Solidarität und Wettbewerb

Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

Rahmenbedingungen für mehr Verantwortung und Selbstbestimmung, für mehr Wirtschaftlichkeit verbessern

  1. Eine Weiterführung der begonnenen Reform ist dringlicher denn je. Dabei sollten sich nach wie vor die konzeptionellen Überlegungen auf die Leitfigur einer solidarischen Wettbewerbsordnung konzentrieren: Unter Beibehaltung des Solidargedankens, der im deutschen gegliederten Sozialversicherungssystem fest verankert ist und in der Bevölkerung nach wie vor eine hohe Akzeptanz hat, sollen die konstituierenden und regulierenden Elemente so gesetzt werden, dass die dem Wettbewerb innewohnenden Such- und Optimierungsprozesse zu einer möglichst effektiven und effizienten Verwendung knapper Mittel führen. Es geht also um Solidarität und Wettbewerb.
  2. Wettbewerb zielt auf eine Begrenzung der Preise der Anbieter durch eine Begrenzung der nachgefragten Menge durch die Nachfrager. Die Nachfrager sorgen auch für Qualitätsverbesserungen durch die Anbieter. So ergibt sich ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Im Gesundheitswesen hat aber der nachfragende Patient nur einen begrenzten Einfluss auf die von ihm nachgefragte Menge und Qualität. In der Regel bestimmt die Anbieterseite, zum Beispiel der behandelnde Arzt oder das Krankenhaus, neben der Qualität auch die in Anspruch zu nehmende Menge. Wenn aber eine Marktseite Preis und Menge bestimmt, ist eine Steuerung über den Markt nicht sinnvoll. Auch alle Eigenbeteiligungsmodelle haben an dieser Stelle ihre Probleme, da sie zu einer unzureichenden Versorgung Einkommensschwacher führen können.
  3. Wettbewerb kann deswegen nicht primär bei der Beziehung zwischen dem einzelnen Patienten und dem einzelnen Anbieter ansetzen. Es bedarf vermittelnder Dritter, die miteinander im Wettbewerb stehen. Diese Rolle können die Krankenversicherungen (Krankenkassen) übernehmen. Der Wettbewerb zwischen ihnen zusammen mit einer Stärkung der Rechte der Patienten begrenzt zugleich ihre Macht, die inzwischen auch zu den Problemen des deutschen Gesundheitssystems gehört.
  4. Ein zentraler Diskussionspunkt ist hier, ob sich der Wettbewerbsprozess an einem einheitlichen (oder unterschiedlichen) Leistungskatalog zu orientieren hat oder ob man einen einheitlichen Kriterienkatalog zugrundelegt, dem die Wettbewerber (Krankenkassen) durch unterschiedliche, aber vollwertige Behandlungs- und Versorgungsangebote (Pakete) zu genügen hätten. Mit der Orientierung an einem Kriterienkatalog kann der Wettbewerb gestärkt und innovativ gestaltet werden.
  5. Auch ein ideales Steuerungssystem, das die Kräfte des Marktes geschickt nutzt, kommt ohne eine staatliche Regulierung nicht aus. Insbesondere wird es keineswegs unnötig, vor dem Hintergrund der medizinischen Entwicklung immer wieder erneut die Kriterien zu bestimmen, an denen die Angemessenheit der Leistungen überprüft wird, die von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden sollen. Dies geschieht übrigens auch heute. Es trifft nicht zu, dass die gesetzliche Krankenkasse alle Arten von Leistungen übernimmt.
  6. Der Umfang der von den gesetzlichen Krankenversicherungen zu erbringenden Leistungen kann nicht abschließend für alle Zeiten geregelt werden. Erreicht werden soll eine Standardsicherung, welche alle medizinisch notwendigen Leistungen einsetzt, um ein Leben in Würde zu gewährleisten.
    Dabei ist insbesondere für alte Menschen eine stärkere Verzahnung mit Leistungen der Pflegeversicherung notwendig. Besondere Berücksichtigung muss bei diesen Überlegungen das Schicksal chronisch Kranker finden.
  7. Die Durchsetzung einer solidarischen Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen bedarf Entscheidungen in zahlreichen Feldern. Einige werden im folgenden genannt mit einer Angabe der einzuschlagenden Richtung. Notwendig sind:
    1. Eine Neugestaltung des Risikostrukturausgleichs, die inzwischen in Angriff genommen wurde, aber erst 2007 vorliegen soll. Dabei dürfen insbesondere nicht die unterschiedlichen tatsächlichen Kosten eine Rolle spielen, sondern nur die unterschiedlichen Risiken der Mitglieder der Kassen. Hierfür werden zur Zeit unterschiedliche Optionen diskutiert. Hierzu gehört eine Orientierung an der Morbidität. Sicherzustellen wäre freilich, dass dann unterschiedliche Präventionsmaßnahmen unberücksichtigt blieben. Regelungen sind auch zur Berücksichtigung chronisch Kranker notwendig.
    2. Ein striktes Diskriminierungsverbot verbunden mit einem Kontrahierungszwang für die Mitgliedschaft in allen Krankenkassen, um zu verhindern, dass Kassen sich nur gute Risiken heraussuchen. Dies muss grundsätzlich auch für die privaten Krankenkassen gelten.
    3. Die Beseitigung aller administrativen Abgrenzungen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Hierdurch kann unnötige Doppelarbeit vermieden werden. Der Umfang kostspieliger Apparateausstattung kann vermindert und damit zugleich die Auslastung medizinischer Geräte verbessert werden.
    4. Die Pflicht zur Weitergabe aller Untersuchungsergebnisse an andere behandelnde Stellen, um kostspielige Mehrfachuntersuchungen zu vermeiden. Der Patient sollte die Untersuchungsergebnisse in einer verständlichen Form erhalten, um ihn in die Behandlung einzubeziehen.
    5. Die Beseitigung monopolistischer Strukturen von Kassen- und Anbieterverbänden, insbesondere zentraler Vertragsabsprachen zwischen diesen. Jede Kasse muss das Recht haben, mit einzelnen Anbietern oder Gruppen von Anbietern Verträge über zu erbringende Leistungen und Honorare zu schließen. Auf dem Markt für Gesundheitsleistungen müssen die üblichen Wettbewerbsregeln und ?kontrollen gelten.
    6. Die Schaffung von Qualitätsstandards im medizinischen Bereich, welche einen objektiven Vergleich unterschiedlicher Leistungsangebote im Gesundheitsbereich ermöglichen. Hierin liegt zugleich die Möglichkeit, Qualitätsverbesserungen zu erreichen.
    7. Die Zulassung von Differenzen im Leistungsangebot. Sichergestellt werden muss eine zureichende Standardversorgung. Dazu gehören alle medizinisch notwendigen Leistungen, welche die Sicherung eines Lebens in Würde gewährleisten. Ihre Abwahl darf nicht erlaubt sein. Es muss aber möglich sein, dass die Art der Leistungserbringung differenziert wird. So sollte zugelassen werden, dass Kassen einen niedrigeren Beitragssatz anbieten, indem sie die freie Wahl des Arztes oder des Krankenhauses einschränken. Auch die Lotsenfunktion des Hausarztes könnte verbindlich gemacht werden. Die Kassen könnten ihr besonderes Angebot aber auch in zusätzlichen Leistungen zum Ausdruck bringen – diese müssen aber allen ihren Versicherten ohne Risikoprüfung zustehen.
    8. Die Zulassung von Differenzen in der Beitragsgestaltung. Hierzu könnten Bonus-Angebote für die Teilnahme an Präventionsmaßnahmen oder der Verzicht auf eine gesundheitsschädigende Verhaltensweise zählen. Der notwendige Ausbau der Prävention kann auf diese Art gefördert werden. Eine Differenzierung der Beiträge nach verhaltensunabhängigen Risikomerkmalen darf aber nicht erlaubt sein. Zu prüfen ist, inwieweit Beitragsrückerstattungen bei Nichtinanspruchnahme möglich sind, welche das Präventionsziel und den notwendigen solidarischen Ausgleich nicht gefährden. Bei entsprechenden Einkommensverhältnissen könnten auch Selbstbehaltmodelle zugelassen werden.
    9. Die Schaffung einer staatlichen Zertifizierungsagentur. Es ist damit zu rechnen, dass im Wettbewerb unterschiedliche Leistungs- und Beitragspakete entstehen. Damit dürfen die Patienten nicht allein gelassen werden. Eine staatliche Zertifizierungsagentur soll gewährleisten, dass die Kriterien einer Standardsicherung erreicht werden.
    10. Die Prüfung, ob die auf Unfälle zurückzuführenden Krankheiten aus der Krankenversicherung herausgenommen werden und mit einer Unfallversicherungspflicht abgedeckt werden sollten. Dadurch könnten die Beiträge zur solidarischen Krankenversicherung, wie ausländische Beispiele zeigen (Frankreich, Schweiz) um ca. 3 Prozentpunkte gesenkt werden. Eine eigenständige Unfallversicherung (wie es sie bei Arbeitsunfällen schon gibt) könnte durch entsprechende Beitragsgestaltung (Bonus, Malus) zu größerer Eigenverantwortung beitragen.
    11. Die Schaffung von Transparenz. Sie ist notwendig, will man die Rechte der Patienten gegenüber den Kassen stärken. Nur ein informierter Patient kann seine Wahlmöglichkeiten wirklich wahrnehmen. Dazu gehören Informationen über die Häufigkeit von medizinischen Eingriffen einzelner Anbieter und die erreichten Ergebnisse.
    12. Eine nachhaltige und verlässliche Gestaltung der Finanzierungsgrundlagen des Systems. Es ist sinnvoll und notwendig, dass auch in Zukunft ein – wenn auch begrenzter – Solidarausgleich zu den konstitutiven Elementen eines Krankenversicherungssystems gehört. Ein solches System ist aber finanziell nicht überlebensfähig, wenn man sich relativ einfach ganz oder teilweise dem Solidarausgleich entziehen kann. Vor dem Hintergrund eines raschen Wandels in der Erwerbswelt ist die Loslösung der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung vom Arbeitsverhältnis und der Beitragshöhe vom Lohnbezug überfällig. Das bedeutet zum Beispiel die Einbeziehung aller Einkommensarten in die Beitragsgrundlage. Da die Leistungen auf eine Standardsicherung, welche die Sicherung eines Lebens in Würde gewährleistet, beschränkt werden, stellt sich auch die Frage einer allgemeinen Versicherungspflicht für jede Bürgerin und für jeden Bürger in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Pflegeurteilen eine Volksversicherung ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt. Übrigens kann auch nur so sichergestellt werden, dass sich alle an der Finanzierung des Familienlastenausgleichs beteiligen, der ja nach den Pflegeurteilen des Bundesverfassungsgerichts durchaus seinen Platz in der Sozialversicherung haben kann oder muss. Allerdings sind auch hier Änderungen sinnvoll, wie zum Beispiel die Beschränkung des Familienausgleichs auf die Zeit der Erziehung von Kindern bis 18 Jahren. Insgesamt könnten durch derartige Neuregelungen von Beitragsbasis und Versicherungspflicht bei gleichen Leistungen deutlich niedrigere Beitragssätze erreicht werden.
    13. Zu überprüfen ist auch die Ausgestaltung der Krankenversicherung der Rentner, die derzeit mit ca. 30 Mrd. Euro zu Lasten der Erwerbstätigen quersubventioniert ist. Damit soll das Element des Lastenausgleichs zwischen den Generationen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, das hier, ebenso wie in der gesetzlichen Rentenversicherung, zu den konstitutiven Prinzipien zählt, nicht infrage gestellt werden. Es geht vielmehr um den Abbau eines inzwischen erreichten Übermaßes. Notwendig ist zumindest eine stärkere Heranziehung vermögender Rentner unter Berücksichtigung ihres tatsächlichen Haushaltseinkommens.
  8. Die genannten Vorschläge sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder gemacht worden. Sie brechen mit Traditionen des deutschen Gesundheitswesens und geraten in Konflikt mit wirtschaftlichen Interessen von Anbietern im Gesundheitswesen. Was fehlte, war die politische Umsetzung, insbesondere der Mut, die Diskussion mit Verbändevertretern aufzunehmen und dabei die Patienten als die eigentlich Betroffenen einzubeziehen.
  9. Diese Vorschläge sollten allerdings nicht isoliert diskutiert werden. Sie sollten ihre Entsprechung in anderen Feldern unser Gesellschaftspolitik haben: Familienpolitik, Bildungspolitik und Alterssicherungspolitik sind hier zu nennen.
  10. Die Schaffung von Transparenz und die Stärkung der Rechte der Patienten können notwendige erste Schritte sein. Die evangelische Kirche in Deutschland sieht es als ihre Aufgabe an, den Diskussionsprozess in Deutschland wieder anzustoßen und die Politik zu mahnen, auf diesem ethisch so wichtigen Feld endlich mit den notwendigen Reformen zu beginnen.

Diese Stellungnahme wurde erarbeitet von der Kammer der EKD für soziale Ordnung. Der Rat der EKD hat sie auf seiner Sitzung am 6. September 2002 mit Dank entgegengenommen und ihre Veröffentlichung beschlossen.

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