„Christen in Syrien brauchen Ermutigung“

Interview mit Pfarrer Dr. Paul Haidostian, Präsident der Evangelisch-Armenischen Haigazian-Universität in Beirut

Ein Mädchen zündet eine Kerze an beim Gottesdienst der syrisch-orthodoxen Gemeinde 'Marian al-Adra' in Qamischli in Syrien

Ein Mädchen zündet eine Kerze an beim Gottesdienst der syrisch-orthodoxen Gemeinde „Marian al-Adra“ in Qamischli in Syrien.

Wir leben im 21. Jahrhundert. Das Wissen der Menschheit war nie größer. Wir verfügen über ausgefeilte Kommunikationsmittel. Die UN-Charta für Menschenrechte ist eine der wichtigsten Lehren aus zwei Weltkriegen. Doch ausgerechnet in dieser Zeit ist die christliche Präsenz in der Heimat des Christentums gefährdeter denn je. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Paul Haidostian: Wissen, Wissenschaft und Gesetze müssen nicht unbedingt zu ethischem Verhalten, zu mehr Freundlichkeit oder zu einer Entwicklung des Menschen zum Besseren hinführen. Auch bedeuten Kommunikationsmittel nicht notwendigerweise, dass sich das gegenseitige Verständnis verbessert. Wir müssen vielmehr fragen: Was braucht es, um Empathie zwischen den Menschen aufzubauen?

Warum verlassen so viele Christen den Nahen Osten?

Paul Haidostian: Dafür gibt es ein ganzes Bündel an Gründen. Einer davon ist die allgemein schlechte wirtschaftliche Lage. Dann haben die Christen im Nahen Osten in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Ungerechtigkeit erfahren. Daran erinnern sie sich auch heute noch und gleichzeitig passieren solche Ungerechtigkeiten wieder. Es gibt heute radikale Tendenzen im Islam, die gegenüber Christen und anderen Minderheiten feindselig eingestellt sind. Schließlich darf man auch die Kriege und die Krisen in Ländern wie Irak, Syrien oder Palästina nicht vergessen. Christen sind eine Minderheit im Nahen Osten und überall auf der Welt versuchen Minderheiten sich in Kriegszeiten herauszuziehen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten.

Vor diesem Hintergrund ist es irgendwie erstaunlich, dass es immer noch Christen im Nahen Osten gibt.

Paul Haidostian: Gestatten Sie mir, etwas Entscheidendes anzumerken. Wenn Christen im Westen uns fragen, warum wir immer noch im Nahen Osten leben und nicht längst emigriert sind, dann entmutigen sie uns damit. Wer immer wieder mit dieser Vorstellung „es gibt keine Zukunft für das Christentum im Nahen Osten“ konfrontiert wird, ist nicht mehr proaktiv und resigniert irgendwann. Was die Christen im Nahen Osten viel mehr brauchen, ist eine klare Ermutigung.

Christen in Deutschland leben in einem reichen Land, in dem seit mehr als 70 Jahren Frieden herrscht. Für uns ist es nicht leicht zu verstehen, was es heißt, heute als Christ in Syrien zu leben. Wie würden Sie uns das erklären?

Paul Haidostian: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem Sie immer Ihren religiösen Status rechtfertigen müssen. Das ist unangenehm. Ein Christ in Deutschland wird nie in diese Situation kommen. Als Christ in Syrien zu leben bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, die zunehmend den Kontakt zu ihren christlichen Nachbarn verliert. Viele Muslime wissen nichts über die Christen. In früheren Jahrhunderten kannten die meisten Muslime einige Christen und wussten auch ein bisschen etwas über deren Religion. Heute ist in vielen Teilen des Landes das Bewusstsein für den christlichen Anderen verloren gegangen. Das ist übrigens ein Punkt, der auch von vielen moderaten Muslimen beklagt wird.

Was sind die Gründe dafür?

Paul Haidostian: Einer der Gründe sind die radikalen Tendenzen im Islam. Ein anderer ist die Umverteilung der Bevölkerung während des Krieges. Vor dem Krieg gab es im ganzen Land verteilt Christen. In den Großstädten und Ballungszentren wie Damaskus, Aleppo, Homs oder Qamishly waren Christen mit ihren Kirchen, Schulen, Läden oder Krankenhäusern präsent. Nicht-Christen identifizierten ihre christlichen Nachbarn mit diesen Institutionen, die für alle offen waren. Jetzt sind diese Institutionen größtenteils geschlossen oder zerstört. Die Christen sind in andere Landesteile oder ins Ausland geflohen.

Was ist in Ihren Augen die größte Tragik des Krieges für die Christen in Syrien?

Paul Haidostian: Es ist der Verlust der normalen, ausgewogenen Beziehungen zu den Nachbarn. Eine große Tragik ist auch, dass die Christen, vor allem die Orthodoxen in Syrien, den Kontakt zur geographischen und sozialen Heimat ihres Glaubens verlieren. Wenn sie nach Deutschland oder Schweden oder in ein anderes Land im Westen auswandern, lösen sie sich vom warmen Umfeld der Geschichte ihres Glaubens. Das kann nicht einfach anderswo ersetzt werden, weil das Umfeld in dem neuen Land ganz anders ist. Ich würde es als eine Entwurzelung bezeichnen, auch wenn die Vertriebenen sich dessen nicht voll bewusst sind.

Hätten Christen in Deutschland während des Krieges mehr für ihre Brüder und Schwestern in Syrien tun können?

Paul Haidostian: Christen in Deutschland sind Teil ihrer eigenen Gesellschaft. Sie hören, was ihre Medien berichten. Deren Verständnis von der Lage in Syrien ist nicht neutral und auch nicht realistisch. Sie verstehen nur Teile von dem, was in Syrien passiert. Christen sollten sich klarmachen, dass die Menschen, egal ob in Syrien oder anderswo, nicht gleichzusetzen sind mit ihrer Regierung und deren Politik. Die Deutschen sollten die Demut haben zu sagen, dass sie nur einen Teil der Realität verstehen. Und die Kirche sollte die Regierung und die Medien auffordern, nicht oberflächlich zu urteilen.

Was können Christen in Deutschland heute tun?

Paul Haidostian: An der Haigazian-Universität bringen wir unseren Studierenden bei, kritisch zu denken. Das bedeutet, dass sie lernen, etwas unabhängig und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und dass sie dabei nie die Selbstkritik vergessen sollten. Dasselbe würde ich den Deutschen und allen anderen raten. Wir sollten unsere Regierungen zu kritischem Denken auffordern, damit sie sich nicht zu leicht von Ideologien vereinnahmen lassen.

Das kann die Aufgabe von Kirchenführern in Deutschland sein. Was aber könnten Gemeinden für ihre Brüder und Schwestern in Syrien tun?

Paul Haidostian: Es wäre wünschenswert, wenn sie neben der Unterstützung von Flüchtlingen in Deutschland die Hilfe für diejenigen nicht vergessen, die nicht geflohen sind. Es wäre gut, wenn sie verstehen, dass es für diejenigen, die geblieben sind, sehr schwer ist, wenn sie sehen wie gut es denjenigen auf einmal geht, die gegangen sind. Diejenigen, die ausharren, werden entmutigt und leiden, wenn sie über soziale Medien das gute Leben derer sehen, die gegangen sind. Diese Menschen brauchen Briefe und Gebete der Ermutigung. Deutsche Gemeinden könnten zum Beispiel ganz einfach ein Gebet oder einen Brief formulieren, ins Arabische oder Armenische übersetzen lassen und an die Menschen in Syrien schicken. Nicht nur an die Bischöfe, sondern an die Gemeinden, an die Jugendlichen, an die Kinder.

Was muss passieren, damit christliches Leben in Syrien wieder erblühen kann?

Paul Haidostian: Ich würde nicht „erblühen“ sagen, sondern eher „aufrechterhalten“. Dafür ist wichtig, dass die kirchlichen Institutionen arbeiten können. Ich weiß, dass Institutionen im postmodernen Denken ein schlechtes Image haben. Die Menschen ziehen es vor, Menschen zu unterstützen und nicht Institutionen. Aber Institutionen sind wichtig, um die christliche Präsenz in der Ursprungsregion des Christentums zu bewahren. Ich gebe Ihnen das Beispiel einer Familie in Aleppo. Während des Krieges musste der Ehemann sein Geschäft aufgeben. Seine Frau arbeitete aber weiter als Lehrerin in einer Schule. Mit ihrem Gehalt konnte die Familie überleben. Institutionen helfen Menschen in schwierigen Zeiten, auf eigenen Beinen stehen zu bleiben.

Sie sind Armenier. Syrien spielt eine wichtige Rolle in der jüngeren Geschichte des armenischen Volkes. Während des Völkermords 1915 flohen viele Armenier dorthin und Syrien wurde für sie eine neue Heimat. Inwiefern wirkt sich der Krieg nun auf die Armenier in Syrien aus?

Paul Haidostian: Für die Armenier hat Syrien einen besonderen Stellenwert. 1915 wurde die Syrische Wüste im Nordosten des Landes für sie zur Rettung. Städte und Gemeinden in Syrien wurden zu Symbolen des Wiederaufbaus. Armenier konnten dort Kirchen und Schulen gründen, die der sichtbare Beweis dafür waren, dass es die Armenier noch gibt. In den Augen der Armenier rehabilitierte Syrien auch das Bild des Islam. Nach dem Völkermord, der von den Türken verübt wurde, erlebten die Armenier, dass Muslime in Syrien sie aufnahmen. Während des jüngsten Krieges haben möglicherweise zwei Drittel der Armenier das Land verlassen. Es gibt armenische Familien, die in den letzten hundert Jahren vier Mal in ein neues Land ziehen mussten. Viermal mussten sie sich ein neues Zuhause aufbauen. Der Verlust heute ist sehr groß. Syrien bot den Armeniern die historische Verbindung zum verlorenen Kilikien, von wo die Armenier vertrieben worden waren. In Syrien erinnerte immer viel an dort: das Essen, die Natur, die Nachbarn. In westlichen Ländern ist vieles anders.

Sie sind Präsident der Haigazian University in Beirut, die hauptsächlich von der armenisch-evangelischen Gemeinde getragen wird, aber offen ist für alle Studierende, unabhängig von Rasse, Nationalität oder Glaubensbekenntnis. Sehen die jungen Leute ihre Zukunft im Nahen Osten?

Paul Haidostian: Ich schätze, dass die Hälfte der jungen Generation ihre Zukunft langfristig nicht in der Region sieht. In der ganzen Gesellschaft mangelt es an Vertrauen in die Zukunft.

Stellen Sie sich bitte vor, wir schreiben das Jahr 2050. Glauben Sie, dass Christen in Syrien dann ein leichteres Leben haben werden als heute?

Paul Haidostian: Mit den Bestandteilen, die 2019 prägen, sehe ich 2050 kein einfacheres Leben für die Christen. Wir sollten daran arbeiten und dafür beten, dass wir Komponenten bekommen, mit denen sich die globalen, regionalen und lokalen Gesellschaften verändern lassen. Die Kirchen sollten sich nicht darauf konzentrieren, wie sie die Mitgliederzahlen halten, sondern vielmehr auf die Frage, was der beste Weg ist, um Christus in unserer jeweiligen Gesellschaft zu unserer Zeit zu bezeugen. Das gilt nicht nur für die Kirchen in Syrien und im Nahen Osten, sondern auch für die Kirchen in Deutschland und überall auf der Welt. Wir alle müssen uns auf das Zeugnis konzentrieren. Sonst werden die Kirchen irgendwann nur noch eine soziale Organisation sein und keine Kirche mehr.

Interview: Katja Dorothea Buck

Cover Reminiszere 2020

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) lädt auch im Jahr 2020 alle Kirchengemeinden in ihrem Bereich sowie in anderen Konfessionen dazu ein, am zweiten Sonntag der Passionszeit (Reminiszere, 08. März 2020) für bedrängte und verfolgte Christen zu beten. Eine entsprechende Materialsammlung stellt den Gemeinden Informationen über die Lage von christlichen Minderheiten und liturgische Bausteine zur Verfügung. Ein Schwerpunkt der Fürbitte 2020 ist die Situation der Menschen in Syrien.

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