Schritte auf dem Weg des Friedens

II. Wo stehen wir?

Erwartung und Ernüchterung angesichts der neuen Situation

Das befreite Aufatmen, zu dem die friedliche Beendigung des Ost-West-Konflikts berechtigte, verband sich für viele mit der hoffnungsvollen Erwartung, die Menschheit stehe nunmehr nicht nur in Europa, sondern weltweit am Beginn einer Friedensepoche. Die "friedlichen Revolutionen" gegen kommunistische Diktaturen, auch in der DDR, und die zunächst friedliche Auflösung des sowjetischen Imperiums haben gezeigt, daß ein Wandel scheinbar unlösbarer Konfliktlagen auf anderen Wegen als denen militärischer Gewaltanwendung zustande kommen kann. Der Erwartung folgte die schmerzvolle Ernüchterung: Neue Konflikte sind ausgebrochen und werden mit Waffengewalt ausgetragen. Ist die Erwartung friedlicherer Zeiten damit hinfällig geworden, oder kann sie in der Phase der Ernüchterung in neue Wege konstruktiver Friedenspolitik umgesetzt werden?

Anknüpfungspunkte für die Erwartung friedlicherer Zeiten waren und sind,

  • daß die nukleare und konventionelle Abrüstung in Europa und Nordamerika erstmalig vorangekommen ist,
  • daß, wie im Falle der für die künftige Politik der KSZE-Staaten wegweisenden "Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21. November 1990 und der vorausgegangenen Kopenhagener KSZE-Plattform vom 29. Juni 1990, Gemeinsamkeiten normativer Art zur "menschlichen Dimension" gefunden und festgeschrieben wurden und Menschenrechtsfragen dabei nicht mehr ausschließlich als innere Angelegenheit eines Staates gelten,     
  • daß die Vereinten Nationen für die Bewahrung des Friedens und die Durchsetzung des Rechts zunehmend an Bedeutung gewinnen und dies mit der Billigung der "Agenda für den Frieden" vom 17. Juli 1992, die vom Generalsekretär vorgelegt wurde, programmatisch zum Ausdruck gebracht haben und
  • daß in der östlichen Hemisphäre Prozesse politischer Befreiung und wirtschaftlichen Umbaus stattgefunden haben und weiter im Gange sind.

Ausgehend von diesen Entwicklungen richtet sich die Hoffnung darauf, daß die Lösung oder jedenfalls Inangriffnahme der überlebenswichtigen Probleme der weltweiten Armut und der fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens nunmehr endlich den ihnen gebührenden Vorrang im Aufgabenkatalog der Staaten und der Völkergemeinschaft erhalten. Die Zeit für einen ernsthaften Versuch zur Errichtung und Durchsetzung einer internationalen Ordnung des Friedens ist gekommen. Sie ist ein Schritt auf dem Weg, die Institution des Krieges als einer wie ein unabwendbares Schicksal hingenommenen Form zwischenstaatlicher Konfliktaustragung zu überwinden. Die Normen und Verbindlichkeiten, auf denen der Rechtsstaat in seiner sozialen Ausprägung beruht und die dem Zusammenleben innerhalb eines Gemeinwesens Halt geben, können und müssen - im Zuge eines solchen Verständnisses der vor uns liegenden Aufgaben - über das Völkerrecht zu allgemeiner Anerkennung gebracht werden und auch bei Konflikten zwischen staatlichen Gemeinwesen zur Geltung kommen. Die Erwartung einer neuen Chance des Friedens muß festgehalten werden als eine Perspektive, die keineswegs realitätsfern, vielmehr durch Erfahrungen gestützt und begründet ist.

Die Erwartung einer neuen Chance des Friedens wird freilich illusionär, wenn sie sich nicht der Ernüchterung durch die Vorgänge aussetzt, die auf die Wende von 1989/1990 gefolgt sind und zu neuer Beunruhigung über die Zukunft des Friedens in der Welt Anlaß geben. Dazu gehören insbesondere:

  • Verdeckt schwelende Konflikte, die vielfach mit der fehlenden Anerkennung der Ansprüche und Rechte von Minderheiten zusammenhängen und lange mit Zwangsmaßnahmen unterdrückt worden waren, sind in verschiedenen Regionen der Welt aufgeflammt. Ein wiedererstarkender Nationalismus, der zum Teil vorsätzlich geschürt wird, heizt sie an. Wo sich die staatliche Ordnung auflöst, kann das Gewaltpotential nicht mehr in Schranken gehalten werden und entlädt sich in militanten Aggressionen und bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen. Hier sind wir mit der Frage konfrontiert, wie diese Gewalt auf eine Weise gebändigt werden kann, bei der zugleich ohne neue Unterdrückung die auslösenden Ursachen angegangen und lebensfähige Ordnungen gewaltfreien Zusammenlebens gefördert werden.
  • Die Decke der Zivilisierung des menschlichen Verhaltens ist dünner, als wir geglaubt haben. Unter ihr sind auch heute noch die Bereitschaft zu archaischer Gewaltanwendung und die Fähigkeit zu Grausamkeit und Brutalität latent vorhanden - auch in Deutschland und in Europa.     
  • Die Domestizierung der Anwendung militärischer Gewalt durch den im System nuklearer Abschreckung gegebenen Zwang zum zwischenstaatlichen Gewaltverzicht in Europa funktionierte nur im Rahmen eines politischen Regimes der Weltmächte, das heute so nicht mehr existiert.     
  • Als Überhang aus dem Zeitalter der nuklearen Abschreckung bleibt die beunruhigende Frage: Was wird aus den nuklearen Potentialen, wenn sie nicht mehr in das Regime der politisch kontrollierten Abschreckung eingebunden sind und die Gefahr nuklearer Proliferation wächst?
  • Den Abrüstungsbemühungen und -erfolgen stehen gegenüber eine Rüstungsproduktion, die weltweit weiterhin auf hohem Niveau geschieht, und ein Handel mit Waffen, der nirgends erfolgreich eingedämmt ist. Ohne diese negativen Faktoren ließen sich viele blutige Konflikte der Gegenwart wesentlich erfolgreicher einengen oder sogar beenden.     
  • Die "Friedensdividende", die von einer durch die Auflösung der Ost-West-Konfrontation ermöglichten Abrüstung erhofft worden war, ist nahezu ausgeblieben. Damit fehlen - zumal in Zeiten weltwirtschaftlicher Rezession - weiterhin die finanziellen Ressourcen, um in einer internationalen Anstrengung die beiden zentralen Überlebensprobleme der Menschheit anzupacken: die Bedrohung der natürlichen Grundlagen des Lebens und die schreiende soziale Ungerechtigkeit, wie sie sowohl im Nord-Süd als auch im West-Ost-Wirtschaftsgefälle zum Ausdruck kommt. Je länger hier aber energische Anstrengungen und effektive Lösungsbeiträge ausbleiben, desto stärker werden die mittelbaren und unmittelbaren Gefährdungen des politischen Friedens spürbar werden. Die weltweite Migration und Fluchtbewegung, die vorerst Europa nur mit ihren Ausläufern erreichen, sind heute schon vor aller Augen. Gewaltsame Auseinandersetzungen um knappe natürliche Ressourcen (wie z. B. Erdöl oder Wasser) sind in wachsendem Maße zu befürchten.

So müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, daß mit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht das Ende der Notwendigkeit jeder Sicherheitspolitik eingetreten ist. Vielmehr sind neue Anstrengungen nötig, um dem in der UN-Charta vorgegebenen Gewaltverbot zwischen den Staaten den Weg zu bereiten und es durchzusetzen. Ernüchterung muß nicht zur Resignation führen. Sie kann und soll dazu beitragen, die Erwartung, die sich auf Bewahrung, Förderung und Erneuerung des Friedens richtet, mit der Aufgabe zu verbinden, Wege zu weisen, auf denen im Umgang mit politischen Konflikten Gewalt gebändigt und gemindert werden kann.

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