"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)

IV. Theologische Probleme und Anfragen

Wesentlich für eine theologische Reflexion der Gewalt gegen Frauen ist, Berührungspunkte zwischen überlieferten theologischen Inhalten und Gewalterfahrungen von Frauen zu entdecken und für die Reflexion fruchtbar zu machen. Erst an diesen Berührungspunkten kann die Relevanz einer theologischen Reflexion der Gewalt gegen Frauen deutlich werden. Das Themenspektrum möglicher vom Zusammenhang des Themas "Gewalt gegen Frauen" betroffener Fragestellungen ist breit, und reicht von der Bevorzugung männlicher Metaphern für Gott bis zur Identifikation Gottes mit den leidenden Gerechten, von der christologischen Nachfolgeethik bis zur Sühnopfervorstellung, von der Aufforderung zur Vergebung bis zur Opferethik des Leibes, von der Sexualität bis zur Frage nach dauerhaftem Zusammenleben in Ehe und Familie.

Nur exemplarisch können hier vier der zentralen Probleme dieses Zusammenhanges angesprochen werden.

  1. Herrschaft, Gewalt und Geschlechterdifferenz
  2. Die doppelte Last der Frauen: Schuld an der Sünde und Verpflichtung zu freiwilliger Selbstverleugnung in der Nachfolge
  3. Jesus Christus als Opfer von Gewalt und seine freiwillige Hingabe
  4. Rechtfertigung und Gerechtigkeit, Vergebung und Erneuerung

Für eine umfassendere Behandlung weiterer Gesichtspunkte einer Reflexion der Gewalt gegen Frauen werden einige Literaturhinweise gegeben. In der wissenschaftlichen Theologie bestehen allerdings noch erhebliche Forschungslücken hinsichtlich der Gesamtthematik.
     
1. Herrschaft, Gewalt und Geschlechterdifferenz
     
Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erleiden, sind oft in komplexe Machtgefüge eingebunden. Für die Legitimität dieser Macht können Täter frauendiskriminierende Argumente in Anspruch nehmen, die gesellschaftlich und theologisch noch immer wirksam sind. Dazu gehört der Satz, mit dem Gott der Frau in der Vertreibungsgeschichte die Herrschaft des Mannes über die Frau oder nach einigen Auslegungen über das sexuelle Begehren der Frau ankündigt und anordnet: "Nach ihm wirst du verlangen, er aber wird/soll über dich herrschen." Das hier verwendete hebräische Wort für "herrschen" kann Gewalt einschließen. Im Text aus dem 5.Kapitel des Epheserbriefs, der als klassischer Text für das Eheverhältnis herangezogen wird und bis in die Gegenwart die Eheliturgie bestimmt, heißt es: "Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn!" Die Unterordnung wird christologisch überhöht und legitimiert: "Denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das Haupt der Kirche ist".
     
Während sich Frauen ihren Männern (wie Gott!) unterordnen und diese fürchten sollen, wie es Untergeordneten gebührt, sollen Männer ihre Frauen lieben, denn, so wird die Anweisung an die Männer begründet, dann lieben sie sich selbst. Sie sollen die Frauen wie ihre eigenen Leiber betrachten, d.h. sie nähren und wärmen. Männer werden verpflichtet, für die ihnen untergeordneten Frauen zu sorgen, Frauen dazu, sich freiwillig und ehrfürchtig unterzuordnen. Macht, Hierarchie und die Chancen eines mündigen und eigenverantwortlichen Lebens mit anderen sind zwischen den Geschlechtern ungleich und statisch verteilt.
     
Eine theologische Reflexion, die ihren Beitrag zur Überwindung von Gewalt gegen Frauen leisten will, hat (wie jede theologische Reflexion) die doppelte Aufgabe der Dekanonisierung und der Rekanonisierung des christlichen Traditionsbestandes. Sie kann sich selbstkritisch darüber klar werden, daß der Patriarchalismus dieser Texte den Patriarchalismus der Wirklichkeit spiegelt, in dem die Texte entstanden sind, und daß er auch die Geschichte und die Theologie der christlichen Kirche prägt. Daneben kann sie eine andere biblisch bezeugte gewaltkritische Linie aufarbeiten und stark machen, in der das Evangelium von der Liebe Gottes zu allen Menschen und seiner besonderen Zuwendung zu den Schwachen adäquater zum Ausdruck kommt.
     
Eine Reihe biblischer Weisungen schließt Gewalt im Umgang unter Menschen und unter den Geschlechtern direkt aus. In der Schöpfungsgeschichte wird jeder Frau und jedem Mann die Würde gegeben, Bild Gottes auf Erden zu sein. Nach der Aussage des Paulus im 1.Korintherbrief wird dem Leib jeder Frau und dem Leib jedes Mannes die Bestimmung zugesprochen, Tempel und Wohnung des göttlichen Geistes zu sein. Gal 3,28 schließt aus, daß in der christlichen Gemeinschaft Differenzierungen nach Ethnien, gesellschaftlichem Status oder Geschlecht ökonomische, politische und soziale Hierarchien oder Gewaltverhältnisse begründen. Darüber hinaus legen viele biblische Texte eine Option für Schwache und Arme nahe.
     
Gewalt unter Menschen prinzipiell und speziell Gewalt gegenüber einer körperlich schwächeren Person ist als Verletzung ihres Körpers, ihrer Seele und ihrer Gottesbildlichkeit und in diesem Sinn zugleich als Verletzung Gottes zu beurteilen. "Wer Gewalt an Frauen übt, zieht Gott in Mitleidenschaft, tut Gott selbst Gewalt an." (Magdalene Frettlöh in: epd-Dokumentation 17/97, S. 37).
     
Auch im ersten Gebot läßt sich ein Einspruch gegen die Aussage des Epheserbriefs erkennen. Daß Gott "Gott" ist für die Menschen, die einzige Autorität, der dieser Anspruch zugestanden werden kann, bedeutet, daß alle menschliche Herrschaft von Menschen über Menschen fragwürdig ist und insbesondere gewaltsame Herrschaft von Menschen über andere Menschen, von Männern über Frauen und Mädchen zu verurteilen ist. Daher kann der Glaube an den christlichen Gott Menschen dazu befreien, keine Menschen als ihre "Herren" anzuerkennen. Machtausübung und Autoritätsverhältnisse unter Menschen können Christinnen und Christen nur anerkennen, wenn sie demokratisch als sinnvoll für ein gutes menschliches Zusammenleben begründet sind und wenn sie sozial und individuell einsichtig gemacht werden können. Die körperliche und seelische Integrität, die persönliche Würde und Freiheit der in Machtzusammenhängen Schwächeren müssen jede Beziehung ungleicher Macht begrenzen.
     
Vielfach bezeugen die biblische und die reformatorische Tradition, daß gerade den gesellschaftlich und körperlich Schwachen (die ja bis heute nicht selten identisch sind!) durch den Geist Gottes Macht gegeben wird, daß sie "ermächtigt" werden, selbst Verantwortung für das soziale und gesellschaftlich strukturierte Leben mit anderen Menschen und mit der nicht-menschlichen Natur zu übernehmen. Als Bilder Gottes bekommen sie den Auftrag zur "Herrschaft" über die Natur, als "Mitarbeiterinnen" und "Mitarbeiter" Gottes (Paulus) sollen sie das Zusammenleben der Geschöpfe mitgestalten, als Geisterfüllte werden Töchter und Söhne, Mägde und Knechte Botinnen und Boten Gottes in der Welt. Die Reformatoren proklamieren die Freiheit der Christenmenschen gegenüber allen anderen Menschen und erwarten, daß alle ihren Beruf erfüllen. Jede Christin soll sich an ihrem, jeder Christ an seinem Platz am Weltregiment beteiligen.
     
Opfer können sich durch diese Tradition berechtigt sehen, der Gewalt zu widerstehen und ihr eigenes Leben in Freiheit und Verantwortung vor Gott und vor ihren Mitmenschen selbstbestimmt zu gestalten. Potentielle Täter sollten sich aufgefordert sehen, die Achtung der persönlichen Würde und die Freiheit der Frau an die Stelle von Gewalt zu setzen.
     
2. Die doppelte Last der Frauen: Schuld an der Sünde und Verpflichtung zu freiwilliger Selbstverleugnung in der Nachfolge
     
Der prinzipiell gegenüber jeder Gewalt gegenüber Menschen kritischen Linie biblisch-christlicher Ethik stehen Ethiktraditionen entgegen, die gegebene patriarchale Strukturen stützen, sowie Traditionen einer Nachfolgeethik, die herrschafts- und gewaltkritisch wirken könnten, wenn sie von denen praktiziert würden, die illegitime gesellschaftliche Herrschaft und die Gewalt ausüben, die aber herrschafts- und gewaltfördernd wirken, wenn sie von denen internalisiert und praktiziert werden, die unter Gewalt leiden.
     
Seit der Vertreibungsgeschichte verlangt die jüdische und die christliche Ethik Frauen als Strafe für den Sündenfall deutlich mehr ab als Männern. Angefangen von der Herrschaft des Mannes über die Frau und den Schmerzen bei Schwangerschaft und Geburt, die der Frau nach 1.Mose 3 aufgebürdet werden, über den Ersatz der Gottesbildlichkeit durch die Mannesbildlichkeit in 1.Kor 11 bis hin zur Forderung der Zurückhaltung gegenüber Männern und in der Öffentlichkeit, der Demut, des Schweigens, des Schmuckverzichts und der Kindererziehung im 1.Timotheusbrief scheinen die biblischen Weisungen Frauen auf die freiwillige Unterordnung und auf die Opferrolle zu fixieren. Die den Frauen zugemutete größere Verantwortung für das Böse in der Welt und die gesellschaftlich bis heute von Frauen verlangte Anpassung an die weibliche Rolle verstärken die Ausprägung eines weiblichen Schuldbewußtseins.
     
Diese Last, die die theologische Tradition allen Frauen auferlegt, wird zusätzlich beschwert durch die Tradition einer Nachfolgeethik, in der freiwillige Selbstaufopferung, Selbstverleugnung, freiwilliges Ertragen von Leiden, Demut und Dienst im Zentrum stehen. Manche christlich sozialisierte Frauen, die Gewalt erleiden, neigen dazu, sich mit Jesus als Opfer zu identifizieren. In ihrem Leiden können sie sich ihm nah fühlen. Dabei verzichten sie auf die Möglichkeit, aktiv gegen das Leiden zu kämpfen. Wichtig für sie wäre, zwischen dem Leiden zu unterscheiden, das sie verändern können, und dem Leiden, das sie nicht verändern können. Aus veränderbaren Leidenssituationen können sich Frauen befreien, dies Leid könnten sie beenden.
     
Die christliche Ethik der Nachfolge gleicht auffällig der Ethik des als weiblich geltenden Geschlechtscharakters, die besonders im neunzehnten Jahrhundert ihre bis heute wirksame Prägung gewinnt. Seitdem heißt Frausein noch eindeutiger als zuvor: sich hingeben, demütig und zurückhaltend sein, immer zum Opfer bereit sein. Das kriterienlose Befolgen der Anweisungen zur Selbstverleugnung, zum Dienen und zur Unterordnung der Frauen unter Männer unterstützt Täter im Zufügen von Gewalt und festigt Strukturen, die immer wieder neue Opfer fordern. In den vergangenen Jahren haben feministisch-theologische Exegetinnen auf die theologisch problematische geschlechtsdifferente Asymmetrie der Nachfolgeethik aufmerksam gemacht. Sie haben

  • biblische Hinweise auf mögliche geschlechtsdifferente und patriarchatskritische Akzentuierungen in der Nachfolgeethik herausgearbeitet. So richtet sich beispielsweise die Kritik, in der Nachfolge die Ersten sein zu wollen, dezidiert an männliche Jünger, die eine Rangfolge erstreben. Wenn sich die Praxis derjenigen, die bisher aufgrund ihres Geschlechts an der Spitze der gesellschaftlichen und gemeindlichen Hierarchie stehen, an der Nachfolgeethik orientiert, wird den "anderen", die aufgrund ihres Geschlechts bisher "unten" waren, zum ersten Mal dasselbe Recht eingeräumt.
               
  • an biblische Weisungen erinnert, die den Imperativen der beschriebenen Nachfolgeethik widersprechen. So bestärkt die Gleichniserzählung in Lk 18 die Witwe, die den Mut hat, ihre eigenen Interessen zu vertreten und ihren Rechtsanspruch gegenüber dem ungerechten Richter und auch gegenüber Gott so hartnäckig einzufordern, bis dieser ihr gibt, was ihr zusteht.
               
  • alle ethischen Einzelweisungen vom Maßstab der Botschaft des Evangeliums her interpretiert, daß Gottes Liebe Frauen wie Männer aus ihren Verstrickungen in Sünde, Gewalt und Schuld, aus ihren Schmerzen angemessene Ethik in der biblischen Tradition ermutigt Frauen, die Gewalt erlitten haben, ihre passivitätsfördernden Identifizierungen mit dem leidenden Jesus zu beenden und dazu, aus lebensschädigenden Verhältnissen und Beziehungen auszubrechen. Leidenschaftlich protestieren die biblischen Schriften dagegen, daß alles was schlecht ist, so bleiben muß. Sie rufen den Mut biblischer Frauen und Männer in Erinnerung, den Exodus in das gelobte Land zu beginnen, die alten knechtenden Verhältnisse zu verlassen und in eine neue Menschen- und Gottesgemeinschaft aufzubrechen sowie Gottes Zusage, den Schwachen in ihren Befreiungsprozessen beizustehen.

3. Jesus Christus als Opfer
     
In den Schriften des Neuen Testaments wird Jesus Christus auf vielfältige Weise gedeutet. Im Kontext des Problems der Gewalt gegen Frauen ist besonders relevant, daß er als Opfer dargestellt wird, als ein Gerechter, der um der Liebe willen in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes leidet, der Folter und Demütigungen erträgt. Der leidende Jesus kann zum Vorbild, zum Leidensgenossen und Vertrauten von Frauen werden, die Gewalt erleiden. Manche identifizieren sich in ihrem eigenen Leiden mit Jesus, manche ordnen sich dann aber auch in einer Übernahme seiner freiwilligen Unterordnung unter den Willen Gottes Männern unter, die ihnen Gewalt zufügen. In diesem Sinn kann die Vorstellung von Jesus als Opfer Gewaltstrukturen festigen und Opfer in ihrem Opfersein festhalten. Fraglich bleibt, ob und wenn ja, in welcher Weise ein theologisches Nachdenken über Jesus als Opfer dazu beitragen kann, Gewalt zu überwinden. Um in diesem komplexen Zusammenhang zu möglichst großer Klarheit zu gelangen, wird eine Unterscheidung zwischen drei Aspekten des Opferbegriffs eingeführt, die eine Differenz im Opferbegriff spiegelt, die in vielen Sprachen, nicht aber im deutschen "Opfer" enthalten ist.
     
Unterschieden wird zwischen dem
     
Opfer als victim,
Opfer als sacrifice und dem
Opfer als freiwillige Hingabe.
     
victim
     
bezeichnet ein Lebewesen, das durch die beabsichtigte oder unbeabsichtigte Gewalttat anderer oder durch eine Naturkatastrophe getötet oder verletzt wird. Das Opfer selbst kommt nur als passives Objekt in den Blick.
     
sacrifice
     
meint demgegenüber ursprünglich ein religiöses Opfer, das durch eine besonders geheiligte Person, z.B. einen Priester oder durch gottesfürchtige Menschen aus unterschiedlichen Motiven wie Dank, Lob, der Bitte um Vergebung, Gnade oder Nähe der Gottheit dargebracht wird. Das Opfer kann ein Teil der Ernte oder der Mahlzeit sein, ein Tier, ein der opfernden Person wichtiger Gegenstand. Opfer als "sacrifice" hat einen (höheren) Sinn, der aus der subjektiven Perspektive der Opfernden das Opfer verlangt und dem das Opfer dient. Opfer im Sinn von "sacrifice" ist somit subjektiv und aus der Beobachterperspektive ein "Opfer-für".
     
Opfer als Hingabe
     
meint eine freiwillige Gabe, die eine Person für etwas ihr Wichtiges gibt. Im Extremfall gibt sie ihr Leben hin, um der Wahrheit treu zu bleiben, für die sie einsteht und der sie sich verpflichtet sieht, oder um eine andere Person vor Leiden zu bewahren und dies an ihrer Stelle auf sich zu nehmen.
     
Obwohl die drei Bedeutungen zu unterscheiden sind, werden sie im alltäglichen Sprachgebrauch häufig miteinander vermischt, dadurch können folgenreiche Mißverständnisse entstehen. In den neutestamentlichen Texten, in denen von Jesus als Opfer die Rede ist, ist nach der je spezifischen Bedeutung zu fragen. Nicht immer wird es möglich sein, aus unterschiedlichen jeweils begründeten Perspektiven einen Konsens darüber zu finden.
     
In den vergangenen Jahren wurde in der feministischen Diskussion der Begriff des Opfers für die vergewaltigte Frau problematisiert, weil er implizieren könnte, die Frau werde nur als passives Objekt des Gewalttäters betrachtet. Wenn hier von Frauen als Opfern von sexueller Gewalt die Rede ist und von Männern als Tätern, so werden beide als Subjekte verstanden. Da der Frau jedoch durch die sexuelle Gewalt vom Täter jede Selbstbestimmungsmöglichkeit genommen und ihr Schmerzen und Demütigungen zugefügt werden, kann sie in dieser Hinsicht als Opfer betrachtet werden. Dies steht bei der Reflexion der Gewalt gegen Frauen im Vordergrund, deshalb werden die Begriffe von Opfer und Täter verwendet.
     
In den Schriften des Neuen Testaments wird Jesus mehrfach als Opfer dargestellt, und zwar zum einen als "victim", das durch die Gewalt anderer sterben mußte, und zum zweiten als Opfergabe (sacrifice) Gottes, der der Welt seinen Sohn gab, um die Menschen zu retten. Schließlich begegnet er als Mensch, der in Treue zum Weg der Tora und der Liebe, den er begonnen hatte, sein Leben freiwillig hingibt, und mit dem sich Gott identifiziert. Den Jesus Christus als sacrifice und als Hingabe interpretierenden Texten ist gemeinsam, daß sie in seinem Opfersein und in der freiwilligen Hingabe seines Lebens das Heil und die Rettung aller Menschen und der Welt erkennen, insbesondere die Rettung der Menschen aus dem Gericht über ihre Sünden.
     
Der Hebräerbrief betont, daß Jesus das letzte Opfer für die Sünde war, das durch Gottes Geist dargebracht wurde, und sein Blut allen Erlösung von der Sünde verheißt (Hebr 9,12; 9,26; 10,14; 10,17).
     
Das Bild des Passahlamms (z.B. Joh 1,29; 1.Kor 5,7) und das des Sühnopfers (Röm 3,25) werden auf Jesus bezogen. Beides bleibt auf dem Hintergrund der Schriften des Alten Testamentes problematisch. Jüdische Theologie schließt ein kultisches Menschenopfer aus. Auch da, wo wie in 1. Mose 22 Gott ein Menschenopfer fordert, bleibt diese Forderung nicht sein letztes Wort. Vielmehr fällt sich Gott selbst ins Wort. Auch das mit dem Opfer als Hingabe operierende Bild des leidenden Gottesknechts läßt sich nicht bruchlos auf das Individuum Jesus von Nazareth übertragen, denn das Jesajabuch spricht von Israel als kollektiver Größe. In anderen Texten werden die Heilsbedeutung des Lebens, des Sterbens und der Auferweckung Jesu auch ohne die Opferterminologie und insbesondere ohne die explizit aus dem Alten Testament aufgenommene Sühnopfermetaphorik ausgedrückt. In diesen Texten werden beispielsweise mittels der Metaphorik der Knechtschaft und der Befreiung, des Sterbens und der Wiedergeburt, des Krankseins und der Heilung, der Bundeserneuerung, der Reinigung oder aber ohne weitere Metaphorik das Leben, Sterben und das neue Leben Jesu mit dem Leben, Sterben und dem neuen Leben von Christinnen und Christen verbunden.
     
Manche opfer- und gewaltkritischen Theologinnen und Theologen sehen einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Gott, der Leben schafft, und dem Gott, der ein Menschenleben als Opfer fordert oder nur akzeptiert. Sie nehmen den historischen Hintergrund der Sühnopfertheologie zur Kenntnis, lehnen es aber aus theologischen Gründen ab, sie in einer heute zu verantwortenden Theologie zu aktualisieren. In ihren Augen ist jedes Opfer ein Opfer zuviel, auch wenn es der Aufrechterhaltung einer guten Ordnung geopfert wird. Sie orientieren sich an biblischen Aussagen, nach denen der barmherzige Gott ohne Tötung Unheils- und Gewaltstrukturen überwindet, indem er Menschen Recht und Heilung zuteil werden läßt, denen Unrecht und Gewalt geschah, und indem er solchen, die Gewalt und Unrecht verübt haben, eine Umkehr zutraut und ihnen verzeiht. Damit ermöglicht er eine Erneuerung des Geistes und ein "Fleischlichwerden" der versteinerten Herzen, die sich in Verhaltensänderungen sowie in institutionellen Umstrukturierungen manifestieren.
     
Gegenüber diesen Positionen kann eine andere gewaltkritische Perspektive in der Rede von Jesus als Opfer schmerzliche, aber auch befreiende Aspekte entdecken.
     
- Jesus als victim
     
Die Evangelien nennen in ihren Darstellungen der Geschichte des Lebens Jesu vielfache Gründe dafür, daß Jesus zum victim der römischen Besatzungsmacht Israels wurde. An der Vorgeschichte seiner Tötung waren viele beteiligt, niemand verhinderte dies Opfer, weder seine Freunde und Freundinnen, die ihm folgten, noch die Menge, die forderte, daß Barrabas und nicht Jesus die Todesstrafe erlassen würde. Pilatus schob die Verantwortung für seine Anordnung der Vollstreckung des Todesurteils auf die Menge und wusch seine Hände in Unschuld. Alle Darstellungen der Geschichte Jesu stellen seine Tötung als Skandal dar. Ein Unschuldiger wird mittels eines legalen Verfahrens zum Opfer. Unrecht, Gewalt und Tötung geschehen im Namen der Legalität religiöser Institutionen und der Mehrheit. Auch die, die es für Unrecht halten, verhindern es nicht.
     
Zwar ist der Gedanke, daß Gott selbst Jesus als victim gefoltert oder getötet hätte, in den Schriften des Neuen Testaments nicht zu finden. Er begegnet in mehreren Kirchenliedern und bei systematischen Theologen noch im 20. Jahrhundert, die Gott beispielsweise als den bezeichnen, der die Nägel ins Kreuz geschlagen hätte, um Jesus daran aufzuhängen.
     
Einige neutestamentliche Texte legen durchaus nahe, daß die Tötung Jesu nach dem Willen Gottes geschah und daß durch sein Leiden und Sterben die Schriften erfüllt werden. Auch wenn Gott so mit der Gewalttat in Verbindung gebracht wird, daß sie seinem Willen entspricht, wird die Tat an keiner Stelle gerechtfertigt. Sie bleibt unmißverständlich Unrecht. Die Menschen, die Jesus quälen und Gewalt antun, sowie diejenigen, die es nicht verhindern, werden als die angesprochen, die für die Tat verantwortlich sind, als die, die den gewaltsamen Tod verschulden.
     
In Erinnerung an den Skandal dieser Tötung, in der Trauer und dem Erschrecken darüber, daß Jesus zum Opfer menschlicher Gewalttat wurde, richtet sich das Engagement des christlichen Glaubens gegen jedes individuelle, soziale und strukturell bedingte Handeln, in denen Menschen andere zum Opfer von Gewalt machen sowie gegen das schweigende Zulassen dieser Gewalt.
     
- Jesus als sacrifice
     
In der theologischen Tradition taucht der Gedanke mehrfach auf, daß ein Opfer einen gerechten Ausgleich bieten kann, wenn durch Unrecht und Gewalttat die Gerechtigkeit einer guten Ordnung des gemeinschaftlichen Lebens verletzt wurde. Gott wird als Garant dieser Ordnung gesehen, weil er auf der Seite derer steht, die Opfer (victim) des Unrechts wurden, die Gewalt ihnen gegenüber ruft seinen Zorn hervor. Indem Menschen die gerechte Ordnung beschädigt, Versprechen und Verabredungen gebrochen und Gewalt und Unrecht verübt haben, indem sie Schutzbedürftige verletzt und Hilfe unterlassen haben, haben sie selbst die gute und solidarische Gemeinschaft mit Gott, mit ihren Mitmenschen und mit der nichtmenschlichen Schöpfung zerstört. Sie haben andere zum Opfer (victim) gemacht, ihnen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit oder auf Leben genommen, sie beraubt, betrogen oder auf andere Weise geschädigt und sich damit selbst aus dem durch die gute gemeinschaftliche und gerechte Ordnung regulierten Zusammenleben ausgeschlossen. Wenn die in den Augen aller als gerecht anerkannte Ordnung einseitig gebrochen wird, ist ein Ausgleich erforderlich, der im Sühnopfer geschehen kann. In der ausweglos erscheinenden Situation der Unrechttäter, die ihrem sozialen Tod gleichkommt, bietet Gott ihnen eine unverdiente Chance, die Möglichkeit des Sühnopfers, das in einer kultischen Handlung erfolgt. Sie steht im Zentrum des einmal im Jahr zu feiernden Versöhnungstages, in dem das Volk Israel als Ganzes die Gelegenheit bekommt, das Versöhnungsangebot Gottes anzunehmen. Nach 3. Mose 16 soll ein Ziegenbock geschächtet und ein anderer mit den Sünden beladen in die Wüste geschickt werden. Im Ritual symbolisiert das Tierblut neues Leben für Israel in Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Der durch das Sühnopfer ermöglichte Ausgleich ermöglicht Gerechtigkeit. Er verschafft den Opfern Recht und dient der Erneuerung der Gottesbeziehung sowie der Resozialisierung der Täter.
     
Die Sühnopfermetaphorik wurde aus ihrem ursprünglichen Kontext entfremdet auf Jesus Christus übertragen, der dann als das Opfer gedeutet wird, das die Verletzung der Gerechtigkeit ausgleicht und Gottes durch die Gewalt und das Unrecht erregten Zorn besänftigt. Dieser Gedanke hat in der Liturgie und in den Liedern des christlichen Gottesdienstes bis in die Gegenwart zahlreiche Spuren hinterlassen. Feministische Theologinnen haben wiederholt darauf hingewiesen, daß er das theologische Mißverständnis fördere, Gott bedürfe zur Besänftigung seines Zorns eines Menschenopfers.
     
- Jesus gibt sein Leben freiwillig hin in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes
     
Die Vorstellung, Gott könnte das Opfer (sacrifice, victim) eines Menschen wollen, eines seiner geliebten Geschöpfe, das er bei seinem Namen gerufen hat, dem er wie den anderen zugesprochen hat, sein Bild zu sein, erscheint aus einer gewalt- und opferkritischen Perspektive als ein Widerspruch in Gott selbst.
     
Sein Einverständnis mit der Lebenshingabe Jesu kann allenfalls einsichtig werden, wenn vom Sinn der Lebenshingabe her geurteilt wird. Ohne den Gedanken des Sühnopfers läßt sich der Tod Jesu im Rahmen der biblischen Überlieferung auch als Bestätigung und Konsequenz seines Lebens interpretieren.
     
In den biblischen Texten wird nirgends Gott selbst als der genannt, der das Opfer fordert. Vielmehr ist es nach der Aussage des Hebräerbriefs die (singularische) Sünde oder nach der Aussage mehrerer Evangelien konkrete Täter und Täterinnen von Gewalt und Unrecht, die das Opfer (victim, sacrifice) erfordern, für sie gibt Gott in Jesus Christus sein Leben freiwillig hin. Er läßt zu, daß andere ihn zum Opfer (victim) machen. Die theologische "Notwendigkeit" dieser Hingabe gründet darauf, daß nur so die Menschen und der Kosmos aus der gewalt- und todbringenden Herrschaft der Sünde befreit werden konnten.
      
  Damit stellt sich die Frage nach Gottes Macht. Wie konnte er diesen ungerechten durch Gewalt herbeigeführten Tod zulassen? Hätte er ihn verhindern können? Wie kann er andere Tode durch Gewalt zulassen? War Gott in Jesus Christus ohnmächtig?
     
Diese schwierige Frage läßt mehrere Denkmöglichkeiten zu. Wichtige theologische Argumente sprechen dafür, daß sie um der Achtung der Freiheit und der Göttlichkeit Gottes willen offen bleiben sollte, daß hier menschliches Fragen nicht zu einer angemessenen Antwort kommen kann.
     
Eine andere theologische Denkmöglichkeit, als die die folgenden Überlegungen zu verstehen sind, versucht Gott von seiner Liebe aus gedanklich zu fassen. Daß nicht Gott das Opfer fordert und daß Jesus Christus aus Liebe und um der Rettung der Menschen willen trotzdem sterben mußte, könnte den Schluß nahelegen, daß es von Gott her keinen anderen Weg gab als diesen. Gott hätte diesen Tod zugelassen, weil er aus Liebe zu den Menschen wollte, daß sich Jesus Christus, mit dem er sich identifiziert hat und der nach der Aussage des Johannesevangeliums mit Gott eins ist, abhängig machte vom Tun der Menschen, die Jesu Tod zu verantworten hatten.
     
Selbst wenn Jesu Leiden und Sterben als Übereinstimmung mit dem Willen Gottes gedeutet werden, bedeutet das nicht, daß Gott aus Lust am Opfer seinen Tod wollte. Gottes Macht zeigt sich als freiwillige um der Liebe willen ertragene Ohnmacht Jesu während seiner Gefangennahme, seiner Folterung und am Kreuz, und erst in der Auferweckung des gekreuzigten toten Jesus als Sünde und Tod überwindende Macht.
     
Mit dieser Aussage über Macht und Ohnmacht Gottes ist eine Aussage über die Macht der Sünde oder des Bösen verbunden. Die Macht des Bösen wird als so groß vorgestellt und erfahren, daß sie dies Opfer gewaltsam fordern konnte, das kein Mensch zu erbringen in der Lage war. Nur Gott selbst in Jesus Christus war stark genug, anstelle aller Menschen diesen Kampf mit dem Bösen um den Preis der Hingabe seines Lebens zu erbringen. Nach Auskunft neutestamentlicher Schriften hat er diesen Kreuzestod durch die Auferweckung des Gekreuzigten ins Heil der Menschen verwandelt und die Macht der Sünde geschwächt, jedoch noch immer nicht beendet.
     
- Die Auferweckung Jesu als Gottes Widerspruch gegen das Opfer
     
Erst mit der Auferstehung bekommt die Lebenshingabe Jesu Christi ihren rettenden heilsamen Sinn. Gottes Auferweckung Jesu zeigt an, daß er keines Todesopfers bedarf, sondern dem, der sein Leben aus Liebe freiwillig für die Menschen gab, neues ewiges Leben schenkt. Gott widerspricht dem Opfer. Er will, daß der, der sterben mußte, lebt. In seiner Auferweckung erkennt der christliche Glaube die Verheißung, daß alle Opfer und alle anderen Menschen leben werden, ein gutes und freies Leben, in dem keine Gewalt mehr sein wird.
     
Die Aussage im Hebräerbrief, Jesus sei das einzige Opfer für die Sünde gewesen, könnte angesichts dessen, daß täglich und stündlich Frauen und andere Menschen zum Opfer von Gewalt werden und daß immer wieder Menschen gewalttätig werden, als Ignoranz oder als Hohn verstanden werden. Was hilft ihnen die Auferstehung des einen? In welchem Sinn kann die "Einzigkeit" verstanden werden?
     
Nicht mehr aber auch nicht weniger als dies: Nach der biblischen Überlieferung werden die Lebenshingabe Jesu und seine Auferweckung mit dem einzigartigen Versprechen Gottes verbunden, daß "wenn er wiederkommt" alle leben und aus der Gewalt und der Sünde gerettet sein werden. In der Perspektive des christlichen Glaubens sind die Mächte der Gewalt und der Verhängniszusammenhang der Sünde erst in seiner Person gebrochen. Daran dürfen sich Frauen und Männer, Mädchen und Jungen schon jetzt aufrichten und Kraft gewinnen für ein gutes Leben und für ein Verlassen der tödlichen Gewaltzusammenhänge. Sie dürfen darauf hoffen, daß am Ende der Zeit auch sie am neuen Leben in Fülle partizipieren.
     
Wird dies ernst genommen, stellt sich die Frage, ob theologisch der Wille Gottes überhaupt dafür beansprucht werden darf, daß Jesus Opfer wurde und dafür, daß in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft irgend ein Mensch zum Opfer wird. Auch der Gedanke des Johannesevangeliums und des Römerbriefs, daß Gott seinen Sohn zur Rettung der Welt gab, erscheint von daher mißverständlich. Er darf nicht isoliert davon betrachtet werden, daß sich gleichzeitig Jesus selbst in Treue zu seinem Lebensweg freiwillig hingab, und davon, daß die Gabe Gottes Jesu gesamtes Leben, seine Geburt, sein Wirken, sein Sterben und seine Auferstehung einschließt. Gott ist nicht das Subjekt, das ein passives Objekt, seinen Sohn, zum Opfer macht, Jesus nicht ein willenloses Werkzeug Gottes. Gott zeigt sich nicht als der herzlose Vater, der seinen Sohn opfert, sondern der aus Liebe in Jesus Mensch wurde, und sich so mit ihm identifiziert, daß er die Gewalt und die Sünde selbst erleidet, die Jesus zum Opfer (victim) machen.
     
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Textes alle weiteren christologischen Fragen zu behandeln, die im Problemzusammenhang der gewalt gegen Frauen relevant werden. Weder die Theologie der Stellvertretung noch die Kreuzestheologie noch die Eschatologie werden hier umfassend behandelt. Über die angegebene Literatur hinaus ist noch ein erheblicher Forschungsbedarf festzustellen.
     
Die praktische Relevanz der Vorstellung, Jesus Christus habe sein Leben freiwillig hingegeben, für das Problem der Gewalt gegen Frauen läßt sich an drei Punkten zeigen.
     
1. Opfer und zuweilen auch Täter sexueller Gewalt erfahren sich in ausweglosen Verstrickungen des Bösen. Der Teufelskreis der Gewalt erscheint geschlossen, die beteiligten Personen, Täter, Opfer und Wissende bestätigen die eingespielten Rollen durch Wiederholung, Schweigen und Akzeptanz.
     
In einer solchen Situation kann häufig nur die Hilfe einer nicht in die Gewaltzusammenhänge verstrickten Person dem Opfer oder dem Täter einen Anstoß geben, die eigene Befreiung zu suchen und zu versuchen. Mit der Vorstellung des Sühnopfers verbunden oder ohne sie ist an das Leben, das Sterben und die Auferweckung Jesu Christi nach neutestamentlichen Zeugnissen die Verheißung der Kraft gebunden, von diesen Verstrickungen frei zu werden. Die geschädigte Frau wird ermutigt, eigene Schritte ins Offene zu gehen, dem Täter wird die Chance einer Umkehr eingeräumt. Beiden wird eine Veränderung zugetraut.
     
2. Dafür, daß nach Jesus Christus kein weiteres Opfer für die Sünde und die Gewalt mehr erbracht werden soll, sind in erster Linie die Täter verantwortlich. Dennoch kann die Parteilichkeit Gottes auch Frauen, die Gewalt erlitten haben, stärken, aus ihrem Opfersein auszubrechen. In den Fällen, in denen es Alternativen gibt, die Mut zur Veränderung voraussetzen, sind die Frauen aufgefordert, neue Schritte zu gehen und Situationen vermeidbaren Leidens zu verlassen.
     
3. Daß Gott das Leben des Gekreuzigten ermöglicht und will, bedeutet für Frauen, die Gewalt erleiden mußten, daß Gott auch ihr Leben will, und daß er ihr gutes Leben will. Das Lebensverständnis der Bibel beschränkt sich nicht auf ein bloßes Überleben, sondern meint Leben in Fülle, ein gutes Leben mit den anderen Geschöpfen in Freiheit, Frieden, Freude, Liebe und Gerechtigkeit.
     
Die Überzeugung, daß theologisch kein Opfer (victim) gerechtfertigt sein kann, spricht dafür, daß die Identifikation einer Person, die Gewalt erleiden mußte oder noch immer muß, mit Jesus als Opfer problematisch ist. Sie darf ihn neben sich wissen, ist aber nicht gefordert, sein Leiden zu wiederholen. Gottes Identifikation mit dem Opfer Jesus Christus in dem dreifachen Sinn von victim, sacrifice und Hingabe und vor allem seine Auferweckung können Frauen davon befreien, bei einer einseitigen Identifikation mit Jesus Christus als Opfer im Sinn von sacrifice stehen zu bleiben. Sie ermutigen dazu, aus den Teufelskreisen der Gewalt, aus den Ängsten, Denkmustern und Gewohnheiten der Opferrolle auszusteigen. Nach Paulus hat Christus Menschen zur Freiheit befreit, nicht zum Leiden.
     
Konkret bedeutet dies, Frauen den Mut zur Trennung zuzusprechen, die wochen-, monate- oder jahrelang in der Wohnung bleiben, in der sie vom Vater der Kinder geschlagen werden, damit ihre Kinder den Vater nicht verlieren. Frauen, die aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes und aus Scham sexuelle Belästigungen weiter ertragen, handeln durchaus im Sinn christlicher Ethik, wenn sie wagen, an die Öffentlichkeit zu gehen ebenso wie Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigen. Eine ältere Schwester, die weiß oder vermutet, daß der Partner ihrer Mutter ihre jüngere Schwester sexuell mißbraucht, sollte sich immer wieder darum bemühen, mit der Schwester in Kontakt zu bleiben, und ihr beistehen, wenn es darum geht, die Familie zu verlassen.
     
4. Rechtfertigung und Gerechtigkeit, Vergebung und Erneuerung
     
In der öffentlichen Diskussion über Vergewaltigung, zuweilen in der Rechtsprechung und häufig in den Worten eines erwachsenen Täters zu einem minderjährigen Opfer sexueller Gewalt erscheint es so, als müsse sich das Opfer dafür rechtfertigen, daß es den Täter zur Tat provoziert habe. Der Rock sei zu kurz, das Verhalten zu aufreizend, das Lächeln und die Figur zu schön, die Reaktionen auf die Annäherungen des Täters zu animierend.
     
In der Öffentlichkeit, im privaten Umfeld und noch immer zuweilen bei der polizeilichen Vernehmung und in der Rechtsprechung müssen sich Opfer rechtfertigen, während theologisch die Rechtfertigung aller Menschen durch Gott in Jesus Christus verkündet wird.
     
Es ist die Aufgabe der Theologie, einem Mißverständnis der paulinischen Rechtfertigungstheologie entgegenzutreten. Daß sich Gott im Leben, Sterben und in der Auferweckung Jesus Christus mit allen Menschen versöhnt hat, rechtfertigt nicht die Gewalttaten der Täter, sondern schärft das Unrechtsbewußtsein für jede Gewalt, die Menschen angetan wird. Gott rechtfertigt sündige Menschen so, daß er zugleich den Opfern Recht schafft, indem er die Rechtfertigung der Gewalttaten verweigert. Seine rechtfertigende Gnade gegenüber jedem sündigen Menschen als die zentrale Aussage evangelischer Theologie hervorzuheben, ohne die Perspektive der Opfer und ihre Verletzungen zu berücksichtigen, wie es in einer lutherischen Theologie zuweilen geschieht, birgt die Gefahr, die Perspektive der Täter zum dominanten Ausgangspunkt theologischer Erkenntnis zu erheben. Damit würde die Rechtfertigungstheologie verwischt. Zwar läßt sich Gottes rechtfertigende Liebe zu Tätern nicht durch die Maßstäbe juristischer Gerechtigkeit eingrenzen, sie entläßt die Täter aber keineswegs aus ihrer Verantwortung für ihre Gewalttaten und deren Folgen, sondern befähigt und fordert sie zu einem neuen verantwortlichen, gewaltfreien und die Würde der "anderen" achtenden Handeln. Statt ihre Schuld zu verdrängen und zu vergessen, kommt es darauf an, daß sie lernen, sie nicht zu wiederholen und schon den Anfängen zu widerstehen.
     
Ein weiteres Mißverständnis der Rechtfertigung liegt darin, daß jede christlich glaubende Person ein Recht auf Gottes vergebende Gnade besäße. Wenn Gott sündige Menschen rechtfertigt und ihnen ihre nicht gerechtfertigten schädigenden Taten vergibt, kommt ihnen die Rechtfertigung unverdient, wie ein Geschenk, als freie Gnade Gottes zu. Vergebung kann nur freiwillig gewährt und wie im Vaterunser erbeten, aber gerade nicht eingefordert werden.
     
Ob Frauen, die Gewalt erlitten haben, den Tätern vergeben können, ist von der möglichen Vergebung Gottes noch einmal zu unterscheiden. Vergebung Gottes und menschliche Vergebung sind zwei Vorgänge, die sich nicht in jedem Fall entsprechen. Frauen, die Gewalt erlitten haben und nicht vergeben können, schließen Täter nicht von einer möglichen Vergebung Gottes aus. Die Vergebung Gottes jedoch macht die zwischenmenschliche Vergebung nicht überflüssig.
     
Einige biblische Texte bestätigen die Forderung von Frauen, die Gewalt von Männern erlitten haben, daß Täter ihre Schuld anerkennen müssen, bevor Vergebung ihrerseits möglich wird. Das Benennen der Tat, das Bekennen zu ihr und die Bitte des Täters um Vergebung können die Vergebung davor bewahren, auf der Seite der Täter ins Vergessen umzuschlagen. Daß Täter ihre Tat erinnern, auch wenn sie ihnen vergeben wird, läßt sie am Nicht-Vergessen-Können der Opfer teilhaben und ist eine Voraussetzung dafür, daß sie sich ändern.
     
Benennen und Bekennen der Gewalt sowie die Bitte um Vergebung auf Seiten der Täter stellen wichtige Schritte im Prozeß der Gewaltüberwindung und der Befreiung aus den Strukturen der Gewalt dar. Sie verlieren jedoch ihre Glaubwürdigkeit, wenn die Täter nicht bereit sind, die Kosten für die Folgen ihrer Gewalt zu übernehmen, so daß die Frauen, die Gewalt erlitten haben, eine Chance bekommen, sich vor der Bedrohung und der Angst sicher(er) zu fühlen und ein freieres Leben beginnen zu können.
     
Vergebung unter Menschen braucht Zeit, und zwar die Zeit derjenigen, die die Gewalt erlitten haben. Ausschließlich sie können über den Rhythmus einzelner Schritte im Prozeß der Vergebung bestimmen. Weder ein familiärer Wunsch nach Harmonie noch der Hinweis auf die von Gott allen angebotene Versöhnung rechtfertigen einen moralischen Druck auf Opfer, doch endlich dem Täter zu verzeihen. Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, besonders solche, die minderjährig Opfer wurden, leiden oft lange, wenn nicht lebenslänglich, an den Schuldgefühlen, in die die Täter sie gefesselt haben. Für sie ist es wichtig, daß sie lernen, ihre Schuldgefühle zu überwinden und sich selbst mit ihrer ganzen Geschichte zu akzeptieren. Manchen gelingt dies, indem sie Gottes Perspektive der Liebe auf sich selbst übernehmen, die die ganze unvollkommene und beschädigte Person annimmt und sie in ihrer Einzigartigkeit wertschätzt.
     
Die Theologie kann sich mit anderen dafür stark machen, daß Frauen, die Gewalt erlitten haben, vor jeglichem Rechtfertigungsdruck geschützt werden, wenn sie nicht vergeben (können).
     
Wenn Gott einem Täter vergibt und wenn eine Frau, die Gewalt erfahren hat, dem vergeben kann, der sie ihr zugefügt hat, trauen Gott und die Frau dem Täter eine Veränderung seiner Einstellung und seines konkreten Verhaltens zu, sie muten sie ihm aber auch zu und erwarten sie von ihm. Ein Schuldbekenntnis und die erfüllte oder nicht erfüllte Bitte um Vergebung verlangen konkrete Verhaltensänderungen der Lebenspraxis. Theologisch läßt sich kein Argument dafür anführen, daß Frauen Opfer von Gewalt und Männer Täter von Gewalt sind, sondern nur Argumente dafür, daß Männer nicht Täter und Frauen nicht Opfer bleiben. Es geht darum, daß Männer, die Täter waren oder sind, ein Leben ohne Gewalttaten suchen und führen, daß sie die Würde, die körperliche Unversehrtheit und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aller Menschen achten, mit denen sie zu tun haben. Es geht darum, daß Frauen, die Opfer waren oder sind, ein selbstbestimmtes, freies und eigenverantwortliches Leben beginnen, und daß Mitwisserinnen und Mitwisser ihr Schweigen brechen, die Gewalt öffentlich machen und den Opfern beistehen. Diese Erneuerungen sind aus der Perspektive des christlichen Glaubens mithilfe der Kraft des Geistes Gottes möglich und not-wendig.
     
Literatur: Ulrike Bail, Über die Langsamkeit der Vergebung, in Ulrike Eichler/Ilse Müllner (Hg.), Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999, 99 - 123.
     
Jürgen Ebach, Theodizee - Fragen gegen die Antworten. Anmerkungen zur biblischen Erzählung von der "Bildung Isaaks", in: ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1997, 1-25.
     
Ulrike Eichler, Weil der geopferte Mensch nichts ergibt, in: Dies., Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie, Gütersloh 1999, 124-141.
     
Evangelische Frauenarbeit in Deutschland e. V., Theologische Aspekte der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Frankfurt am Main 1996.
     
Frauenstudien- und Bildungszentrum der EKD in Zusammenarbeit mit der EFD (Hg.), Werkstatt-Tagung: "Gewalt gegen Frauen". Religiöse Aspekte des Opferbegriffs, Frankfurt am Main 1998.
     
Magdalene L. Frettlöh, Braucht Gott Opfer? In: Frank Crüsemann/ Udo Theissmann (Hg.), Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im christlichen Glaubensbekenntnis fehlt, Gütersloh 1998, 48-54.
     
Magdalene L. Frettlöh, Das Anlitz der Anderen, in: Gewalt gegen Frauen - theologische Aspekte (1). Beiträge zu einer Konsultation im Gelnhausener Frauenstudien- und Bildungszentrum der EKD, in: epd-Dokumentation 17/97, Frankfurt am Main 1997, 35-41.

Ute Grümbel, Abendmahl, Biblische Vorgaben, Erfahrungen und Ansichten, Konsequenzen für die Praxis, in: Lernort Gemeinde 17, 1999, 35- 42.
     
Ute Grümbel, "Für euch gegeben"?. Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern. Anfragen an Theologie und Kirche, Stuttgart 1997.
     
Wolfgang Huber/Hans Richard Reuter, Der Prozeß der Versöhnung, in: Dies.: Friedensethik, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 223-236.
     
Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff, Stuttgarter Bibelstudien 165, Stuttgart 1997.
     
Helga Kuhlmann, "Sie folgten nach und dienten ihm." Zum Begriff der Nachfolge in der theologischen Ethik, in: EvTh 53 (1993), 527-549.
     
Helga Kuhlmann, Zur Opferkritik der feministischen Theologie, in: Das Opfer. Religionsgeschichtliche, theologische und politische Aspekte, Arnoldshainer Texte 102, Frankfurt am Main 1998, 107-130.

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