolge in der Hilfe für bedrängte Menschen. "Menschen sind wichtiger als Geld", war seine Devise, aber nur mit Geld konnten die Machthaber in der DDR bewegt werden, Häftlinge freizulassen und getrennten Familienangehörigen die Ausreise zu ermöglichen. Wie Hermann Kunst diesen Zusammenhang sofort in seiner Tragweite begriff und die finanziellen und politischen Wege zur Lösung von immer neuen Problemfällen ebnete, dazu gibt es inzwischen viele Zeugnisse in Büchern über die damalige Zeit. Sie zeigen, dass er es war, der dem Freikauf von Menschen in Bonn Bahn gebrochen hat. Sein Vertrauen bei den Politikern, sein Geschick und seine Unerschrockenheit gegenüber der Zumutung bis dahin undenkbarer Wege und Mittel kamen ihm dabei zustatten. Sein politisches Gespür und seine Weitsicht haben ihn dabei mit völliger Sicherheit erkennen lassen, dass er nicht nur unzähligen Menschen aus bitterster Not geholfen, sondern auch einen nachhaltigen Prozess zur Veränderung des politischen Systems der DDR in Gang gesetzt hatte.

Wie Hermann Kunst evangelische Bischöfe und andere Kirchenleute in der DDR besucht, mit gutem Zuspruch gestärkt und mit reichhaltigen Mitbringseln erfreut hat, darüber gibt es farbige Geschichten. Sie behandeln nur einen Teil seiner Bemühungen, den Kirchen und Gemeinden im kommunistisch beherrschten Teil Deutschlands kräftige Hilfe, gerade auch in materieller Hinsicht, zukommen zu lassen. Er hat damit ein wichtiges Stück der "besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland" verwirklicht, die später durch die Kirchenverfassungen in Ost und West bekräftigt worden ist und sich als Klammer zwischen den Menschen im geteilten Deutschland erwiesen hat. In der Zeit der harten und härter werdenden Teilung des Landes hat er so an der Einheit gearbeitet und sie vorbereitet.

Seine Wege dabei waren in mannigfacher Weise ungewöhnlich. Ein erhebliches Ansehen hatte er offenbar auch bei politisch wichtigen Personen in der DDR. Er wusste es zu nutzen. Später berichtete er, wie er zum Adressaten eines Wutausbruchs von Herbert Wehner geworden war. Er hatte ihm nach einem DDR-Besuch erzählt, was die dortige Regierung von Wehners Ernennung zum Gesamtdeutschen Minister hielt. Solche Kenntnisse über die Ansichten und Absichten der DDR-Regierung hatte Kunst und hielt damit in den Sitzungen des Rates und der Kirchenkonferenz der EKD (im Westen) nicht zurück. Seine Berichte und Analysen wurden mit großem Interesse gehört. Sie waren plausibel und erwiesen sich als richtig.

Wenn es um Erleichterungen für die Menschen und den Zusammenhalt der Deutschen in ihrem geteilten Land ging, scheute Hermann Kunst vermutlich auch vor ungewöhnlichen Kontakten nicht zurück. Es möge, meinte Bundespräsident Roman Herzog in seiner Glückwunschrede zum neunzigsten Geburtstag des Bischofs, "um der Sache willen dabei auch zu Grenzüberschreitungen gekommen sein, die sich nicht auf das Geographische beschränkten." Ein bekanntes Nachrichtenmagazin brachte 1996 eine Notiz über angebliche Begegnungen des Bischofs mit Leuten vom Staatssicherheitsdienst. Kunst selbst habe dazu gesagt, als ein Pastor spreche er mit jedem.

1994 war so etwas noch ein heißeres Thema als heute, und die Bloßstellung eines evangelischen Bischofs aus dem Westen hätte für Journalisten eine reizvolle Aufgabe sein können. Sie war und wurde es nicht. Die Notiz blieb folgenlos. Die Kraft des Vertrauens und der Verehrung für Hermann Kunst bei Menschen in allen Lebensbereichen bewirkte es, dass an seiner Redlichkeit kein Zweifel aufkommen konnte und zweifelnde Fragen oder Bemerkungen von keiner Seite und in keiner Form zu hören waren. Das Thema war weg, ehe es eins werden konnte.

Dieser eindrucksvolle Vertrauensbeweis war vollauf gerechtfertigt. Die ihn erbrachten, wussten es, anderen hat man es bedeutet. Wichtigen Entscheidungsträgern und vielen Betroffenen war die segensreiche Hilfstätigkeit des Bischofs bekannt. Und sicher waren sie sich auch, in ihm einen Christen und Patrioten vor sich zu haben. Aus dem was deutsch ist und als deutsch zusammengehört, habe er nie einen Hehl gemacht, sagte Bundespräsident von Weizsäcker zu seinem achtzigsten Geburtstag. Und sein Nachfolger Heinz-Georg Binder erinnert sich an seine gelegentliche Reaktion bei Gesprächen über die deutsche Wiedervereinigung, damals, als sie noch nicht in Sicht war. Dann habe er in eine weite Ferne geguckt und nur einen Satz gesagt: "Blut ist dicker als Wasser". Schön, dass er es noch ausgiebig miterleben konnte, wie Recht er gehabt hatte.

Als Brückenbauer und hilfreicher Grenzgänger in der Zeit der Teilung Deutschlands konnte Hermann Kunst wirken, obwohl er Ende der fünfziger Jahre durch sein Engagement für die Militärseelsorge die DDR-Machthaber verärgert hatte. Das wird er ruhig in Kauf genommen haben. Von der Unerlässlichkeit, Militärseelsorge vorzusehen und die Möglichkeit dafür zu sichern, war er jedenfalls überzeugt.

Er hat den Militärseelsorgevertrag ausgehandelt, er wurde 1956 für 16 Jahre evangelischer Militärbischof. Unsere heutige Militärseelsorge ist im wesentlichen sein Werk.

Wenn wir überlegen, wie mit ihr umzugehen ist, kommen wir nicht daran vorbei, uns seine Fragen zu stellen.

Bei der kirchlichen Orientierung für Politiker und Soldaten an die klassische Lehre vom gerechten Krieg anzuknüpfen, das hat schon Hermann Kunst abgelehnt. Um die Sicherung des Friedens und die Vermeidung des Krieges musste es gehen. Das ist unter Würdigung der schwierigen Fragen eines möglichen atomaren Krieges die Aussage der sog. Heidelberger Thesen von 1959, die von einer besonderen Kommission auf seine Veranlassung und unter seiner Mithilfe formuliert wurden. Diesen Thesen folgte 1981 die Friedensdenkschrift der EKD, ebenfalls unter Mitwirkung von Hermann Kunst erarbeitet.

War der Frieden das Ziel, dann konnte - und kann - man unterschiedlicher Auffassung über die Wege zu seiner Sicherung sein. Die Meinungsunterschiede durften - und dürfen - nicht in die besondere oder gar alleinige Verantwortung der Soldaten gestellt werden. "Sagen wir, dass man heute nicht mehr mit getröstetem Gewissen Soldat sein kann, müssen wir unter allen Umständen vorher auf das entschiedenste sagen, dass man heute als Christ kein Staatsmann und wohl auch kein Beamter mehr sein kann." Darauf wies Hermann Kunst die Synode der EKD hin.

Und jedenfalls: Den Soldaten, die unter der Verantwortung demokratisch gewählter Politiker ihren Dienst tun, schuldet die Kirche Seelsorge. Das hat er geltend gemacht, das ist heute allgemein anerkannt.

Die Seelsorge muss in völliger Unabhängigkeit der Kirche von staatlichen Einflüssen ausgeübt werden. Auch das eine kompromisslose Forderung von Kunst, deren Erfüllung er in der von ihm ausgehandelten und eingerichteten Militärseelsorge gewährleistet sah. Ob die Form völlig angemessen ist oder nicht, darüber wird auch heute noch diskutiert. In der Zwischenzeit aber haben Prüfungen und kritische Betrachtungen immer nur zu dem Ergebnis geführt, dass Kunsts Erwartung der völlig unabhängigen Seelsorge an Soldaten erfüllt worden ist. Die Befürchtung, das werde nicht gelingen, mochte man zu seiner Zeit vielleicht haben. Heute ist sie vollständig entkräftet.

Und dass der Dienst der Militärseelsorge in einem sicheren Rahmen unter auskömmlichen Bedingungen stattfindet, war das Anliegen von Herrmann Kunst. Auch dieses Ziel ist erreicht. Und wie immer man über Veränderungen des rechtlichen Rahmens nachdenkt: eine Verschlechterung der rechtlichen und sachlichen Bedingungen sollte ebenso wenig in Kauf genommen werden wie eine Rückkehr des Zweifels, ob denn wohl die Kirche die Soldaten als Gemeindeglieder akzeptiere.

"Was soll denn an die Stelle treten?" , hat Kunst der Forderung nach Aufhebung des Militärseelsorgevertrages entgegengehalten. Und hinzugesetzt: "Uns ist nichts Besseres eingefallen als das, was dann Gesetz geworden ist." Damit hat er die Fragen auch für unsere aktuelle Arbeit gestellt. Was soll an die Stelle treten? Fällt uns wirklich etwas Besseres ein?

Neuland hat Hermann Kunst auch bei der Entwicklungshilfe betreten. Das sollten wir nicht ganz vergessen, auch wenn uns da seine Hinterlassenschaft inzwischen ganz selbstverständlich geworden ist.

Gewiss, die Kirchen unterhielten ökumenische Beziehungen in die meisten der Länder, die heute Entwicklungshilfeempfänger sind. Aber war es recht, diese Wege zu nutzen, um staatliches Geld zur kirchlichen Hilfe für die Armen zu verwenden? Kunst sah die Möglichkeit, die Hilfe wirksam zu leisten, Menschen aus ihrer Not zu befreien. Die damals in kirchlichen Kreisen bestehenden Skrupel gegen die Kooperation mit dem Staat waren ihm weniger wichtig. So hat er die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe zustandegebracht und dann auch von 1962 bis 1978 geleitet. Probleme haben sich dabei aus der Nutzung staatlicher Geldmittel nicht ergeben, wohl aber reichliche Hilfsmöglichkeiten.

Dass die Verkündigung in der Lebenswirklichkeit, und das heißt im Verhalten der Verkündiger, ihre "konkrete Gestalt" finden müsse, war für Hermann Kunst selbstverständlich. In der verbreiteten Not der Nachkriegszeit, von der wir heute kaum mehr Vorstellungen haben, hieß das, auf Elend und Hilfsbedürftigkeit in weiten Teilen der Bevölkerung mehr als nur verbale Antworten zu geben. Für Kunst hieß es, in seiner Weise als Pastor nämlich und durchaus politisch wirksam, am Aufbau des neuen Staates kräftig mitzuwirken. Und eine ganze neue Stadt hat er gemeinsam mit anderen aufgebaut, um das Elend der Ostflüchtlinge etwas zu mindern, indem er ihnen eine neue Heimat verschaffte. Die Stadt Espelkamp im östlichen Westfalen ist so entstanden und hat sich bei Hermann Kunst für seine Aufbauleistungen mit der Verleihung der Ehrenbürgerschaft bedankt.

Ehrungen übrigens sind Hermann Kunst auf hohem Niveau und in reicher Zahl zuteil geworden. Mit höchsten Orden wurde er ausgezeichnet, mehrfach zum Ehrendoktor promoviert und zum Ehrenvorsitzenden oder Ehrenmitglied angesehener Institutionen berufen.

Die Ehrungen für ihn waren weit mehr als Zierrat oder gar schöner Schein. Es stand stets etwas dahinter: wirkungsvolle Hilfe, Aufbau- und andere Leistungen, qualifizierte wissenschaftliche Arbeit. Die Ehrungen für Hermann Kunst sind somit nicht nur als Auszeichnungen, sondern auch als Quittungen zu sehen. Handfeste und wichtige Arbeit ist mit ihnen quittiert worden, fast wie auf dem Stundenzettel, der Handwerkern ausgestellt wird.

Eine besondere "Quittung" dieser Art ist der Preis "Augsburger Friedensfest", dessen erster Träger Hermann Kunst 1985 wurde. Anlass dieser Preisverleihung "für besondere Leistungen zur Förderung interkonfessioneller Gemeinsamkeiten" war die Arbeit des von Hermann Kunst gemeinsam mit Kardinal Volk geleiteten ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen an dem Studienprojekt "Die Verwerfungen des 16. Jahrhunderts". Unter dem Titel "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?", wurden die Ergebnisse etwas später vorgestellt.

Neben dem besonderen Anlass würdigte das Preisgremium die jahrzehntelange ökumenische Einstellung und Praxis von Hermann Kunst. Er hatte stets für gutes Einvernehmen, Offenheit und soweit wie möglich Gemeinsamkeit in der Arbeit mit seinen jeweiligen römisch-katholischen Amtsbrüdern gesorgt. Der Vertretung der kirchlichen Interessen bei der Neugestaltung des demokratischen Staates nach 1949 war das gut bekommen.

Wie sehr Kunst in der katholischen Kirche geschätzt wurde, machte der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, in einer Ansprache zum fünfundachtzigsten Geburtstag von Hermann Kunst deutlich. Er rühmte die Bereitschaft des Jubilars, den kirchlichen Horizont ökumenisch und geographisch weit zu spannen.

Schon 1966 hatte Kunst als erster evangelischer Bischof Gelegenheit, auf dem Bamberger Katholikentag über das Thema: "Der Katholizismus nach dem Konzil in evangelischer Sicht.", zu sprechen.

Wichtig war es ihm stets, neben der gemeinsamen Praxis auch der gemeinsamen theologischen Arbeit Aufmerksamkeit und Kraft zu widmen. Es gehe in der christlichen Kirche um die Frage nach der Wahrheit, die man sich nicht leicht machen dürfe. Auf dem Hintergrund dieser Überzeugung hat er 16 Jahre lang als einer der beiden Vorsitzenden den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen geleitet.

Roman Herzog hat ihm zum neunzigsten Geburtstag bescheinigt, auch durch sein vielfältiges Wirken sei Deutschland zu einem Pionierland der Ökumene geworden. Und er selbst stellte dankbar fest, es habe sich sehr viel in der katholischen Kirche geändert. Wir, die Evangelischen, nähmen teil an allem, was die katholischen Brüder täten. Wir müssten uns gegenseitig hinterfragen und hinterfragen lassen.

Dass "sein Werk", die Studie zu den Lehrverurteilungen, nicht befördert werden, sondern in den Hintergrund treten würde, hat er bei der Vorlage wohl nicht erwartet. Es wäre gut und hilfreich, ihn noch im Vollbesitz seiner damaligen Kräfte bei uns zu haben und befragen zu können zur zwischenzeitlichen Entwicklung bis hin zur jüngsten Erklärung der Glaubenskongregation. Seine Weitsicht und seine Erfahrung hätten ihn vielleicht zu einer Stellungnahme gebracht, die wir so in der aktuellen Diskussion nicht gehört haben.

Als Ökumeniker hat er sich sehr früh auch der Orthodoxen Kirche zugewandt und bei ihrem Aufbau in der Bundesrepublik Deutschland brüderlich Hilfe geleistet. Das ist dort mit großem Dank - und ebenfalls mit den schon erwähnten "Arbeitsquittungen" aufgenommen worden. "Ökumene" so sagte er, "kommt nur dann voran, wenn nicht nur Rom und Genf an einem Tisch sitzen, sondern Konstantinopel mit hinzukommt."

Er hatte Recht, das zu betonen. Es gerät uns zu leicht aus dem Blick. Gute Möglichkeiten zur Begegnung und auch zur gemeinsamen theologischen Arbeit bestehen. Das Lebenswerk von Hermann Kunst sollte uns Ansporn sein, sie zu nutzen.

Die Lage seiner eigenen Kirche sah Hermann Kunst nüchtern, in mancher Hinsicht bedauernd, in anderer kritisch. Die Wirkung der Säkularisation machte ihm Sorgen. Aber Bestand und Zukunft der Christenheit, so sagt er, haben zunächst gar nicht mit Privilegien und messbarem Wachstum ihrer Gliederzahl zu tun. Sie habe ihre Zukunft durch den, der ihr den Weg vorangehe, nämlich Jesus Christus selber.

Die Unvollkommenheit seiner Kirche war ihm bewusst. Und dass man sie schon mal besser darstellen muss als sie wirklich ist, akzeptierte er gern. Als sein zweiter Nachfolger, Bischof Hartmut Löwe da im Einzelfall Schwierigkeiten sah, erhielt er von Kunst die aufmunternde Belehrung: "Das will ich Ihnen sagen, mein Bruder. Es gibt Situationen, in denen muss man eine Kirche vertreten, die es real gar nicht gibt. Das war immer so."

Damit konnte er leben. Nein, an der Kirche sei er nicht verzweifelt, keine Sekunde. Und: "Meine Freude an der Kirche war stets größer als das Leiden."

Wie wäre es, wenn so mancher, der heute besonders hingebungsvoll mit der eigenen Kirche ins Gericht geht, es mit dieser weiterreichenden, bilanzierenden Betrachtungsweise versuchen würde? Und auch damit, dass er oder sie selbst die Kirche so vertritt, wie sie wohl sein sollte, auch wenn sie es gerade nicht ist!

Hermann Kunst ist alt geworden. Zwangsläufig musste er erfahren, dass seine glänzende Leistungsfähigkeit spürbar abnahm. Aber zwingen musste er sich zu dieser Einsicht nicht; sie war ihm selbstverständlich.

Und im Blick darauf gab er uns, die wir sein Alter bei weitem nicht erreicht haben und vielleicht auch nicht erreichen werden, etwas zu lernen. "Es ist doch gar nicht notwenig, dass man immer großartige Dinge vollbringt. Es gibt doch auch kleine Aufgaben", sagte er und malte sich aus, wie auch bei weiter zurückgehenden Kräften sich für die Verkündigung nützlich machen könnte. Z.B. in Besuchen bei alten Menschen, die selbst nicht mehr zum Gottesdienst gehen konntenund denen man etwas darüber berichten könnte.

"Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass Gott dafür sorgt, dass für meine Gaben auch immer Möglichkeiten und Aufgaben da sein werden", meinte er. Bescheiden, zuversichtlich, bis zuletzt auf den Dienst ausgerichtet. Und das Dibelius-Wort: "Ein Christ ist immer im Dienst," hatte er sich ausdrücklich zu eigen gemacht.

Wahrhaftig: Ein Leben für die Verkündigung"