Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens

Gewaltsame Konflikte und zivile Intervention an Beispielen aus Afrika - Herausforderungen auch für kirchliches Handeln. EKD-Text 72, 2002

1. Vorbemerkungen zum Anlass des Textes

Nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Ost-West-Konfliktes stehen wir vorerst nicht mehr vor der Bedrohung eines weltweiten atomaren Krieges. Die Bedeutung dieses Sachverhaltes kann kaum überschätzt werden. Und doch bestimmen Kriege und gewaltsame Konflikte nach wie vor das Leben von Millionen von Menschen. Allein die Kriege in den letzten zehn Jahren, von denen viele noch andauern, forderten nach vorsichtigen Schätzungen bisher mehr als 6,7 Millionen Todesopfer und noch mehr Verwundete. Dabei ist der Anteil der getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zu den gefallenen Soldaten immer mehr angewachsen. Zu den Opfern von Gewaltkonflikten gehören auch über 60 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene [1].

Viele der „neuen Kriege“ [2] finden in der Öffentlichkeit ungeachtet ihrer Brutalität und ihrer Dauer kaum Beachtung. Die andauernden Kriege im Sudan, in Angola, in Liberia oder im Kongo finden, gerade weil hier die Gewalt zur Alltagserscheinung geworden ist, in den westlichen Medien kaum Beachtung. Aber der Golfkrieg von 1991 und die ihm folgenden Kriege und Konflikte auf dem Balkan – besonders der Kosovo-Krieg – haben den Krieg mit all seinen furchtbaren Folgen wieder in unsere Nähe und unser Bewusstsein gerückt. Die Terroranschläge auf New York und Washington haben uns zudem vor Augen geführt, dass es in einer globalisierten Welt keine klare Trennungslinie mehr gibt zwischen „Zonen des Friedens“ in den westlichen Industrieländern und den „Zonen der Turbulenz“ in Entwicklungsländern. Konflikte und ihre gewaltsame Austragung in noch so fernen Ländern sind nicht isoliert vom Rest der Welt. Noch so ferne Kriege sind direkt und indirekt verwoben mit dem wirtschaftlichen und politischen Handeln vieler anderer Länder. Umso mehr Anlass haben wir, uns mit den „neuen Kriegen“ auseinander zusetzen, an denen die Friedenshoffnungen gescheitert sind, die das Ende des Ost-West-Konflikts weckte.

1.1 Die neuen Kriege

Im Jahr 2000 wurden auf der Welt insgesamt 35 Kriege geführt, 13 alleine in Afrika [3]. Brennpunkte der Gewalt sind die Bürgerkriege in Westafrika, der Konflikt im Kongo, an dem viele Nachbarländer beteiligt sind, sowie das Horn von Afrika. Während die Zahl zwischenstaatlicher Kriege kontinuierlich abgenommen hat, werden immer mehr Gesellschaften durch innere Kriege zerrissen. 83% aller Kriege seit 1945 waren innergesellschaftliche Konflikte.

Vordergründig ist der vorherrschende Konfliktgrund der Streit um staatliche Macht. Aber es wird zunehmend schwieriger, zwischen politischen, materiellen und kriminellen Beweggründen zu unterscheiden. In den Kriegen und gewaltsamen Konflikten der letzten Jahre sind 90% der Todesopfer Zivilisten. Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung wie z. B. die Vergewaltigung von Frauen oder das Niederbrennen ganzer Dörfer sind oft ein Instrument der Konfliktaustragung.

Einige dieser „neuen Kriege“ werden in den Medien und in der öffentlichen Diskussion als „ethnische“ oder „religiöse“ Konflikte bezeichnet. Insbesondere nach den Terroranschlägen in den USA wird verstärkt auf die Rolle von Religion in gewaltsamen Konflikten hingewiesen oder der „Kampf der Kulturen“ [4] als Deutungsmuster bemüht.

Die christlichen Kirchen in Europa und insbesondere ihre Entwicklungs- und Katastrophendienste wollen einen Beitrag zu den Bemühungen in vielen Ländern leisten, Konflikte zu entschärfen, Not zu lindern und neue Perspektiven eines friedlichen Zusammenlebens zu eröffnen. Dazu suchen sie den Dialog mit den Partnerkirchen. Mit Nothilfemaßnahmen in Kriegssituationen wollen die Kirchen der Bevölkerung Hilfe zum Schutz und zum Überleben leisten und aktuelle Not lindern. Kirchliche Entwicklungshilfe will ohne Ansehen des Glaubens die Lebenslagen von Menschen verbessern und Wiederaufbau und Versöhnung ermöglichen. Entwicklungszusammenarbeit galt bislang auch als Möglichkeit der Krisenprävention.

Hierbei steht die gute Intention aber nicht immer für die gute Tat. So wurde zum Beispiel im Sudan- und Äthiopienkonflikt deutlich, dass die Arbeit kirchlicher wie anderer Hilfsorganisationen teilweise auch missbraucht werden kann, um die Vorräte der kriegführenden Gruppen aufzustocken oder deren Aktivitäten finanziell zu unterstützen. Notwendige Hilfe für die Bevölkerung in Kriegssituationen kann zugleich negativ zur Dynamik und zur Fortführung der kriegerischen Auseinandersetzungen beitragen. Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe sind also keinesfalls konfliktneutral, sondern können im schlimmsten Fall bestehende Konflikte verschärfen oder verlängern. Auch stehen sie in der Gefahr, in chronischen Konflikten langfristig staatliche Funktionen zu übernehmen. Dies ist den Hilfswerken selbst zunehmend bewusst geworden. Sie haben intensive Bemühungen in die Wege geleitet, um dies zu verhindern.

Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zu diesen Bemühungen. Sie fragt nach der Rolle von Religion in gewaltsamen Konflikten und spricht die ethischen Dilemmata an, vor denen die Entwicklungszusammenarbeit und die Katastrophenhilfe in gewaltsamen Konflikten stehen. Dazu ist es notwendig, die Ursachen und die Dynamik derartiger Konflikte näher zu betrachten. Die Studie ist als ein Beitrag zur Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt gedacht und will Handlungsmöglichkeiten insbesondere von Kirchen für externe zivile Interventionen [5] in Konfliktsituationen aufzeigen. Sie will zur Diskussion darüber beitragen, wie Kirchen in Konflikten interne und externe Ansätze zur Reduzierung oder Überwindung von Gewalt stärken und konfliktverschärfendes Handeln vermeiden können. Diese Schrift beschränkt sich in der Darstellung auf Beispiele aus Konfliktregionen in Afrika, die sicher nicht auf alle Konfliktsituationen übertragbar sind.

1.2 Ethische Orientierung

Die friedensethischen Orientierungspunkte dieser Studie sind in verschiedenen EKD-Denkschriften sowie in weiteren kirchlichen und ökumenischen Verlautbarungen zur Friedensethik benannt. Die EKD-„Thesen zur Gewalt“ von 1973, die EKD-Friedensdenkschrift von 1981 und die Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik des Rates der EKD „Schritte auf dem Weg des Friedens“ von 1994 sowie die kürzlich erschiene Ergänzung „Friedensethik in der Bewährung – eine Zwischenbilanz“ (2001) bilden die ethischen Grundlagen für diese Studie.

In der Friedensdenkschrift von 1981 heißt es programmatisch: „Frieden zu wahren, zu fördern und zu erneuern ist das Gebot, dem jede politische Verantwortung zu folgen hat. Diesem Friedensgebot sind alle politischen Aufgaben zugeordnet. In der Zielrichtung christlicher Ethik liegt nur der Friede, nicht der Krieg.“

Dem entsprach, dass die Kirchen in der DDR auf der Ökumenischen Versammlung von 1988 in Abkehr vom Gedanken des „gerechten Krieges“ die Entwicklung einer „Lehre vom gerechten Frieden“ angemahnt haben. Die Orientierung am Leitbegriff des gerechten Friedens ist auch die Grundlage eines Textes der deutschen katholischen Bischofskonferenz [6]. Sie schließt im übrigen die in der Lehre vom „gerechten Krieg“ verwendeten Argumente, die an Kriterien der Eingrenzung von Gewalt orientiert sind, ein [7]. Die „Zwischenbilanz“ zeigt auch auf, dass bei einer ethischen Bewertung der gewaltsamen Konflikte berücksichtigt werden muss, dass Kriege, bei denen reguläre Armeen feindlicher Staaten gegeneinander kämpfen, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter an Bedeutung verloren haben. Stattdessen haben gewaltsame Konflikte innerhalb von Staaten ihrer Zahl, Dauer und Intensität nach stark zugenommen, nicht nur auf dem Balkan, der als ein europäischer Konfliktherd im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, sondern in vergleichbarer Weise in Tschetschenien, in Afghanistan, in anderen Teilen Asiens und nicht zuletzt in Afrika [8].

„Sicherheit kann nicht allein militärisch definiert werden. Sie … ist vor allem angewiesen auf eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen zwischen Nord und Süd sowie West und Ost, auf die Einhaltung der Menschenrechte, die Stärkung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen und den Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens. Daraus folgt, dass die Analyse und Beseitigung von Konfliktursachen langfristig die vorrangige Aufgabe darstellt und durch ein kurzfristiges militärisches Krisenmanagement von Symptomen nicht zu ersetzen ist.“ [9]

Der hier verwendete erweiterte Sicherheits- und Friedensbegriff deckt sich mit den Befunden der neueren Friedensforschung. Als grundlegende, interdependente Komponenten für eine verlässliche Friedensstruktur gelten ihr:

  • Rechtsstaatlichkeit, die den Schutz der Freiheit gewährleistet, und die daraus folgende Rechtssicherheit,
  • ökonomischer Ausgleich, der zum Abbau krasser ökonomischer Ungleichheiten und damit zur Linderung von Not beiträgt,
  • internationale Organisationen und das Völkerrecht, die dem Schutz vor widerrechtlicher Gewalt dienen, und
  • eine Kultur des Umgangs mit Minderheiten und Menschen anderer ethnischer Herkunft, die der Intoleranz und nationalistischen Tendenzen entgegenwirkt.

„Diese vier Komponenten beziehen sich ebenso auf die Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft wie auf die Beziehungen zwischen Staaten und müssen insofern in globalem Maßstab gesehen werden. Einer Friedenspolitik, die sich an einem solchen erweiterten Sicherheits- und Friedensbegriff orientiert, muss es – in der Trias von Konfliktprävention, Konfliktlösung und Konfliktnachsorge – sowohl um die politische Bearbeitung tiefliegender Konflikte mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens als auch um die Verhinderung krisenhaft gewaltträchtiger Zuspitzungen von konkreten Konfliktlagen gehen. Das gilt nicht nur im Blick auf die Beziehungen zwischen Staaten, sondern heute insbesondere auch im Blick auf Konflikte innerhalb von Staaten, deren Bedeutung weltweit stark zugenommen hat.“ [10]

In „Schritte auf dem Weg des Friedens“ sind auch die vordringlichen friedenspolitischen Aufgaben nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes benannt: Die Entwicklung von Lösungen für die weltweite Armut und der fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens, die Errichtung und Durchsetzung einer internationalen Ordnung des Friedens unter der Herrschaft des Rechts, die Eindämmung der Rüstungsproduktion und des Waffenhandels und der Ausbau der Möglichkeiten und Ansätze ziviler Konfliktbearbeitung.

„Weil Feindschaft nicht durch Waffen überwunden werden kann und sich konfliktverursachende oder verschärfende ungerechte Strukturen in aller Regel nicht mit Gewaltanwendung beseitigen lassen, besteht ein dringender Bedarf an wirksamen, nichtmilitärischen Mitteln zur Bearbeitung und Lösung von Konflikten. In Ansätzen sind sie durchaus vorhanden. In den Kirchen haben sich vor allem die Friedensdienste ihrer Entwicklung, Förderung und Anwendung angenommen. Ein entschlossener Ausbau der vorhandenen Ansätze ist nötig und möglich.“ [11]

Auch in der Erklärung der 8. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Harare 1998, den Beschlüssen und Beratungspapieren zur ÖRK- Dekade zur Überwindung von Gewalt sind wichtige ethische Leitlinien benannt. Die Erklärung des ÖRK bekräftigt „die zentrale Botschaft des Evangeliums, die besagt, dass in Gottes Augen alle Menschen kostbar sind, dass das Versöhnungs- und Erlösungswerk Christi allen Menschen Würde verleiht, dass Liebe der Beweggrund für Handeln und Nächstenliebe der praktische Ausdruck aktiven Glaubens an Jesus Christus ist. Wir sind Glieder an einem Leib, und wenn eines verletzt wird, sind alle verletzt. Das ist die Verantwortung, die wir als Christen tragen, nämlich dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte eines jeden Menschen geschützt werden.“

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