Solidarität und Wettbewerb

Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

Die Notwendigkeit von Umstrukturierungen im Gesundheitswesen

  1. Das Gesundheitswesen in Deutschland kommt nicht zur Ruhe. In immer kürzeren Intervallen werden sog. grundlegende Reformen durchgeführt, denen regelmäßig korrigierende Ad-hoc-Eingriffe auf dem Fuße folgen. Trotz der Umstrukturierungs- und Adjustierungsbemühungen werden immer wieder aufs Neue gravierende Funktionsmängel sichtbar und das System selbst scheint Elemente und Mechanismen zu enthalten, die allen Bemühungen um den Abbau von Ineffektivität (man tut das Falsche) und Ineffizienz (man macht das Richtige falsch) widerstehen. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und nicht allein der Gesundheitspolitik anzulasten. Mächtige Interessenverbände, insbesondere auf der Anbieterseite des Gesundheitswesens, spielen in den Reformdiskussionen eine wichtige und nicht immer konstruktive Rolle.
  2. Dies wird man sich in Zukunft immer weniger leisten können. Schon heute hat der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt etwa 11% erreicht, nach etwa 6% vor 40 Jahren. Allerdings ist der Anstieg in den letzten 25 Jahren sehr langsam verlaufen, wenn man davon absieht, dass dieser Anteil im Verlauf des deutschen Einigungsprozesses deutlich zunahm. Damit ist die Gesundheitsversorgung zu einem wichtigen Wirtschaftszweig herangewachsen.
  3. Es deutet alles darauf hin, dass sich die finanziellen Probleme im Gesundheitswesen noch weiter verschärfen werden, da die Medizin durch neue Technologien kontinuierlich ihre Leistungsfähigkeit und die kurativen Möglichkeiten steigert. Dazu kommt der demographische Wandel mit der starken Zunahme der Zahl älterer und multimorbider Menschen mit ihren spezifischen Behandlungsbedürfnissen. Allerdings sagen neuere Befunde, dass die Menschen mittleren Alters sich beschleunigt zu der eigentlich aufwands- und kostenverursachenden „Versicherten- Kohorte“ entwickeln. Als maßgebliche Gründe hierfür werden der vergleichsweise höhere Bildungsstand genannt, der es ihnen ermöglicht, ihre Wünsche zu artikulieren und durchzusetzen, sowie ein höheres Gesundheitsbewusstsein gepaart mit einem ausgeprägten Anspruchsdenken. Auch dürfte bei dieser Gruppe das Bemühen, die volle Lebens- und Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen, besonders ausgeprägt sein. Hinzu kommt, dass sich auch der Gesundheitszustand jüngerer Menschen auffällig verschlechtert, wozu z. B. Bewegungsmangel, Fehlernährung und Suchtmittelgebrauch nicht unerheblich beitragen. Im Ergebnis haben die Finanzierungsmöglichkeiten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt gehalten. Damit ist auch in Zukunft zu rechnen.
  4. Vor diesem Hintergrund muss das System mit einer deutlich höheren Effizienz ausgestattet werden, um mehr Gesundheit mit dem gleichen Mittelaufwand zu erreichen.
  5. Interne Analysen und internationale Vergleiche zum Zustand des deutschen Gesundheitssystems führen zu folgenden Hauptbefunden:
    • Es werden immer wieder eklatante Qualitätsmängel festgestellt. Deutschland nimmt bei der Qualität der Gesundheitsleistungen im internationalen Vergleich einen bescheidenen Mittelplatz ein, der seinen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten nicht angemessen ist.
    • In zahlreichen Bereichen gibt es Versorgungsmängel in Form von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Die Fehlleitung vorhandener Ressourcen verstärkt die bereits unübersehbare Tendenz zur Mangelverwaltung.
    • Bei Leistungsanbietern wie Patienten machen sich zunehmend Unzufriedenheit und Frustration breit.
    • Vor dem Hintergrund dieser Probleme und Mängel ist der Ressourcenverbrauch – auch im internationalen Vergleich – sehr hoch.
  6. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen schätzt, dass ohne wesentliche Einschränkung der erbrachten Gesundheitsleistung Einsparungen von etwa 20% der Kosten möglich wären. Das theoretische Einsparpotenzial in Bezug auf langfristige Prävention schätzt er auf 25 – 30%. Er führt diese Defizite nicht zuletzt auf institutionelle Mängel wie
    • Rolle und Funktionsmechanismen der Selbstverwaltung,
    • Regionalkartelle von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen,
    • unzureichenden Leistungs- und Konditionenwettbewerb zwischen den Krankenkassen,
    • falsch konzipierten und wettbewerbsverzerrenden Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen und
    • weitgehend unbeschränkten Zugang zu den Leistungen
    zurück.
  7. Auch die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherungen macht eine Reform dringlich. Zwar bewegen sich seit 1975 die jährlich steigenden Ausgaben der Krankenversicherungen mit kleineren Schwankungen in etwa parallel zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Allerdings kam es mit dem deutschen Einigungsprozess zu einem Anstieg des Anteils am BIP. Dagegen entwickelt sich die Grundlohnsumme, die Bezugsgröße für die Beiträge, deutlich schwächer.
  8. Dies wurde zunächst durch Erhöhung der Beitragssätze aufgefangen, die aber zunehmend auf politische Widerstände stieß. In der Folge wurde durch Eigenbeteiligungen und auf administrativem Wege versucht, den Kostenanstieg zu begrenzen. Dabei spielten Budgetierungen der verschiedensten Art eine wesentliche Rolle. Die oben genannten Qualitätsmängel sind auch ein Ergebnis permanenter Ad-hoc-Eingriffe.
  9. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass die Steuerungsprobleme des Gesundheitswesen auf eine im Kern planwirtschaftliche Art nicht in den Griff zu bekommen sind. Auf der anderen Seite sind rein marktliche Steuerungsprozesse im Gesundheitswesen mit nicht hinnehmbaren Konsequenzen behaftet, wie das Beispiel USA zeigt, in dem der Anteil der Gesundheitskosten am BIP sehr hoch ist, aber ein großer Teil der Bevölkerung nicht angemessen versorgt wird.
  10. Mit Budgetierungen wurde versucht, das Produkt aus Mengen und Preisen zu begrenzen. Sind aber die Preise festgelegt, läuft dies auf eine Begrenzung der Mengen hinaus, die in einem Sozialstaat mit guten Gründen in der Regel rechtlich nicht zulässig ist. Rationierung im Sinne der Bewirtschaftung von Leistungen, auf die Patienten eigentlich angewiesen sind, darf es in einem sozialen Rechtsstaat nicht geben. Nun ist Budgetierung nicht das einzige Instrument deutscher Gesundheitspolitik, aber auch die Gesamtheit der eingesetzten Maßnahmen haben in den letzten Jahrzehnten immer nur vorübergehend Entlastung geschaffen. Letztlich steht das Steuerungssystem des Gesundheitssektors insgesamt zur Diskussion. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Effizienz des Systems immer wieder von kompetenter Seite angezweifelt wird. Zu den zentralen Aufgaben eines reformierten Steuerungssystems muss es gehören, diese Einsparpotentiale – die zu keinerlei Verschlechterung der Qualität führen würden – zu erschließen.
  11. Wie weiter oben ausgeführt, hat die Studie der Sozialkammer in Bezug auf die Steuerung des Gesundheitswesens auf mehr Wahlmöglichkeiten und Wettbewerb, auf eine Stärkung der Entscheidungsfähigkeit der Patienten und auf mehr Prävention gesetzt. Da die einzelnen Patienten nicht den Umfang der von ihnen tatsächlich benötigten Gesundheitsleistungen kennen, kam den Krankenversicherungen in diesem Konzept eine besondere Bedeutung zu. Um die damit entstehende Macht der Versicherungen zu begrenzen, sollten die Rechte der Patienten gestärkt werden, die erst in die Lage gesetzt werden müssen, Eigenverantwortung wahrzunehmen.
  12. Eine solche Grundkonzeption entsprach weiten Teilen der gesundheitspolitischen Diskussion der 90er Jahre. Sie wurde dann auch ansatzweise, leider nicht konsequent genug, realisiert. Die Möglichkeiten, die gesetzlichen Krankenkasse zu wechseln, wurden geschaffen bzw. ausgebaut. Dieses war grundsätzlich richtig. Wettbewerbsparameter waren aber im wesentlichen der historisch eher zufällige Beitragssatz und Werbemaßnahmen. Unterschiedliche Kosten wurden weitgehend über den Risikostrukturausgleich ausgeglichen, Unterschiede im Leistungsangebot aber nicht zugelassen. Damit hatten die Kassen nicht die Möglichkeit, einen Wettbewerb auf der Leistungsseite zu entfachen.
  13. Der so begonnene Weg wurde nicht fortgesetzt, statt dessen griff die Gesundheitspolitik erneut zu administrativen Maßnahmen. Schon jetzt ist abzusehen, dass dieser Weg nicht erfolgreich sein wird.
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