"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)

V. Kirchliches Handeln

Werturteile und Handlungsmuster, die Gewalt gegenüber Frauen begünstigen, sind nach wie vor im kirchlichen bzw. theologischen Denken und Handeln und in den kirchlichen Strukturen wirksam.

Es ist deshalb zu fragen, welche kirchlichen Traditionen gewaltfördernde Strukturen verstärken, überkommene Einstellungen bestätigen und bestehende Tabus erhalten. Zum einen bedarf es in diesem Kontext eines neuen und erweiterten Nachdenkens über den kirchlichen Gebrauch des Autoritätsbegriffs, wobei das Gefälle zwischen Frauen und Männern in den kirchlichen Strukturen noch zusätzlich abgestützt wird durch eine Amtstheologie, die traditionell männlich geprägt ist, und Gottesvorstellungen, die männliche Machtausübung bestätigen können. Im theologischen und kirchlichen Verständnis von Sexualität und Ehe kann sich ein dadurch begünstigtes autoritär-männliches Verhalten ebenfalls frauenfeindlich niederschlagen. Zu denken muß geben, daß die im Auftrag der Männerarbeit der EKD sowie der Gemeinschaft der Katholischen Männer Deutschlands durchgeführte Studie "Männer im Aufbruch" ein unerwartet hohes Gewaltpotential gerade bei den eher "traditionellen", kirchlich sozialisierten Männern feststellt (Männer im Aufbruch 1998, S. 199 f)

Zum anderen steht eine gezielte Auseinandersetzung mit den Leitbildern und Idealen, die in der Kirche gepflegt werden, an (s. auch die Fallbeispiele Kap.II). So wird das Bild der Frau regelhaft und in höchst einseitiger Weise mit allgemeinen Harmoniebedürfnissen verbunden, während der Mann nach wie vor im Bild des christlichen Familienoberhauptes idealisiert wird. Das muß zu einer problematischen Rollenzuweisung führen, die wiederum von unterschwelliger Gewalttätigkeit auf der einen, Ohnmachtsgefühlen und verfestigter Opferhaltung auf der anderen Seite bestimmt sein kann. Schließlich ist die in unserer Gesellschaft lange Zeit kirchlich verantwortete religiöse Sozialisation kritisch in den Blick zu nehmen. Bis heute wird Sexualität in einer Weise tabuisiert und werden Rollenklischees so fortgeschrieben, daß ein angemessenes Problembewußtsein nicht entstehen kann. Die Identifizierung derer, die direkt oder strukturell vermittelt Gewalt ausüben, und derer, die Gewalt erleiden, gelingt kaum: sowohl die Täter als auch die Opfer von tendenziell gewalttätigen Grenzüberschreitungen nehmen sich häufig nicht als solche wahr. Ein Veränderungsprozeß wird damit eher verhindert als gefördert.

Der Autoritätsbegriff, die Leitbilder im Blick auf Frausein und Mannsein sowie Ehe und Familie und die Bewertung der Sexualität können eine gewaltfördernde oder auch eine gewaltmindernde Funktion haben. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es zu diesen Fragen inzwischen Erklärungs- und Handlungsansätze oder auch erprobte Konzepte: zur Gewaltprävention in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit mit Mädchen und Jungen, zu den notwendigen Veränderungen in der Darstellung von Frauen und Männern und der Darstellung von Gewalt in den Medien, zu Opferhilfe und Opferschutz in der Sozialarbeit, zur Arbeit mit Tätern, zur Beratung von Frauen in Krisensituationen und zu den notwendigen Schritten in Gesetzgebung und Strafverfahren. Die Kirche muß diese Ansätze zur Kenntnis nehmen und nach Kräften unterstützen und sie auch für die eigene Diakonie und Sozialarbeit, für die eigene Aus- und Fortbildung und für den eigenen dienst- und arbeitsrechtlichen Umgang mit dem Problem der Gewalt gegen Frauen fruchtbar machen. (vgl. zum Ganzen die "Handlungsansätze und Empfehlungen" in dem Bericht "Gewalt gegen Frauen" an die Synode der EKD 1997, S. 61 - 65, und die Beispiele kirchlichen Engagements in dem Materialheft zu dem Bericht)

Dabei gilt, daß die Institution Kirche und die kirchliche Männerarbeit die Aufgabe der Gewaltprävention in der Kirche nicht an Frauen und die evangelische Frauenarbeit delegieren darf. Machtmißbrauch und Gewalt zerstört nicht nur deren Opfer, sondern auch die - meist männlichen - Täter und die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche (vgl. die im Bericht an die Synode der EKD 1997 S. 62f genannten Aufgaben für die Männerarbeit). Daß Kirche und Diakonie sich im Bereich Opferhilfe und Opferschutz in vielen Fällen bereits engagieren, dafür sind die Frauenhäuser in evangelischer Trägerschaft oder die Mitternachtsmission und andere evangelische Initiativen für die Arbeit mit von Zwangsprostitution oder von Frauenhandel betroffenen Frauen gute Beispiele.

In allen diesen Bereichen sollte sich die Kirche herausgefordert sehen, ihre Ressourcen der Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen und bewußt einzusetzen. Durch kirchlich initiierte oder unterstützte Beiträge in angemessener medialer Gestaltung können z.B. Antigewaltprojekte unterstützt, Bündnisse gegen Gewalt gegen Frauen gefördert und ethische Grundsätze zukunftsweisend vermittelt werden.

Spezifische Aufgaben für kirchliches Handeln und praktisch-theologische Reflexion finden sich darüber hinaus in folgenden kirchlichen Handlungsfeldern, die hier nur in aller Kürze und exemplarisch angesprochen werden können.

1. Verkündigung und Gottesdienst

Während die Themen Krieg und Frieden, Rassismus oder politischer und wirtschaftlicher Machtmißbrauch seit Jahren in Predigten eine wichtige Rolle spielen, werden die Themen Sexismus und Gewalt gegen Frauen erst seit einiger Zeit als Aufgabe kirchlicher Verkündigung gesehen. Predigten, Bibelarbeiten und Andachtsliteratur können aber die verborgenen Hintergründe von Geschlechtergewalt im persönlichen und im überindividuellen Bereich aufdecken, Unrechts- und Verantwortungsbewußtsein schärfen und zur Norm- und Gewissensbildung beitragen. Biblische Texte, in denen von Gewalt gegen Frauen erzählt wird, können dabei als Sprachhilfe für Erfahrungen von Gewalt und als Identifikationsangebot für Frauen wie für Männer hilfreich sein. Frauengruppen aus landeskirchlichen Gleichstellungsstellen und evangelischen Frauenverbänden haben solche und andere für Frauen relevante Texte als Ergänzung der geltenden Perikopenreihen zusammengestellt. Predigten sollten generell nicht nur von "dem Menschen", sondern differenzierend von Frauen und Männern reden und die sich wandelnden Frauen- und Männerrollen positiv aufnehmen. Sie sollten Frauen - und auch Männern - vermitteln, daß Selbstbewußtsein, Ichstärke, die Fähigkeit zur Abgrenzung und zum Vertrauen in die eigenen Gefühle und die Freude an der Geschlechtlichkeit biblisch und theologisch legitim sind. Sie sollten Männer - und Frauen - ermutigen, tendenziell gewalttätige Wege der Selbstbestätigung und Selbstdurchsetzung zugunsten von gleichwertigen und gegenseitigen Beziehungen, auch im sexuellen Bereich, aufzugeben.

Erfahrene Gewalt und die Versuchung zu gewaltsamem Handeln sollten in gottesdienstlichen Schuldbekenntnissen und Fürbittengebeten angesprochen werden. Dabei muß eine Sprache gefunden werden, die einerseits deutlich macht, daß alle Frauen und Männer der Gemeinde in der einen oder anderen Weise von Gewalt beschädigt und für Gewalt mitverantwortlich sind, und die andererseits betroffene Frauen in ihrem je eigenen Leid ernstnimmt. Weder dürfen Frauen, als einzelne Betroffene oder als Gruppe, auf den Opferstatus festgelegt werden, noch dürfen, trotz einer eindeutigen Parteinahme für die betroffenen Frauen, Männer auf die Täterrolle festgelegt werden. Eine dem Problem angemessene Sprachform ist die Klage. Die biblischen Klagepsalmen ermöglichen es, Gewalterfahrungen in einer Weise zur Sprache zu bringen, die Gott beim Wort nimmt (vgl. Kap. III,5). In Taufgottesdiensten können Eltern, Paten und Patinnen und die Taufgemeinde ausdrücklich darauf verpflichtet werden, die körperliche und seelische Unversehrtheit des ihnen anvertrauten Kindes zu achten und zu schützen. Gerade in der Taufe wird deutlich, daß ein Mädchen, ein Junge "ein Kind Gottes" ist, über das Eltern und andere Verantwortliche keine Verfügungsgewalt haben. In Traugottesdiensten kann die Gleichwertigkeit der Eheleute betont werden und die Aufforderung zur gegenseitigen Achtung und Liebe auch im Blick auf den Respekt vor der körperlichen Selbstbestimmung beider Partner konkretisiert werden. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wird zunehmend sorgfältig mit der Sprache und den sprachlichen Bildern in Predigt und Liturgie umgegangen. Frauen sollen nicht länger durch einseitig männliche Formulierungen ausgegrenzt und diskriminiert werden. Frauen und Männer sollten sich nicht länger auf einen ausschließlich männlich dargestellten Gott beziehen müssen. Das Bemühen, die Gleichwertigkeit von Männern und Frauen auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, trifft vielfach auf Ablehnung und Aggression, weil es Männer wie Frauen in Rollen, in denen sie sich eingerichtet haben, verunsichert. Gerade deshalb sollten in Agenden, Gesangbuchliedern, modernen Bibelübersetzungen und anderen kirchlich sprachbildenden Texten Frauen und Männer möglichst gleichwertig benannt werden.

2. Religionspädagogik

Die religiöse Sozialisation hat einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung von Frauen- und Männerbildern und der Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle. Durch religiöse Erziehung in kirchlicher Trägerschaft, d.h. in Kindertagesstätten, im Kindergottesdienst, in der Christenlehre, im Religionsunterricht und im Konfirmandenunterricht, hat die Kirche die Möglichkeit, den in die gesellschaftlichen Strukturen eingegangenen gewaltfördernden Traditionen gezielt entgegenzuwirken und einen Beitrag zur Gewaltprävention zu leisten. Mädchen, die ihre eigenen Gefühle erkennen und achten, wissen sich als eigenständige Persönlichkeiten gewürdigt und ernst genommen. Mädchen, die gelernt haben, Erwachsenen gegenüber "nein" zu sagen, sind eher in der Lage, sich sexuellem Mißbrauch durch ihnen nahestehende Personen zu widersetzen.

Die in der Religionspädagogik verwendeten biblischen Geschichten, Lieder und Gebete dürfen deshalb nicht direkt oder indirekt die Aufforderung zu Unterordnung, Selbstverleugnung und Anpassung transportieren. "Wir können Mädchen beibringen, daß auch sie ihren Nächsten lieben sollen wie sich selbst, aber nicht auf Kosten ihrer selbst. ... Mädchen sollten lernen, daß es gesund, normal, menschlich und christlich ist, an die eigenen Wünsche und das eigene Wohlbefinden zu denken und gut für sich selbst zu sorgen." (Annie Imbens-Fransen, Es ist wohl besser, wenn wir (nicht) darüber reden. Sexuelle Gewalt und religiöse Erziehung, in: Eichler/ Müllner, Sexuelle Gewalt, a.a.O. S. 142-168; S. 167). Eine solche religiöse Erziehung ist Voraussetzung dafür, daß Frauen nicht auf Kosten ihrer eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit in Gewaltbeziehungen aushalten und daß sie ihren kleinen Töchtern in der Familie ein ermutigendes Vorbild sein können.

In Kindergarten, Schule und kirchlichem Unterricht muß besonderer Wert darauf gelegt werden, daß Mädchen und Jungen zu gleichwertigen Personen erzogen werden und alle in ihnen liegenden Talente und Fähigkeiten entwickelt werden. Religionspädagogische Materialien dazu gibt es in großer Zahl. Es ist eine besondere religionspädagogische Verantwortung, solche Impulse nicht durch eine unreflektierte geschlechtshierarchische Erziehung zu unterlaufen.

3. Seelsorge

Die Seelsorge an Opfern und Tätern der Gewalt gegen Frauen erfordert neben der besonderen Sensibilität für die psychische Befindlichkeit derer, die passiv oder aktiv am verletzenden Geschehen Beteiligten sind, auch eine spezifische Wahrnehmungseinstellung. Zunächst ist bei allem seelsorgerischem Handeln grundlegend davon auszugehen, daß ein Mensch all seine geistigen, seelischen und körperlichen Tätigkeiten unter dem Vorzeichen seiner weiblichen oder männlichen Geschlechtlichkeit erlernt, ausübt und lebenslang gestaltet: Insofern ist Geschlechtlichkeit nicht nur eine Eigenschaft unter anderen Eigenschaften. Sie prägt vielmehr ebenso vorgegeben wie persönlichkeitsspezifisch gestaltet das gesamte Erleben und Handeln eines Mannes oder einer Frau. In Fortschreibung einer heute zeitgemäßen Seelsorge, die sich längst hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Anwendungsgebiete und Handlungsfelder spezialisiert hat, sollten auf dieser Basis Seelsorgekonzepte entwickelt werden, die schwerpunktmäßig auf zwischengeschlechtliche Kommunikationsformen ausgerichtet sind. Nur so können die schwerwiegenden Folgen einer tiefgreifenden Verletzung, die die jeweilige Geschlechtlichkeit und damit das Identitätsempfinden betrifft, einer seelsorgerischen Bearbeitung zugeführt werden. Das in diesem Zusammenhang geforderte seelsorgerische Vorgehen wird besonders darauf achten müssen, die persönlichen Konflikte von Ratsuchenden nicht isoliert, sondern in ihrer Einbindung in das soziale Umfeld der Betroffenen zu sehen. Auf diesem Hintergrund ist in spezieller Weise auf die Verknüpfung von körperlichem und seelischem Verletztsein einzugehen (vgl. Michael Klessmann/ Irmhild Libau (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, Göttingen 1997). Dabei ist ein neuer und befreiender Umgang mit christlichen Symbolen sowie die Beteiligung an dementsprechend erarbeiteten kirchlichen Ritualen anzustreben. Nur unter dieser Voraussetzung bleibt Seelsorge bei Gewalt gegen Frauen nicht in wirkungslosen Appellen, eine allgemeine "Mitmenschlichkeit" zu leben, stecken. - Dabei sind die Anregungen aus der in Ansätzen vorhandenen feministischen Seelsorge (Aufarbeitung und Neuschreiben der persönlichen und kollektiven Geschichte von Frauen, vgl. Riedel-Pfäfflin/ Strecker, Flügel trotz allem, Gütersloh 1998) aufzunehmen.

Hinsichtlich der Mädchen und Frauen, die sexuelle Gewalt konkret erfahren haben, sind seelsorgerische Vorgehensweisen zu entwickeln, die zu einer gezielten Auseinandersetzung mit jenen einzelnen Elementen führen, die in ihrer Gesamtheit die umfassende Verletzung ausmachen. Bei den Opfern sind in aller Regel tiefsitzende (Bestrafungs- und Verfolgungs-) Ängste sowie das Erleben von Scham, Schuld und Hilflosigkeit zu bearbeiten. Sie sind aufzudecken und in Problembewußtsein zu überführen, um trotz aller weitreichenden Schädigung ein neues Identitätsgefühl bzw. Selbstbewußtsein zu erreichen. Seelsorgerisches Handeln sollte aber auch die Gewalttäter nicht ausschließen. Hierbei ist aktives Gewaltverhalten auch als Folgeerscheinung von negativen Lebenserfahrungen und ausgebliebenen Entwicklungsschritten zu bearbeiten: Hinter der zerstörerischen männlichen Dominanzhandlung mit all ihren Verletzungsfolgen im seelischen und körperlichen Bereich der Frauen verbergen sich in aller Regel verdeckte Selbstwertzweifel. Sie sind entgegen allen naheliegenden Kränkungsängsten und Abwehrhaltungen einer Auseinandersetzung zuzuführen, die auf die Ermöglichung gewaltfreien Handelns zielt. Wenn Seelsorge im Falle praktizierter (sexueller) Gewalt an Mädchen und Frauen sowohl die Opfer als auch die Täter erreichen will, schließt ihr Vorgehen eine konstruktive Religionskritik in theologisch verantworteter Weise ein: Religiöse Begründungen können sowohl einer Opfer- wie auch einer Täterhaltung unterlegt werden und in quälende oder lähmende Schuld- und Sühnvorstellungen einmünden. Demgegenüber sucht Seelsorge, das Ziel zu verfolgen, auf der Grundlage eines menschenfreundlichen Glaubens und einer darauf bezogenen systematisch-theologischen Reflexion zunehmend gewaltfreie Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu ermöglichen.

4. Organisation und Leitung

Auf allen Ebenen und in allen Bereichen kirchlicher Arbeit muß das Problem der Gewalt gegen Frauen thematisiert werden und müssen Verfahrensweisen zum Umgang mit Fällen von Gewalt im Raum der Kirche entwickelt und publik gemacht werden. Menschen, die als Opfer oder Täter von Gewalt betroffen sind und Rat und Hilfe suchen, dürfen nicht noch zusätzlich gegen Tabuschranken und Nichtverstehen, gegen Verschweigen und Verharmlosung ankämpfen müssen. Die Landeskirchen müssen ihre arbeits- und dienstrechtlichen Vorschriften überprüfen, wie sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Kirche sanktioniert wird, welche Möglichkeiten der Anzeigen und Beschwerden und welche Strukturen der Beratung und Begleitung gegeben sind. (Vorbildlich dazu das Papier der Evangelischen Kirche von Westfalen (hg.), Handreichung zum Umgang mit sexueller Gewalt, Mai 1998, und Evangelische Kirche im Rheinland (hg.), Abschlußbericht des Runden Tisches "Gewalt gegen Frauen" - Analyse und Empfehlungen für kirchenleitendes Handeln, Mai 1998.) Die kirchlichen Lebensordnungen müssen das Thema aufgreifen und deutlich machen, daß Männer und Frauen, die in einem kirchlichen oder diakonischen Beruf oder Ehrenamt arbeiten, eine besondere Verantwortung haben. Männer, die als Pfarrer, Seelsorger, Therapeuten, Berater, Religionspädagogen, Pfleger, Erzieher, Sozialarbeiter, Erwachsenenbildner, Jugendreferenten tätig sind, müssen sich immer wieder klar machen, daß ihnen ein Vertrauensvorschuß entgegengebracht wird, den sie unter keinen Umständen für einen sexuellen Übergriff mißbrauchen dürfen, auch nicht, wenn die Initiative vordergründig von dem jeweiligen Gegenüber ausgeht.

"Die Kirche ist berufen, ein sicherer Ort zu sein". Unter diesem Motto engagieren sich viele Gemeinden in den USA und inzwischen auch in Deutschland, um Gewalt gegen Frauen im Raum der Kirche zu verhindern. Das Motto geht zurück auf ein Programm zur Gewaltprävention in der Kirche auf gesamtkirchlicher und auf Gemeindeebene in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Amerika, initiiert von Joanne Chadwick, der Leiterin der Frauenkommission der ELKA. In Deutschland läuft z.B. in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg eine Kampagne, die das Programm "Die Kirche - ein sicherer Ort" unter dem Titel "Verbündete Kirche - Gewalt gegen Frauen und Mädchen wahrnehmen und überwinden" aufnimmt und Aktivitäten in weiteren Landeskirchen anregt.

Eine Kirche, die ein "sicherer Ort" gegen Gewalt sein will, muß als "Zufluchtsort" (sanctuary) erkennbar werden und Sanktionen (sanctions) ergreifen. Nicht zufällig enthalten diese beiden zentralen Begriffe des Programms das Wort "sanctus" - heilig. Kirche ist ein heiliger Ort, weil und soweit in ihr Gottes unbedingter Schutz und Parteinahme für die Schwachen, Verfolgten und Benachteiligten erfahrbar wird. Zu den sicheren Zufluchtsorten gehören nicht nur Frauenhäuser, sondern auch Gottesdienste, Gemeindeveranstaltungen und die Wohnungen von Gemeindegliedern. Besonders sie müssen ein Zufluchtsort sein, in dem Frauen und Mädchen sicher sein können, keine Gewalt zu erfahren. Zu den Sanktionen gehören nicht nur Disziplinarmaßnahmen und rechtliche Schritte, sondern auch das Bemühen, daß die wirkmächtigen sozialen Sanktionen Scham und Schande die richtigen treffen. Oft sind es gerade die betroffenen Frauen, die glauben, sich schämen zu müssen, während die Täter auf wortloses Einverständnis und faktische Komplizenschaft rechnen können. (L. Macdonald a.a.O. S. 70f)

Gemeinden, die sich auf dieses Programm öffentlich verpflichten, machen sich z.B. in ihren Gremien und in ihrer Bildungsarbeit über das Ausmaß und die gesellschaftlichen Ursachen von sexueller Gewalt kundig; informieren sich über örtliche Hilfsangebote, Notrufe, Schutzhäuser, Beratungsstellen und verbreiten diese Information in ihren Räumen und in ihren Veröffentlichungen; unterstützen diese Hilfseinrichtungen gegenüber staatlichen Sparmaßnahmen oder werden selbst Träger einer Einrichtung; bringen zuständige Stellen und Einrichtungen an einen Tisch; stellen ihre Räume für Selbsthilfegruppen zur Verfügung; bieten qualifizierte Seelsorge, Beratung und Gruppen für von Gewalt betroffene Frauen und Männer an; veröffentlichen Verfahrensweisen und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Mitarbeitern, die sich schuldig machen; machen Gewalt gegen Frauen zum Thema im Gottesdienst. Neben diesen konkreten Handlungsansätzen sind in einem weiterem Sinne auch die Bemühungen um die Gleichstellung von Frauen und Männern in den Strukturen der Kirche für die Gewaltthematik relevant. Eine gleichwertige und zahlenmäßig ausgewogene Beteiligung von Frauen in kirchlichen Ämtern und Leitungsfunktionen und von Männern in der praktischen diakonischen Tätigkeiten und im sozialen Ehrenamt muß langfristig dazu beitragen, daß die Geschlechtshierarchie abgebaut, neue Rollenvorbilder für Männer und Frauen entstehen und die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit zwischen Frauen und Männern eingeübt wird.

Literatur:

Carol J. Adams und Marie M. Fortune (Hg.), Violence against Women and Children. A Christian Theological Sourcebook. New York 1995

Joanne Chadwick, Die Kirche - berufen, ein sicherer Ort zu sein, in: Dokumentation der Tagung: Mordskerle. Zur Gewalt im Geschlechterverhältnis, veranstaltet am 12./13. 12. 1996 in Stuttgart, u.a. von der Frauenbeauftragten und dem Männerwerk der Evangelischen Landeskirche Württemberg, S. 56 - 61.

Martin Dubberke, Mann, Macht, Gewalt und christlicher Bußgedanke im Kontext. Zur Notwendigkeit spezifischer Beratung gewalttätiger Männer in der Evangelischen Kirche, hg. Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1997

Ulrike Eichler/ Ilse Müllner (Hg.), Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999

Aruna Gnanadason, Die Zeit der Schweigens ist vorbei. Kirchen und Gewalt gegen Frauen, Luzern 1993

Petra Heilig, Unser Schweigen wird uns nicht schützen. Zum sexuellen Mißbrauch von Mädchen und Jungen. Ein Arbeitsbuch für Frauengruppen, Klens-Verlag, Düsseldorf 1995

Michael Klessmann/ Irmhild Liebau (Hg.), Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, Körper - Leib - Praktische Theologie. Göttingen 1997

Lesley Macdonald, Jetzt schweigen die Frauen nicht mehr. Die Antwort der Kirche auf männliche Gewalt gegen Frauen, Reformierte Kirchenzeitung RKZ 2/ 1998, S. 65 - 71

Ursula Riedel-Pfäfflin/ Julia Strecker, Flügel trotz allem. Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption - Methoden - Biographien, Gütersloh 1998

Jutta Wojahn, Gewalt gegen Frauen und Mädchen, in: Kirche wird anders. Unterwegs zu einer Reform der Kirchen. Ökumenische Dekade "Solidarität der Kirchen mit den Frauen" 1988 - 1998, Christine Busch und Brigitte Vielhaus (Hg.), Düsseldorf 1998, S.

Paul Zulehner/ Rainer Volz, Männer im Aufbruch - Wie Deutschlands Männer sich selbst und wie Frauen sie sehen. Ein Forschungsbericht. Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland und Gemeinschaft der Katholischen Männer Deutschlands (hg.), Schwabenverlag, Ostfildern 1998

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