Solidarität und Wettbewerb

Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

Warum die evangelische Kirche erneut Stellung bezieht

  1. „Im Gesundheitswesen werden elementare anthropologische Voraussetzungen und ethische Normen berührt, die für die organisatorischen Grundentscheidungen ebenso wichtig sind wie für das Verhalten jedes einzelnen und für die Tätigkeit der medizinischen und pflegerischen Dienste.“ Mit dieser Feststellung verweist die von der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland ausgearbeitete und 1994 erschienene EKD-Studie „Mündigkeit und Solidarität. Sozialethische Kriterien für Umstrukturierungen im Gesundheitswesen“ (Ziff. 7) auf die ethische und anthropologische Bedeutung einer Reform des Gesundheitswesens. Die Schrift unterstreicht dabei die Notwendigkeit, dass sich die Kirche in die Reformdiskussion einmischen und dabei ihre Erfahrungen und Grundüberzeugungen einbringen soll. Dazu gehört auch, „vor einer modernen Idealisierung der Gesundheit (…) zu warnen.“ „Das biblische Verständnis von der grundsätzlichen Gebrochenheit der menschlichen Existenz begründet einen Realismus, der in der Gesundheit das Fragmentarische, Begrenzte, Gefährdete und die grundsätzliche Anwesenheit von Belastungen sieht.“ (Ziff. 68)
  2. Die Zuwendung zu Kranken und Sterbenden ist als Dienst der Gemeinde und als spezialisierte Form von Seelsorge eine der ureigensten Schwerpunkte des diakonischen Auftrags der Kirchen. Auch aus diesen Verpflichtungen leitet sich eine konkrete Mitverantwortung der Kirche für die Gestaltung des Gesundheitswesens ab. Die Kirchen gehören traditionell mit zu den wichtigsten Trägern und Förderern einer personennahen und ganzheitlichen Gesundheitsfürsorge im partnerschaftlichen Zusammenwirken mit öffentlichen und anderen freien Trägern. So sind z. B. rund ein Drittel aller Krankenhäuser in Deutschland und die überwiegende Zahl der ambulanten und stationären Dienste der Altenpflege in kirchlicher Trägerschaft.
  3. Eine Grundintention der Studie von 1994 besteht darin, im Dreiecksverhältnis von Leistungsanbietern, Krankenkassen und Versicherten die Position der Versicherten bzw. Patienten grundsätzlich neu zu bestimmen. Dabei wird der mündige und eigenverantwortlich handelnde Versicherte in das Zentrum der Überlegungen gestellt und zum Dreh- und Angelpunkt der Reformvorschläge gemacht. Dies ist vor dem Hintergrund von Strukturen und Prozessen in unserem Gesundheitswesen zu sehen, die den Patienten zunehmend durch Fremdbestimmung und Entmündigung bedrohen. Es wird jedoch nicht einer die Solidarität gefährdenden Tendenz zur reinen Marktorientierung das Wort geredet. Vielmehr gibt es ein klares Bekenntnis zu einer solidarischen Grundorientierung. „Christen waren von Anfang an erfüllt von der Überzeugung, daß menschliches Leben nur als solidarisches Leben gelingen kann.“ (Ziff. 11) „Das System der sozialen Sicherung für den Krankheitsfall, die Gesetzliche Krankenversicherung, ist unter den Systemen der sozialen Sicherung dasjenige, in dem das Solidarprinzip am konsequentesten gilt und am stärksten verwirklicht ist. Krankheit ist ein allgemeines Lebensrisiko.“ (Ziff. 76)
  4. „Patientensouveränität in einem Solidarsystem bedeutet vor allem Eigenverantwortung. Denn solidarische Sicherungssysteme, die diejenigen unterstützen und mittragen, die auf diese Hilfe angewiesen sind, müssen ihrerseits durch einen verantwortungsvollen Umgang mit den Möglichkeiten getragen werden. Anderenfalls kommen sie rasch an ihre Grenzen.“ (Ziff. 32)
  5. „Der Satz ‚Einer trage des anderen Last‘ (Gal. 6, 2) kann mit Blick auf ein solidarisches Sicherungssystem durchaus bedeuten, auf die Inanspruchnahme von Leistungen, die man auch selbst erbringen kann, zu verzichten, um anderen, die darauf angewiesen sind, den Zugang auf Dauer offenzuhalten.“ (ebenda)
  6. Mitverantwortlichkeit ist die sozialethische Grundlage eines jeden Solidarsystems, sie kann jedoch nur durch Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen Mitgliedes der Solidargemeinschaft zum Tragen kommen – dies vor allem bei knapper werdenden Ressourcen.
  7. Konkret bedeutet dies zum einen den sorgsamen Umgang mit der eigenen Gesundheit sowie die vorbeugende Verhütung von Krankheiten und gesundheitlichen Gefährdungen. Je nach der konkreten Lebenssituation sind die ausschöpfbaren Möglichkeiten allerdings unterschiedlich. Dies gilt insbesondere für die Gefährdungspotentiale im Berufs- und Arbeitsumfeld. Hier müssen die notwendigen rechtlichen und technischen Grundlagen durch den gesetzlichen und betrieblichen Arbeitsschutz sowie die Arbeitsmedizin geschaffen und gewährleistet werden. (Hierzu hat sich die Kammer der EKD für soziale Ordnung durch die Studie „Arbeit, Leben, Gesundheit“ 1990 geäußert, die vom Rat der EKD zustimmend zur Kenntnis genommen wurde). Hinzu kommt die Aufgabe, neben den eigenen Beiträgen zum Solidarsystem einen zumutbaren Teil der entstehenden Lasten auch unmittelbar selbst zu tragen, wenn dadurch die Akzeptanz des Gesamtsystems steigt und soweit die individuelle Möglichkeit gegeben ist. Die Solidargemeinschaft der Versicherten darf nicht unbedacht und in unverantwortlich extensiver Weise in Anspruch genommen werden. Verantwortlichkeit bedeutet deshalb auch Eigenversorgung, soweit sie von den Betroffenen selbst getragen werden kann und keine unbedingte Angewiesenheit auf die Solidargemeinschaft besteht. Eigenversorgung umfasst die Selbsthilfe bei Erkrankungen im Bagatell-Bereich, die subsidiäre Hilfe für Familienangehörige, Freunde und Nachbarn, aber auch einen unabdingbaren Anteil an Eigenvorsorge. Eine Dimension der Eigenverantwortlichkeit kennzeichnet aber auch die Bedeutung des „Subjektseins“ des Hilfebedürftigen, der Mitsprache und Wahlmöglichkeit. Wer mitverantwortlich ist, darf nie einfach nur Leistungsempfänger, Betreuter, Behandlungsobjekt ohne Wahlmöglichkeit sein. (Ziff. 74)
  8. Andererseits darf das Postulat eines schonenden Umganges mit den Ressourcen jedoch nicht als verordnete Kärglichkeit verstanden werden. Der mündige und verantwortungsbewusste Patient darf nicht zum bloßen Objekt einer auf Sparsamkeit getrimmten Gesundheitsbürokratie werden. Er muss handlungsfähig bleiben. Es müssen ihm immer auch gewisse Wahlmöglichkeiten belassen werden. Er muss durch Erproben verschiedener Wege und Muster das für ihn Optimale herausfinden, muss letztlich dazu beitragen können, das therapeutische Geschehen selbst zu beeinflussen und weiterzuentwickeln (z. B. alternative Behandlungsmethoden, Selbsthilfegruppen).
  9. Deshalb wird unter den praktischen Konsequenzen und Vorschlägen für Strukturreformen dem Gedanken, die „Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen zu fördern und zu unterstützen“, besonderes Gewicht gegeben. Darüber hinaus wird u. a. gefordert, die „Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit im Leistungsangebot (zu) stärken“, der „Prävention, Beratung und Nachsorge Priorität ein(zu)räumen“ sowie die „Pflege zu einer solidarischen Hauptaufgabe im Gesundheitswesen (zu) machen.“ (Ziff. 83 ff.)
  10. Die Studie setzte sich konstruktiv mit der Organisationsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung, die ab 1995 in ersten Schritten wirksam geworden ist, auseinander. Sie bewertete die Faktoren „Risikostrukturausgleich“, „freie Kassenwahl“, „differenzierte Leistungsangebote der Kassen“. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob diese und andere Reformen ihr Ziel erreicht haben.
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