"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)

II. Drei Beispiele

 Im Folgenden werden drei pointierte Beispiele für die Ausübung, Duldung, das Nichtsehenwollen und das Verschweigen von Gewalt gegen Frauen aufgeführt, in denen der kirchliche Kontext von besonderer Bedeutung ist.

1. Beispiel

Anna ist Christin. . . . Vierzehn Jahre kontrollierte Annas Mann durch Beleidigungen, das Vorenthalten von Geld und brutale körperliche Gewalt ihr Leben und schränkte sie massiv ein. Dreimal mußte sie ins Krankenhaus eingeliefert werden. . . . Folgendes hat Anna mir erzählt: "Angst ist ein Gefühl, das alles andere übertrifft, denn alles ist diesem Gefühl unterworfen. Ich war vor Angst wie gelähmt und nur die Entschlossenheit, meine Kinder zu beschützen, setzte etwas Energie in mir frei, um mich dieser völligen Auflösung meines Ichs schließlich zu entziehen. Viel zu lange hatte ich Degradierungen und Demütigungen akzeptiert. Ich dachte ständig an die Worte des Hochzeitsgottesdienstes: 'In guten und schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit.' Ich erlebte diese schlechten Zeiten und ich war Teil der Krankheit, und irgendwie schien alles mein Fehler zu sein. Wenn unser Ehegelöbnis von Gott gesegnet worden wäre, wäre mir doch sicher geholfen worden? Mir war nie der Gedanke gekommen, daß in einer christlichen Ehe Mißbrauch herrschen könnte. Ich war eine Versagerin. Und diese Überzeugung steigerte natürlich meine Isolation noch. Wenn man beginnt, sich sein Leben zurückzuholen, fühlt man sich verraten - von Gott, von der Kirche, von der Kommune. Es ist, als habe man dir etwas besonders Romantisches verkauft, und wenn du es aufmachst, ist es widerlich und faulig. Früher erwartete ich, daß die Kirche Antworten auf alle meine Fragen haben würde. Aber jetzt denke ich, daß ich Antworten auf viele der Fragen habe, die die Kirche stellen sollte." (Lesley Macdonald, Jetzt schweigen die Frauen nicht mehr. Die Antwort der Kirche auf männliche Gewalt gegen Frauen, Reformierte Kirchenzeitung, RKZ 2, 1998, S. 65-71; S. 65)

2. Beispiel

Mein erster Kontakt mit Inzest möge verdeutlichen, wie nahe richtiges und falsches Handeln in Seelsorge und Beratung beieinander liegen. Es ist schon 20 Jahre her. Eine meiner Töchter erzählte mir, daß eine ihrer Freundinnen so sonderbare Geschichten über ihren Vater erzählte und ob sie nicht mal mit mir darüber reden könnte. Das geschah. Mein Mann war Pfarrer, und da wir seelsorgerisch richtig handeln wollten, luden wir Vater, Mutter und Tochter zu einem Gespräch ein. Die Tochter erzählte teilweise ihre Seite der Geschichte. Der Vater erschrak und sagte, daß er alles gut gemeint hätte, er wollte nur lieb sein, aber wenn sie es lieber nicht hätte, würde er es nie mehr machen. Die Mutter sagte nichts. Ein guter Verlauf, die Harmonie war wieder hergestellt. Ich hatte etwas richtig gemacht. Ich glaubte der Tochter. Ich hatte etwas falsch gemacht. Ich glaubte dem Vater. Die Familie ging nach Hause. Er schlug erst seine Tochter zusammen und hat danach fünf Jahre lang nicht nur diese Tochter, sondern auch noch zwei andere Kinder mißbraucht. (...) Ich habe nichts gemerkt, und war froh, daß die Harmonie wiederhergestellt war. Meine Meinung über Familie war nicht durch die Wirklichkeit korrigiert worden. Diese Meinung war nicht einfach aus dem Nichts entstanden, sondern durch christliche Tradition, Ausbildung und gesellschaftlichen Status geformt worden. (Jenny Schneider-von Egten, Zerbrochenes Heil. Sexuelle Gewalt - kein Thema in der christlichen Gemeinde, in: Theologische Wurzeln der Gewalt gegen Frauen, Dokumentation einer Tagung im Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD, Gelnhausen 1996, S. 24-34; S. 26f.)

3. Beispiel

Die Mutter von Christiane nimmt in der Nachkriegszeit einen Prediger aus einer konservativ-christlichen Gruppierung in ihrer Wohnung auf, der das kleine Mädchen mehrmals mißbraucht. Christiane wächst mit dem Bild eines strengen, furchteinflößenden und kontrollierenden Gottes auf. Als erwachsene Frau kann sie die Sexualität mit ihrem Mann kaum genießen, sie ist oft bedrückt und depressiv, sucht nach einem Sinn für ihr Leben. Auf Tagungen lernt sie ein neues, mutmachendes Gottesbild kennen und fängt zugleich an, ihren Gefühlen von Trauer, Zorn und Scham wegen ihrer Kindheitserlebnisse Raum zu geben. Bei einer solchen Tagung bietet ihr einer der Verantwortlichen, ein Pfarrer, seelsorgerische Gespräche an als zusätzliche Hilfe und Unterstützung auf ihrem Weg. Dies nimmt sie an. Es tut ihr gut, daß jemand sich ihr so zuwendet und mit ihr über ihre Erfahrungen und ihre religiösen Fragen reden kann. Seine liberale Theologie und Ethik läßt sie aufatmen. Nach einigen Terminen schlägt er vor, die heilsame und befreiende Spiritualität nicht nur zu bereden, sondern sie auch körperlich zu erfahren. Anfangs ist sie überwältigt, fühlt sich geliebt und auserwählt und erfährt zum ersten Mal eine lustvolle Beziehung. Dann erfährt sie, daß der Seelsorger ähnliche Beziehungen auch mit anderen Frauen hat. Ihre Euphorie bricht zusammen, es wird ihr klar, daß sie benutzt worden ist. Sie stellt ihn zur Rede, aber er weicht aus, erinnert sie daran, daß sie sich ihm freiwillig hingegeben hat. Der "neue" befreiende Gott erscheint ihr jetzt so unzuverlässig wie der Pfarrer, der "alte" strenge Gott ist wieder präsent, sie quält sich mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen. Sie wird ernsthaft krank, hat Selbstmordgedanken. Der Pfarrer besucht sie im Krankenhaus, sagt, er bereue sein Handeln, und beschwört sie, niemandem von der sexuellen Beziehung zu erzählen. Sie willigt ein, damit er seinen Arbeitsplatz in der Kirche nicht verliert und um das Ansehen der Kirche in der Öffentlichkeit nicht zu beschädigen. Sie weiß: wenn sie sich an dieses Versprechen hält, wird sie vollends vereinzelt sein, eingeschlossen in eine doppelte Mauer des Schweigens. (mündlicher Bericht)

Kommentar zum 1. Beispiel

Es wird von einer Frau berichtet, die in 14 Ehejahren gewaltförmigen Handlungen ihres Ehemannes ausgesetzt war und diese ertrug. Warum hat sie sich nicht eher gewehrt? Wie ist sie überhaupt an so einen Mann geraten? Wir haben keine Informationen über die Hintergründe dieses Berichts, darüber wie sich dieses Paar gefunden, was die Partner zur Heirat bewogen hat, über die Vorgeschichte des Mannes, der Frau und unter welchen aktuellen Lebensbedingungen der gute (?) Anfang zum bösen Ende sich wendete Die Paarforschung hat gezeigt, daß Gewalt häufig in einer ganz bestimmten Paarkonstellation auftritt. Die Männer erwarten von der Frau emotionale Versorgung und Anpassungsbereitschaft und von sich selber Sachlichkeit, Autonomie und die Vorherrschaft in der Paarbeziehung. Ihnen fällt es schwer, Gefühle auszudrücken, insbesondere negative. Außerhalb ihrer häuslichen Beziehung sind sie oft isoliert. In der Kindheit haben sie oft selbst körperliche Gewalt oder Gewalt gegenüber ihren Müttern erlebt. Ihr starkes Bedürfnis nach Nähe und die damit verbundene Angst um den Verlust naher Beziehungen läßt sie leicht zu Verfolgern werden. Die Frauen in dieser Konstellation orientieren sich typischerweise wie die Männer an traditionellen Rollenbildern. Die Wahl eines emotional bedürftigen, vordergründig chauvinistisch wirkenden Partners soll ihnen ermöglichen, besonders weiblich und anziehend zu bleiben, in der Tochterrolle zu verharren, um zu verführen und sich führen zu lassen. In ihrer Biographie haben sie subtile Formen von Gewalt in einem Klima von Härte und Verwöhnung erlebt. Ihnen ist es kaum möglich, eine eigene Position in der Paarbeziehung zu halten, und klar auszudrücken, was sie wollen und was nicht. Von den Müttern konnten sie das nicht lernen, dem Vater gegenüber bleiben sie in der Rolle des kleinen Mädchens gefangen. Die sprachliche und emotionale Farbigkeit der Frau fasziniert und bedroht den Mann gleichzeitig. Sein eigener Mangel wird ihm vor Augen geführt, er zieht sich in Schweigen oder auf rationale Argumente zurück, was die Frau zu verzweifelter emotionaler Verfolgung bewegt. Wenn sie ihn damit nicht erreicht und sich aus Zorn über seine Blockade affektiv und körperlich von ihm zurückzieht, reagiert er nicht selten ebenfalls mit dem Körper als Machtquelle, durch die er überlegen ist. Typischerweise verlaufen solche Auseinandersetzungen zyklisch: auf einen gewalttätigen Ausbruch folgt eine Phase der Versöhnung, in der das Paar eine intensive Form von Intimität erlebt. "Es scheint, daß diese Versöhnungsrituale viele Frauen davon abhalten, der Gewalt durch Trennung oder das Aufsuchen einer Beratungsstelle ein Ende zu setzen, und daß damit Männern erspart wird, andere als brutale Formen der Auseinandersetzung zu suchen, was ihre Wut gegen sich selbst erhöht." (Rosemarie Welter-Enderlin 1996, S. 97)

Anna führt das Unglück ihrer Ehe sehr stark auf ihre kirchliche Prägung zurück. Auch ihre Partnerwahl wird den ihr vermittelten Ehebildern entsprochen haben: der Mann ist das Haupt, die Frau ist ihm untertan; er liebe die Frau, sie fürchte den Mann (Eph 5, 22.33). Im Traugelöbnis haben beide versprochen, einander wechselseitig zu lieben und zu ehren. Doch daß ihr Mann sich zunehmend deutlicher gegen Gebot und Versprechen verhielt, konnte sie (zu) lange nicht als Unrecht wahrnehmen und sich nicht dagegen wehren. Sie spricht vielmehr von lähmender Angst, die sie allenfalls zum Schutz ihrer Kinder überwinden konnte. Wie kam es zu dieser inneren Blockade des Wahrnehmens, Denkens und Handelns? Vermutlich hat sie als Kind nicht hinreichend lernen können, eigene Wünsche auszudrücken insbesondere Unmut und Ärger zu äußern, ohne verheerende Folgen befürchten zu müssen. Womöglich hat in ihrer Kinderstube die apostolische Mahnung "Ihr Kinder seid gehorsam euren Eltern", "ehre Vater und Mutter, auf daß dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden" (Eph 6) eine große Rolle gespielt. Womöglich hat sie auch liebevolle Eltern gehabt, die Spannungen, offenen Ärger und Auseinandersetzungen in der Familie ängstlich zu vermeiden suchten, weil ihnen Versöhnung und Frieden besonders wichtig waren. Ein solches Klima erschwert die Entwicklung von Selbständigkeit und Freiheit und fördert "liebe", angepaßte Verhaltensbereitschaften, für die jedoch ein hoher Preis gezahlt werden muß: die innere, unbewußte Spaltung zwischen Gut und Böse. Anna sieht sich allein als Versagerin gegenüber Gottes Gebot. Das Gute gehört zu Gottvater und zur Kirche: die christliche Ehe, die der Mensch nicht scheiden soll, in der Mißbrauch nicht sein kann, weil Frauen sich opfern. Das Böse gehört zu ihr, der unwürdigen, nicht gesegneten Tochter. Erlösung aus diesem Zustand gibt es für sie dann nur durch Anpassung, Vergebung und Versöhnung und den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit dem anderen über das geschehene Unrecht. In diesem Fall findet eine schädigende Anpassungsbereitschaft eine kulturelle Stütze durch die christliche Tradition, freilich in subjektiv verzerrtem Verständnis.

Kommentar zum 2. Beispiel

Die Berichterstatterin setzt sich rückblickend selbstkritisch mit ihrem Verhalten als Pfarrfrau auseinander. Wie sie resümierend feststellt, hatte sie sich über die Wirklichkeit getäuscht, sowohl über die Gewaltdynamik in Inzestfamilien als auch über Möglichkeiten und Grenzen eines Seelsorgegesprächs in diesem Fall. Sie führt ihre Fehleinschätzung des Gewaltsystems in der betreffenden Inzestfamilie zurück auf ihre "Meinung über Familie", abgeleitet aus christlicher Tradition, Ausbildung und gesellschaftlichem Status. Ihr Familienbild war gekennzeichnet durch den Begriff der Harmonie. Sie war überzeugt, daß Verfehlungen durch ein offenes Gespräch, den guten Willen aller Beteiligten und ein Besserungsversprechen wieder gut gemacht werden können. Und sie glaubte schließlich, daß der seelsorgerische Auftrag der Pfarrfamilie darin bestünde, durch eine solches Gespräch das Böse aufzuheben und den Frieden wieder herstellen zu helfen. Aus der Tätertherapie weiß man, daß Täter wie Süchtige einem inneren Handlungszwang folgend Verantwortung für ihr Handeln nicht übernehmen. Man darf sich deshalb auf momentane Einsicht und Besserungsversprechen nicht verlassen. Täter müssen vielmehr mit ihrem Verhalten hart konfrontiert und daran gehindert werden, es fortzusetzen. Auch die Rolle der Ehefrau ist in diesem Zusammenhang kritisch zu sehen. Wenn sie zu dem, was Tochter und Mann sagen, schweigt, trägt sie als Mitwisserin dazu bei, daß die Wahrheit nicht voll aufgedeckt und der Mißbrauch fortgesetzt wird. Daß sie ihren Mann gegenüber dem Pfarrehepaar nicht auch noch belastet, mag aus konventionellen Gründen naheliegen. Doch vermutlich erfährt sie hier nicht zum ersten Mal, was zwischen Mann und Tochter vorging. So schweigt sie schon länger aus noch anderen Gründen. Es ist außerordentlich schwierig, seelsorgerisch oder beraterisch-therapeutisch mit Inzestfamilien zu sprechen. Thea Bauriedl meint, daß das Gewaltsystem nur aufgebrochen werden kann, wenn es den Helfern gelingt, "das Leid und die Not aller Beteiligten in sich (zu) spüren und mit ihnen zusammen einen Ausweg aus der sich ständig wiederholenden Gewaltszene (zu) suchen".

Die Pfarrfrau führt ihr falsches seelsorgerisches Verhalten auf ein christlich geprägtes Familienverständnis zurück, in dem der Harmonie ein hoher Wert beigemessen wird. "Seid miteinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, gleich wie Gott euch vergeben hat in Christus" (Eph 4,32) - diese Mahnung an die christliche Gemeinde, die familia Dei (Hebr 3,6), gilt natürlich auch für den Umgang innerhalb christlicher Familien. Und sollte die Seelsorgerin dem erschrockenen Vater nicht vergeben, ihm Umkehr nicht zutrauen? Heißt es nicht im Gleichnis vom verlorenen Schaf: "Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen" (Lk 15,7)? Sie nimmt die Verheißung des neuen Seins und die Ermahnung, schon jetzt daraufhin zu leben, offenbar ernst. Doch läßt sie sich darin auch verführen, die Macht des Bösen (Röm 7) zu leugnen, die noch nicht gebrochen ist. So spaltet auch sie zwischen Gut und Böse, den Kindern des Lichts und den Kindern des Ungehorsams, der Finsternis (Eph 5). Es liegt nahe, daß sie gemäß dem Wort Jesu "Ihr seid das Licht der Welt" (Mt 5, 14) es sich und ihrem Mann zutraut, hier seelsorgerisch einzugreifen, um das Böse zu überwinden. Doch identifiziert mit dem göttlichen Auftrag traut sie sich alles zu, werden die irdischen Kompetenzgrenzen übersehen, wird gar nicht erst überlegt, ob andere professionelle Hilfe passender oder gar notwendig wäre. Dieses Beispiel zeigt, wie trotz bester Absichten Unglück verlängert wird. Unter der falschen Idealisierung von Friedfertigkeit und Versöhnung wird verdeckte Gewaltdynamik und die Begrenzung eigener Handlungsmöglichkeiten verkannt.

Kommentar zum 3. Beispiel

Christiane hatte eine schwere Kindheit. Vater und Mutter konnten ihr offenbar nicht den notwendigen Schutz geben, so daß sie von einem innerhalb der Wohngemeinschaft lebenden Prediger mißbraucht werden konnte. Sie entwickelte die Vorstellung von Gott als einem strengen, furchteinflößenden und kontrollierenden Mann und nicht die von einer schützenden, haltenden und fürsorglichen Instanz. Offenbar fehlte der Vater oder ein anderer Mann in ihrer Familie, mit dem sie hätte korrigierende Vatererfahrungen machen können. Zweifellos hat sie Sehnsucht nach einem solchen guten Vater. In ihrer ersten Ehe setzt sich unbewußt das alte Schreckensbild durch, eine befriedigende sexuelle Beziehung mit ihrem Mann gelingt nicht. Erst als ihre Gottesvorstellungen korrigiert werden, kann sie aufatmen, und gewinnt ein neues, freieres Verhältnis zu sich selbst und zu Männern. In der Beziehung zu einem liberalen Seelsorger findet sie ihre alte Sehnsucht erfüllt, geliebt und auserwählt zu sein. An Stelle des bösen Predigers und ungenügenden Ehemannes hat sie jetzt endlich den früher abwesenden guten Gott-Vater gefunden. Gleichwohl ist zu fragen, warum sie sich nicht besser geschützt hat, warum sie soviel Hoffnung in diese Beziehung investierte. Die Predigt vom menschenfreundlichen, lebensfördernden Gott der Freiheit hat ihre Sehnsucht nach dem besseren Vater unmittelbar gestützt, so daß sie innerlich in die Position der kleinen, liebesbedürftigen Tochter gegangen sein wird, statt die Rolle der erwachsenen und nach Selbstbestimmung suchenden Frau beizubehalten. Als herauskommt, daß der Pfarrer sie wie andere Frauen sexuell ausbeutet, wird sie retraumatisiert, das alte, böse Gottesbild fixierend verstärkt. Und der Seelsorger? Er hat sich auf die Fragen dieser Ratsuchenden eingelassen und konnte dadurch zur Erweiterung ihres Gottes- und Selbstbildes beitragen. Er hat jedoch den Charakter der Übertragungsbeziehung verkannt: in ihm wurde der bessere Vater, die Repräsentanz des guten Gottes gesucht, nicht aber er selbst als Mann. Er hat sich verantwortungslos und unprofessionell verhalten, indem er die Frau verführte, die spirituelle Beziehung in eine sexuelle verwandelte. Die Berufsethik verbietet ihm zudem die Aufnahme körperlicher, sexueller Beziehungen.

Und doch hat er wiederholt gegen dieses Verbot verstoßen. Er wird zum Täter, indem er die Macht seiner Helferrolle und das Vertrauen und die Bedürftigkeit der Ratsuchenden ausnutzt, wodurch die Frau zum Opfer wird. Er selbst sieht sich nicht als Täter. Als sie ihn zur Rede stellt, bagatellisiert er sein Verhalten, weist sie auf ihre freiwillentliche Tat hin, auf ihre Selbstverantwortung als Erwachsene. Er leugnet, daß sie sich ihm in der Rolle des Seelsorge-Vaters anfänglich mit kindlichem Vertrauen offenbart hatte. Dadurch lernte er ihre Verletzung und Verletzlichkeit kennen. So konnte er sich genau auf ihre Bedürfnisse einstellen, so daß sie immer mehr Vertrauen faßte und schließlich wollte, was er wollte. Diese Schritte einer mehr oder weniger bewußten inneren Strategie führen auch hier wie bei Inzesttätern bis dahin, daß das Opfer zum Schweigen genötigt wird, ja daß das Opfer zum potentiellen Täter wird.

Möglicherweise hat der Seelsorger sich auch noch eine theologische Legitimation seines verbotenen Tuns zurechtgelegt mit dem Gedanken, daß die Liebe Gottes nicht abstrakt, sondern konkret erfahren werden wolle. Mit dieser Rationalisierung täuscht er sich über seine wahren Wünsche und Ängste - (warum kann er nur mit Abhängigen Beziehungen eingehen unter Gefährdung seiner beruflichen Existenz?) - ebenso wie über die Gesetze und Bedingungen seiner beruflichen Situation: die Situation der Ratsuchenden, den Übertragungsauslöser, den er als Geistlicher bietet, der nicht nur für den guten Vater, sondern darüber hinaus für das Heil der Welt steht, die Gültigkeit professioneller und berufsethischer Regeln. Als er später deren Anwendung, nämlich seinen Rausschmiß, befürchten muß, übt er ein weiteres Mal Gewalt aus durch den Hinweis auf den Schutz der Institution in der Öffentlichkeit, mit dem er die Frau zum Schweigen nötigt. Dieses Argument wiegt um so schwerer, als alle Institutionen die Tendenz haben, sich selbst zu erhalten, das heißt, die ihr angehörenden Täter eher zu schützen als deren Opfer. Der gute, befreiende, sich dem Menschen zuwendende Gott und die für diese Heilsbotschaft verantwortliche und als solche zu schützende Institution bilden in diesem Beispiel das polare Gegenbild zum strengen, kontrollierenden Gott, und damit einen Gedankenzusammenhang, der zur Selbsttäuschung und zu unverantwortlichem und situationsunangemessenem Handeln verführt, ja zur Wiederholung eines alten Gewaltszenariums unter konträrer Ideologie.

Zusammengefaßt: Das erste Beispiel zeigt eine Verführung zur Anpassung, das zweite Beispiel zeigt eine Verführung zu einer Idealbildung, das dritte Beispiel zeigt eine Verführung zu einer Ideologiebildung. Gestützt durch verschiedene Elemente aus der christlichen Tradition werden in allen drei Fällen aggressive Impulse und Verhaltensweisen nicht als solche wahrgenommen und reflektiert, sondern abgespalten. Dadurch wird gewaltförmiges Handeln ermöglicht, ja gefördert.

Alle drei Beispiele beruhen auf Zeugnissen von Frauen. Ihre Rolle und ihr Erleben konnte deshalb besonders ausführlich kommentiert werden. Dies kann die Täter weder entschuldigen noch die zugefügte Gewalt relativieren. Die Täter sind nicht aus der Verantwortung für ihr Handeln zu entlassen.

Literatur:

Allgemeine Literatur zu sexuellem Mißbrauch und Gewalt:
Gabriele Aman/ Rudolf Wipplinger, Sexueller Mißbrauch: Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. DGVT-Verlag, Tübingen 1997
Thea Bauriedl, Die Dynamik des sexuellen Mißbrauches, in KiZ, Berlin 1999, S. 62 - 74
Günther Deegener, Sexueller Mißbrauch: Die Täter. Beltz Pyschologie Verlagsunion, Weinheim 1995
Uwe Heilmann-Geidick/ Hans Schmidt, Betretenes Schweigen. Über den Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt. Mathias Grünewald Verlag, Mainz 1996
Marga Hirsch, Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie. Springer Verlag Berlin/Heidelberg, 3. Auflage 1994 bzw. Psychosozial-Verlag, Gießen 1999
KiZ - Kind im Zentrum (hg.) im EJF - Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerk,
Wege aus dem Labyrinth. Erfahrungen mit familienorientierter Arbeit zu sexuellem Mißbrauch. Im Eigenverlag, EFJ, Finckensteinallee 23 - 27, 12205 Berlin, Berlin 1999
Hertha Richter-Appelt (Hg.), Verführung - Trauma - Mißbrauch. 1896 - 1996. Psychosozial-Verlag, Gießen 1997
Anne-Marie Schlösser/ Kurt Höhfeld (Hg.), Trauma und Konflikt. Psychosozial-Verlag, Gießen 1998
Christina Thürmer-Rohr, Frauen in Gewaltverhältnissen: Opfer und Mittäterinnen. Zeitschrift für Sexualforschung 2, 1-13, 1998
Rosemarie Welter-Enderlin, Deine Liebe ist nicht meine Liebe. Herder Freiburg 1996, darin "Dominanz und Gewalt in Paarbeziehungen", S. 89 - 105

Literatur zu Übertragung/ Gegenübertragung und Ausbeutung/ Mißbrauch in Beratungen und Therapien:

Norbert Becker, Zur Übertragungs- und Gegenübertragungsliebe. in: Richter-Appelt (Hg.) 1997
Norbert Becker, Erotisierte Übertragung/ Gegenübertragung. in: B. Strauß (Hg.), Psychotherapie der Sexualstörung. Thieme Verlag, Stuttgart 1998
Marga Hirsch, Zur narzißtischen Dynamik sexueller Beziehungen in der Therapie. in: Forum der Psychoanalyse 1993, S. 303 - 317
Pia Thurmann/ Eva Südbeck-Baur, Zur Problematik der Sexuellen Ausbeutung in seelsorgerlichen Beziehungen. Bern 1997 (Herzogstr 17 bzw. 23, CH 3014 Bern, Schweiz)
Ursula Wirtz, Seelenmord. Inzest und Therapie. Kreuz Verlag, Freiburg 1989

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