"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)

III. Biblische Erinnerung

1. Die Bibel bezeugt Gewalt gegen Frauen

Die Bibel (Altes und Neues Testament) bezeugt Gewalt, die Menschen angetan wird, und dabei noch einmal in besonderer Weise Gewalt, die Frauen angetan wird. Vorherrschend ist im Alten und Neuen Testament eine patriarchalische Grundstruktur, die den sozialen und rechtlichen Verhältnissen ihrer Entstehungszeiten entspricht, die sie aber auch befördert und ihrerseits bestätigt. Von solcher Gewalt zeugen besonders krass Erzählungen wie die von der Vergewaltigung der Tamar (2.Sam 13), der Dina (1.Mose 34), einer namenlosen Frau (Ri 19), vieler Frauen im Krieg (Ri 21), aber auch Texte, in denen deutlich wird, daß das weibliche Leben weniger zählt als das männliche. Dazu gehören aber auch Texte, in denen erkennbar wird, daß und wie Frauen ihr Subjekt-Sein genommen ist. So gibt es im Alten Testament nur eine Frau, von der gesagt wird, daß sie einen Mann liebt, nämlich die Saultochter Michal (1.Sam 18,20), während Frauen in dieser Hinsicht sonst nicht als Subjekte, sondern als Objekte erscheinen. Daß im Neuen Testament entsprechend gewaltgeladene Erzählungen fehlen, ist nicht so zu werten, als zeige sich hier eine gegenüber dem Alten Testament gewachsene Humanität oder gar Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, sondern hängt vor allem mit den unterschiedlichen literarischen Gattungen der Texte zusammen. Auch die neutestamentliche Zeit ist patriarchalisch geprägt. Zuweilen verschärfen neutestamentliche Texte patriarchale Elemente. So wird z.B. in 1.Tim 2,12ff. die Unterordnung der Frau unter den Mann mit 1.Mose 2 begründet und dabei der alttestamentliche Text selbst patriarchalisch zugerichtet, wenn etwa adam nicht wie in 1.Mose 2 als "Mensch", sondern - gegen den hebräischen Wortsinn - als "Mann" verstanden wird.

Die Wahrnehmung des in beiden Testamenten herrschenden Patriarchalismus ist notwendig, damit die Thematisierung alttestamentlicher Gewaltzeugnisse nicht zum Stoff der Fortsetzung christlicher Judenfeindschaft oder auch nur der Vorstellung von der angeblichen Überlegenheit der christlichen Ethik gegenüber der jüdischen herhalten kann. Deshalb ist die Feststellung wichtig, daß das Alte Testament für Jesus und die frühen Christinnen und Christen ebenso die Bibel war wie für Jüdinnen und Juden. Dazu gehört aber vor allem die Feststellung, daß die genannten alttestamentlichen Erzählungen, die von unmittelbarer, vor allem sexueller Gewalt gegen Frauen handeln, keineswegs als normative Texte verfaßt oder verstanden wurden. Diese (so nannte sie die Exegetin Phyllis Trible) "Texts of Terror" lösten vielmehr bei den ersten Adressatinnen und Adressaten kaum weniger Erschrecken aus als bei späteren und heutigen Leserinnen und (hoffentlich auch) Lesern. Daß biblische, vor allem alttestamentliche Texte Gewalt überhaupt und dabei auch und besonders Gewalt gegen Frauen bezeugen, bedeutet nicht, daß sie sie billigen oder ihnen das letzte Wort lassen. Sie sind dann ebenso Ausdruck des Elends wie Protest gegen das Elend, ebenso Zeugnis der realen Gewalt wie Zeugnis des Versuchs ihrer Überwindung. Das Verschweigen wäre nicht Ausdruck größerer Humanität, sondern geringerer Ehrlichkeit. Nicht zuletzt das Herunterspielen bis Verschweigen der harten Gewalttexte, die in Predigten und Religionsbüchern kaum Erwähnung finden und deshalb oft unbedacht und unbearbeitet bleiben, führte dazu, daß Menschen, die sie eines Tages entdecken, im Erschrecken vor dem zuvor Verschwiegenen und Verdrängten nun zu der Folgerung kommen (müssen), die ganze Bibel abzulehnen.

2. Lektüre(n)

Die Welt der Bibel ist eine patriarchalische Welt. Das gilt zunächst grundsätzlich. Wo in der Lektüre der Bibel dieser gesellschaftliche und soziale Rahmen überspielt wird, wirken (zumal in einer Zeit, die nicht mehr von offenem, fraglosen Patriarchalismus geprägt ist) bestimmte Zeugnisse um so subtiler. Die Patriarchatskritik darf sich daher nicht auf eine bestimmte Gruppe von Gewalttexten beschränken oder etwa Jesus und das Neue Testament aus dieser Kritik ausnehmen wollen. Die grundsätzliche Feststellung patriarchaler Sozial- und Wertformen macht nun aber aufmerksam für die biblischen Linien und Optionen, die dem herrschenden Patriarchalismus nicht folgen. Die (christliche) Lektüregeschichte der Bibel und der gegenwärtige kirchliche Sprachgebrauch hat durch die zusätzliche Unsichtbarmachung von Frauen und von weiblichen Aspekten in der Rede von Gott und Menschen den Patriarchalismus oft fester gezurrt, als er in der Bibel selbst ist. So wurden z.B. die Gleichnisse Jesu oft zu rasch allein auf das Reich Gottes bezogen, so daß die in ihnen zur Sprache kommende Lebenswirklichkeit (nicht zuletzt die von Frauen) nicht eigens in den Blick kam und kommt. So wurde in den (von den Übersetzungskommissionen hinzugefügten) Überschriften biblischer Kapitel und Abschnitte nicht selten die in der Bibel selbst dargestellte Lebenswirklichkeit von Frauen "bürgerlich" uminterpretiert. So wird aus der in Spr 31,10-31 geschilderten selbständig agierenden starken Kauffrau eine "wackere" (oder gar: brave) Hausfrau".

Die im 1. Mosebuch geschilderten Erzeltern-Geschichten (in denen Sara und Hagar nicht weniger wichtig sind als Abraham, in denen Rebekka nicht weniger handelt als Isaak und in denen Rahel, Lea und den Mägden Bilha und Silpa und der Dina nicht weniger Aufmerksamkeit zukommt als Jakob und seinen Söhnen) wurden einseitig als Erzväter- (oder Patriarchen-)Geschichten benannt und gelesen. Es ist üblich, von den Betern der Psalmen zu sprechen. Aber beteten und beten nicht auch Frauen, gab und gibt es nicht auch Beterinnen? Es gibt Psalmen, deren Sprach- und Bildwelt sich in besonderer Weise erschließt, wenn sie als Psalmen einer Beterin gelesen werden und wenn die Gewalterfahrung, von der diese Psalmen handeln, als sexuelle Gewalt gegen Frauen verstanden wird. Ulrike Bail hat in ihrem Buch "Gegen das Schweigen klagen" eine solche Lektüre für Ps 6 und Ps 55 und deren Verknüpfung mit der Erzählung von der Vergewaltigung der Tamar (2. Sam 13) vorgelegt.

Die männliche (androzentrische) Verengung in der Bibellektüre zeigt sich vor allem im Blick auf Gott. Von Gott ist in der Bibel in Bildworten die Rede. Die Rede von Gott als "Vater" oder "König" ist nicht weniger metaphorisch (bildlich) als die von Gott als "feste Burg", als "Quelle", als "Fels", als "Mutter", als "Henne", als "Licht". In der christlichen Frömmigkeitsgeschichte kam es aber dazu, daß bestimmte Gottesprädikate (wie Vater, König, Richter, Herrscher) wie dogmatische Aussagen erscheinen (nicht: Gott ist - auch - wie ein Richter, wie ein Vater, sondern: Gott ist Richter, Vater ...), andere wie selbstverständlich als Bilder verstanden werden (Fels, Burg, Licht) und wieder andere in Vergessenheit gerieten oder gedrängt wurden (wie Quelle, Henne, Mutter). So erst wurde Gott - gegen das biblische Zeugnis selbst - eindeutig auf das Mann-und-Herrscher-Sein festgelegt. Dazu gehört vor allem die Tradition, anstelle des Gottesnamens das Wort "Herr" zu gebrauchen. Während die jüdische Aussprache des (mit den Konsonanten j-h-w-h geschriebenen) Eigennamens Gottes als Adonaj eine Wort- und Anredeform ist, die allein und ausschließlich Gott vorbehalten ist, läßt das deutsche Wort "Herr" keinen Unterschied hörbar werden zur Anrede, die jedem deutschen Mann zukommt (aber eben keiner Frau). Nicht zuletzt durch die in Liturgie und Gebet noch vorherrschende Sprache wird Gott auf ein Mann-Sein verkürzt und eine Nähe von Männlichkeit und Göttlichkeit zumindest nahegelegt. Gegen eine solche Festlegung heißt es in 5.Mose 4,16: "daß ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht, das gleich sei einem Mann oder Weib ...", und in Hos 11,9 heißt es: "Denn ich bin Gott und kein Mann". Bemerkenswert ist, daß das hier hebräische isch, welches "Mann" heißt, in der Lutherbibel mit "Mensch" übersetzt ist, während umgekehrt das Wort adam, welches "Mensch" heißt, in der Paradiesgeschichte weithin als "Mann" verstanden wird.

Es könnte scheinen, als entfernten sich derlei sprachliche Beobachtungen vom Thema "Gewalt gegen Frauen". Aber sie gehören unmittelbar zu diesem Thema, denn die Unsichtbarmachung und sprachliche Abwertung von Frauen und weiblichen Ausdrucksformen kann Gewalt gegen Frauen vorbereiten und ist bereits deren erster Schritt. Deshalb verdienen alle Versuche, in der Sprache der Kirche diese Tendenzen nicht weiter zu führen und - auch in experimentellen Formen - nach Alternativen zu suchen und durch die Überwindung der einseitig männlichen Gottesbezeichnungen die Fülle der biblischen Rede von Gott auszuschöpfen und dazu zuerst einmal wahrzunehmen, größte Aufmerksamkeit und Unterstützung, auch und gerade wenn es dabei zu Konflikten mit den Hör- und Sprachgewohnheiten in den Gemeinden kommen kann. Bei dieser Gelegenheit wäre daran zu erinnern, daß sich die Entstehung der Evangelischen (Protestantischen) Kirchen dem Hören auf die "Schrift" auch und gerade gegen kirchlich gewachsene Traditionen verdankt.

3. Die Realität von Gewalt gegen Frauen und die Kritik dieser Realität als Thema biblischer Texte

Namentlich im Alten Testament wird in schonungslosem Realismus von der Realität von Gewalt gegen Frauen berichtet. So erschreckend diese Texte sind, so sehr werden in ihnen die Frauen nicht noch einmal durch das Verschweigen dieser Gewalt entwürdigt. Noch da, wo in der Erzählung Männer scheinbar das letzte Wort haben, indem sie (wie Absalom, der die von ihrem Halbbruder vergewaltigte Tamar auffordert: "Und nun, meine Schwester, schweig! Dein Bruder ist er. Nimm dir diese Sache nicht zu Herzen" 2.Sam 13,20) zum Verschweigen der Untat aufrufen, läßt ihnen das Erzählen selbst das letzte Wort nicht. Und so fordert die Erzählung über das, was sie erzählt, hinaus, nicht zu schweigen, nicht zu verdrängen, nicht zu vergessen. Jeftas Tochter (Ri 11) wird geopfert, weil Jefta es in seiner durch ein Gelübde aufgeblasenen Macht als Vater so will. Anders als zur Rettung Isaaks (1.Mose 22) kommt hier kein Engel...Aber die Erzählung hält die Erinnerung an dieses Opfer männlicher Gewalt fest, wie die Frauen sie festhalten, von deren Gedächtnis zu Ehren der Tochter Jeftas am Ende der Erzählung die Rede ist. Die spätere Überlieferung gibt der in der Bibel namenlosen Frau einen Namen (Sche'ila) und damit Identität und Gedächtnis über den Tod hinaus.

Diese Erzählung steht ebenso im Richterbuch wie die in Ri 19 erzählte von der grauenhaften Vergewaltigung und Zerstückelung einer Frau, die zum Machtobjekt mehrerer Männer wird. In dieser Erzählung selbst und in den auf sie folgenden und aus ihr resultierenden türmt sich Gewalt auf Gewalt. Der Ort dieser Erzählungen im Richterbuch weist darauf hin, daß solche Gewalt die Folge mangelnden Rechts und Rechtsbewußtseins ist. (Für eine solche rechtlose Zeit steht das Richterbuch; es schließt mit den Worten: "... und jeder tat, was ihn recht dünkte.") Biblische Rechtssätze wollen nicht zuletzt solcher Gewalt wehren. Und so bleiben auch diese Gewalttexte nicht ohne kritischen Kommentar. In 5.Mose 22,26 heißt es über die Vergewaltigung: "Wie ein Mann gegen seinen Nächsten aufsteht und dessen Leben (man kann auch verdeutschen: dessen Kehle oder auch dessen Seele) tötet (mordet), so ist diese Sache." Hier wird dasselbe Wort gebraucht wie im Tötungsverbot der "Zehn Gebote". Vergewaltigung ist Mord - auch wenn das Opfer physisch überlebt. Die Bedeutung des Rechts gegenüber solcher und ähnlicher Gewalt zeigt sich im Alten Testament auch darin, daß das Gewaltmonopol der Familienväter gebrochen wird zugunsten des allgemeinen und öffentlichen Rechts. Frank Crüsemann, der in seinem Vortrag auf der Gelnhausener Konsultation im Vorfeld und im Zusammenhang der Arbeit an der hier vorgelegten Studie auf die Bedeutung des Rechts für das Thema "Gewalt gegen Frauen" hingewiesen und in seinem Werk "Die Tora" wichtige exegetische Grundlagen auch für diese Fragen erarbeitet hat, macht darauf aufmerksam, daß der Aspekt des Aufbrechens eines scheinbar dem öffentlichen Urteil entzogenen "Privatbereichs" gerade für den Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe von großer Bedeutung ist. Das gilt ebenso für den sexuellen Mißbrauch von Kindern, der ganz überwiegend in der Familie verübt wird, die eben kein "rechtsfreier" Raum sein darf.

4. Gott und Gewalt gegen Frauen

Zu den besonders erschreckenden biblischen Texten gehören die, in denen Gott selbst mit sexueller Gewalt gegen Frauen in Verbindung gebracht wird, ja nach dem Zeugnis der Bibel selbst Gewalt ausübt. Daß es sich dabei (jedenfalls vordergründig) nicht um "reale" Frauen handelt, sondern um weibliche Personifizierungen von Städten und Ländern (Hes 16,23 [Israel und Juda als Frauen]; Jer 13,22.26 [Jerusalem]; Hos 2,5-15 [Israel]; Nah 3,5 [Ninive] und im Neuen Testament Off 17-19 [die "Hure Babylon", hier in der Zuspitzung auf Rom]), nimmt der Gewalt nichts von ihrem Schrecken und ihrer Problematik. Zwar geht es in diesen Texten darum, daß Gottes Gewalt als Gegengewalt gegen Sünde, Hochmut und Macht ins Bild gesetzt wird, aber das kann nicht die Tatsache zum Verschwinden bringen, daß eben Gewalt gegen Frauen ins Bild gesetzt ist bzw. den realen Hintergrund der Bilder abgibt. Solange Frauen vergewaltigt werden, solange Vergewaltigungen von Frauen zum Krieg gehören - wie jede Vergewaltigung weniger als Form von Sexualität denn als Machterweis - , kann der Hinweis auf die Metaphorik den realen Gewaltkern solcher Perspektiven nicht beseitigen.

Im Blick auf diesen Aspekt des Themas ist noch viel zu bedenken und zu bearbeiten. Auch deshalb können hier nur zögernde und vorläufige Überlegungen formuliert sein. Eine erste bezieht sich darauf, daß der biblische Realismus Gott nicht aus der (und nicht aus dieser) Realität herausnehmen kann. Wie in allen Bereichen der sogenannten "Theodizeefrage" (der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens und der Gewalt in der Welt) könnte Gott nur um den Preis seiner Wirkungslosigkeit (und zu Ende gedacht: seiner Nichtexistenz) wirksam "entschuldigt" werden. Wenn Gott als Herr der ganzen Wirklichkeit geglaubt und bekannt wird, so können die dunklen und bösen Seiten der Wirklichkeit nicht unter Absehung von Gott zum Thema werden. Aber ebenso wichtig ist es, Gott nicht mit der Faktizität gleich zu setzen. Nichts, was ist, ist ohne Gott, aber Gott ist nicht identisch mit dem, was ist. Die Realität darf nicht mit der Totalität gleichgesetzt werden. Es kommt darauf an, wahrzunehmen, was ist, und zugleich zuversichtlich zu wissen, daß das, was ist, nicht alles ist. Alles hängt daran, der Realität keine Normativität zuzuerkennen. Es geht um den kleinen und doch so großen Unterschied zwischen dem realitätsbewußten Satz. "So ist es" und dem fatalistischen Satz "So ist es nun einmal". Das gilt auch im Blick auf Gott und sein Handeln. Gott ist nicht identisch mit dem Schicksal, und auf die Bibel gründender Glaube ist das schiere Gegenteil von Fatalismus. Hier wird gerade die Linie der Bibel wichtig, die die Möglichkeit der Frage an Gott, der Klage vor Gott, ja der Anklage Gottes bezeugt. In der Klage werden auch der Zorn über die erlittene Gewalt und die Wut gegenüber den Gewalttätern ihren Ort haben. Gerade wenn Zorn und Wut nicht das letzte Wort behalten sollen, müssen sie zu Wort kommen dürfen. Vor allem aber: Die Klage geht nicht ins Leere (wie wenn man ein Schicksal beklagt); sie hat Gott als Adressaten, und dieser Adressat kann ändern und sich ändern. Als Schlußsatz des oben genannten Gelnhausener Vortrags formuliert Frank Crüsemann: "daß dieser menschliche Gott ein Gott ist, der, wie es immer wieder heißt, bereuen kann, warum nicht auch manches aus diesem Themenfeld?"

5. Klage gegen das Schweigen

Noch einmal soll von Tamar die Rede sein, die von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt wurde. Ulrike Bail hat in ihrem Beitrag bei der genannten Gelnhausener Konsultation, basierend auf ihrem Buch zum Thema, folgendes ausgeführt, das hier in einem längeren Zitat die Bedeutung der Klage ins Gespräch bringen soll - und zwar sowohl im Blick auf die Lektüre und Auslegung biblischer Psalmen als auch im Blick auf deren mögliche gegenwärtige Bedeutung in Gottesdiensten und anderen Orten, an denen die Realität von Gewalt gegen Frauen zu Wort kommen kann, ohne daß es bei den "nackten Tatsachen" bleibt und damit zu einer nochmaligen Entwürdigung der Opfer kommt:

"Die Klagepsalmen können ... die abwesenden und ins Schweigen verbannten Stimmen hörbar vergegenwärtigen. Die protestierenden Aufschreie der Klagepsalmen können verknüpft werden mit den Geschichten der Gewalt gegen Frauen, auch mit der Geschichte Tamars, der vergewaltigten Königstochter. Wo die Texte der Gewalt schweigen und die Opfer zum Verstummen bringen, sprechen die Klagepsalmen der Einzelnen. Eine wesentliche Funktion der Klage ist es, für den Schrecken und den Schmerz eine Sprache zu finden. Damit ermöglicht die Klage den Opfern, den Schrecken und die Gewalt zu benennen, und die Mauer des Schweigens kann - wenigstens an einer Stelle - aufgebrochen werden. Die Texte der Klage sind immer auf der Seite der Opfer, auch auf der Seite der Opfer und Überlebenden sexueller Gewalt. Sie decken die Gewalt auf, benennen sie, machen sie hörbar und entlarven die Täter der Gewalttat und die Strukturen der Gewalt. Wenn man annimmt, daß die Klagepsalmen öffentlich in Gottesdiensten gesprochen wurden, bekommen sie eine politische und theologische Funktion. Klage bietet einen Ort, an dem der Schrecken ins Wort finden kann in der Gewißheit, daß die Texte der Klage solidarisch sind und keine andere Stimme die Stimme der Opfer verdrängt oder übertönt. Gott, der in den Klagepsalmen als Anwältin der Unterdrückten und Verschwiegenen benannt wird, steht dafür ein. In den Erzählungen der Gewalt gegen Frauen kommt Gott häufig nicht vor (z.B. 2. Sam 13, 1. Mose 34, Ri 19). Indem die Klagepsalmen auch als die Stimmen von Frauen, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind, gelesen werden, wird Gott in diese Erzählungen eingebracht. Und so könnte formuliert werden, daß in der Verknüpfung von Vergewaltigung und Klage Gott solidarisch eingeknüpft wird in die alltäglichen und allnächtlichen Erfahrungen der Gewalt gegen Frauen."

6. Voyeurismus, getarnt als Moralismus

Von der nicht nur, aber vor allem von Frauen wahrgenommenen Problematik theologischer Rede vom "Opfer" im Zusammenhang mit "Kreuzestheologie" ist an anderer Stelle die Rede. Hier soll es um einen theologisch weniger verwickelten Aspekt gehen, der gleichwohl im Blick auf gegenwärtige Wahrnehmung und Thematisierung von Gewalt und besonders Gewalt gegen Frauen nicht ohne Bedeutung ist. Abermals geht es um Sprechen und Sprache.

Im Blick auf die biblische Thematisierung von Gewalt gegen Frauen war mehrfach vom Verschweigen bzw. Nichtverschweigen die Rede. Nun begegnet man im Blick auf das Verschweigen als gegenwärtiger Form des (Nicht-) Umgehens mit dem Thema nicht selten dem Einwand, gerade über dieses Thema werde doch in den Medien pausenlos geredet. Das stimmt, aber es ist gerade keine Widerlegung der These vom Verschweigen. Denn es gibt ein Verschweigen durch Geschwätzigkeit. Vor allem aber ist die mediale Präsenz des Themas gekennzeichnet durch den häufig anzutreffenden Gestus der Medien, sich über das zu empören, das sie selbst produzieren. Im Gewand der Empörung aber wird nicht selten ein voyeuristisches Bedürfnis bedient. Man (vermutlich nicht nur "Mann") muß ja genau hinsehen, weil man sich empören muß! Das Angebot befriedigt die Sensationslust und den Reiz der Gewaltdarstellung, und gleichzeitig kann man sich versichern, ein guter (nämlich ein sich gegen die Unmoral empörender Mensch) zu sein.

Das Modell hat eine lange Tradition. In der darstellenden Kunst waren unter den biblischen Motiven besonders die beliebt, die diese beiden Bedürfnisse zu befriedigen wußten. Bilder von Lots Inzest mit seinen Töchtern, Darstellungen der badenden Bathseba oder von Susanna im Bade konnten die Lust am Verbotenen ebenso befriedigen wie den Moralismus. Da war dann z.B. eine Magd zu sehen, die schamhaft ein Tuch zwischen die badende Bathseba und den ganz hinten im Bild von Ferne blickenden David schob - um damit den Anblick der Nackten dem Bildbetrachter nur um so deutlicher zu präsentieren. Da konnte man sich am lüsternen Blick der Alten auf die badende Susanna versichern, daß diese Voyeure böse waren (und von Gott zu Recht bestraft wurden), und der eigene Blick war als Voraussetzung dieser moralischen Empörung ins Recht gesetzt. Gewiß: Für die Maler waren diese Darstellungen auch ein Mittel, der Zensur zu entgehen (sie malten ja nur biblische und hochmoralische Bilder!). Aber die Grenze zwischen der Freiheit der Kunst und der pornographischen Befriedigung auf Kosten von Frauen ist in vielen Fällen ebenso schwer zu ziehen wie die zwischen der Freiheit der Presse und einem Enthüllungsjournalismus, der Schamlosigkeit als Wahrheitssuche ausgibt. Daß Gewalt zum Unterhaltungsstoff wird, ist weder neu noch auf Gewalt gegen Frauen beschränkt. Und doch kulminiert diese Form der Gewaltdarstellung immer wieder in der Darstellung von Gewalt gegen Frauen. Die Verbindung der Themen Gewalt gegen Frauen, Sexualität und Religion bleibt hochexplosiv.

Literatur:

Grundlegende Beobachtungen und Reflexionen zum Thema
finden sich in den exegetischen Beiträgen zur Konsultation "Gewalt gegen Frauen - theologische Aspekte ", epd-Dokumentation 17/97:
Ulrike Bail, Gewalt gegen Frauen im Ersten Testament. Exegetische und theologische Aspekte, S. 3-7.
Frank Crüsemann, "Wie ein Mann gegen seinen Nächsten aufsteht und dessen Seele tötet, so ist diese Sache" (Dtn 22,26). Das Alte Testament - Wurzel von Gewalt gegen Frauen oder Chance ihrer Überwindung. S. 8-12.
Luise Schottroff, Gewalt gegen Frauen. Die Perspektiven des Neuen Testaments, S. 13 - 16
Gerd Theißen, Neutestamentliche Überlegungen zum Thema Gewalt gegen Frauen, S. 17-28.

Zur feministischen Perspektive auf die Bibel insgesamt sei auf zwei grundlegende Werke verwiesen:

Luise Schottroff/ Marie-Theres Wacker (Hg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998.
Luise Schottroff, Silvia Schroer und Marie-Theres Wacker, Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1995

Zum Thema im engeren Sinne finden sich zentrale Aspekte und jeweils weitere Literaturhinweise in den folgenden Werken:

Ulrike Bail, Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagespsalmen Psalm 6 und Psalm 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars. Gütersloh 1998.
Ulrike Bail, Susanna verläßt Hollywood. Eine feministische Auslegung von Daniel 13
in: Ulrike Bail und Renate Jost (Hg.), Gott an den Rändern, Gütersloh 1996, S. 91-98
Walter Dietrich und Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt,
Neukirchen-Vluyn 1995.
Ilse Müllner, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amon (2. Sam. 13, 1-22), Freiburg/ Breisgau 1997
Luise Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994.
Phyllis Trible, Mein Gott, warum hast du mich vergessen! Frauenschicksale im Alten Testament, Gütersloh 1987.
Marie-Theres Wacker, Figurationen des Weiblichen im Hoseabuch, Freiburg/ Breisgau 1996.

 

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