Schritte auf dem Weg des Friedens

IV.In welche Richtung müssen wir gehen?

Das Ende des Ost-West-Konflikts eröffnet die Chance, die friedenspolitische Verantwortung auf ein neues Fundament zu stellen und dem Wandel in stärkerem Maße politische Geltung zu verschaffen, der sich mit dem Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen vor nahezu 50 Jahren konzeptionell angekündigt hat. Gewaltanwendung im internationalen Bereich ist traditionell - und im Schatten der Konfrontation zwischen Ost und West auch noch in den letzten Jahrzehnten - als Form der Konfliktaustragung zwischen Staaten (und Bündnissystemen) angesehen und behandelt worden. Die Diskussion ist über die Forderung nach dem Vorrang politischer Konfliktlösungen vor gewaltsamem Konfliktaustrag kaum hinausgekommen. Insbesondere ist von dem in der Charta der Vereinten Nationen angelegten Entwurf einer auf der Herrschaft des Rechts basierenden Friedensordnung, die eine Revolutionierung der überkommenen Paradigmen internationaler Ordnungs- und Unordnungsvorstellungen bedeutete, nur wenig - und dann auch nur oberflächlich - Notiz genommen worden.

Dies gilt auch für die kirchliche Diskussion. Dabei bot das Ergebnis der 1. Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, aus dem heute leider in der Regel nur ein einziger Satz zitiert wird, einen Ausgangspunkt von bemerkenswerter Weitsicht und Tragfähigkeit. Im Bericht der IV. Sektion "Die Kirche und die internationale Unordnung", der "von der Vollversammlung geprüft und den Kirchen zu ernster Erwägung und geeignetem Vorgehen empfohlen" wurde, wurden folgende Überzeugungen als Leitsätze herausgehoben und "der ganzen Welt einmütig bezeugt":

  • "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein",
  • "Um des Friedens willen muß den Ursachen der Spannungen zwischen den Mächten zu Leibe gegangen werden",
  • "Die Völker der Welt müssen sich zu der Herrschaft des Rechts bekennen",
  • "Die Beachtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten muß durch nationale und internationale Maßnahmen gefördert werden",
  • "Die Kirche und die Christenleute haben angesichts der internationalen Unordnung bestimmte Verpflichtungen".

Daran knüpfen wir an, wenn wir im folgenden die Aufgaben friedenspolitischer Verantwortung in der gegenwärtigen Weltsituation beschreiben.

1. Stärkung der internationalen Friedensordnung

Vordringlich sind Schritte zur Stärkung der internationalen Friedensordnung, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen intendiert und angelegt ist.

  1. Eine internationale Friedensordnung, die funktionsfähig und wirksam sein soll, muß in einer bestimmten Weise rechtlich verfaßt und darum zumindest ansatzweise institutionalisiert sein, und sie muß unter der Herrschaft des Rechts ("rule of law") stehen. Sie unterliegt der Forderung nach Gerechtigkeit durch das Recht und ist insofern eine dynamische, gestaltungsbedürftige Ordnung. Sie ist darauf angewiesen, das Recht auch durchzusetzen.

Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Gleichheit ist die rechtliche Verfaßtheit der jeweiligen Gesellschaft. Dies gilt auch für die internationale Gemeinschaft der Staaten. Es geht nicht um die "Verstaatlichung" der internationalen Gemeinschaft, d. h. die schlichte Übertragung staatlicher Ordnungsvorstellungen auf die internationale Ebene. Wohl aber geht es um die Entfaltung und Sicherung fundamentaler Prinzipien internationalen Zusammenlebens, eben um die "Verfassung" der Staatengemeinschaft. Entscheidende Charakteristik dieser Verfassungsprinzipien ist die Einschränkung der staatlichen Souveränität durch das Gewaltverbot in den zwischenstaatlichen Beziehungen, durch die Etablierung einer internationalen Autorität über den Staaten, durch die Unterwerfung der innerstaatlichen Ordnung unter den Maßstab international anerkannter Menschenrechte und durch die Globalisierung einiger fundamentaler Aufgaben wie der Entwicklungspolitik oder der Umweltpolitik.

Eine internationale Friedensordnung muß nach dem grundlegenden Paradigmenwechsel von uneingeschränkter nationalstaatlicher Souveränität zur rechtlichen Verfaßtheit der Staatengemeinschaft, deren Ordnung allein vom Frieden her zu denken ist, bis zu einem gewissen Grade institutionalisiert sein. Hier werden Fragen nach der Stellung des Staates als traditioneller Identifikations- und Handlungseinheit akut: Werden universale und regionale internationale Organisationen, globale funktionale Organisationen und lokale politischsoziale Organisationsformen den Staat als dominante politisch-soziale Organisationsform ablösen oder doch ergänzen? Haben wir eine internationale Friedensordnung notwendigerweise als "entstaatlichte" zu denken, oder gibt es Gründe, sie als nur relativ institutionalisierte zu denken, in der der Staat als Identifikation stiftende und Geborgenheit gewährende soziale Einheit weiterhin konstitutives Element bleibt?

Eine rechtlich verfaßte internationale Ordnung kann nur Friedensordnung sein, wenn sie unter dem Recht steht, d. h. wenn das Recht in ihr als verbindlich anerkannt wird. Rechtsbefolgung wird also ein entscheidendes Element einer internationalen Friedensordnung zu sein haben. Friedenspolitik muß deshalb das Bewußtsein für Rechtsbefolgung stärken, insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit erkennen und um des Friedens willen je situationsspezifisch zum Ausgleich bringen wollen.

Friede ist ein Annäherungswert und deshalb auch als Rechtsordnung dynamisch, nicht statisch zu verstehen. Dies ist dann der Fall, wenn Recht nicht allein als Sicherung des status quo (Recht als "geronnene Wirklichkeit") aufgefaßt, sondern inhaltlich in einer bestimmten Weise gefüllt und als das rationale Mittel friedlichen sozialen Wandels begriffen wird. Friedensordnung als Rechtsordnung unterliegt der Forderung nach Gerechtigkeit durch das Recht und ist als ein Prozeß zu deuten, der auf die Minimierung internationaler Gewaltanwendung und die Zunahme von Gerechtigkeit zielt. Schutz der Menschenrechte, Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens, Schutz der Selbstbestimmung der politisch-sozialen Lebenseinheiten in gegenseitigem Respekt ihrer Identität und Integrität sind die materialen Gehalte einer internationalen Friedensordnung, an die anzunähern uns als Ziel aufgegeben ist.

Als Rechtsordnung ist Friede wie jede Rechtsordnung auch Zwangsordnung. Recht ist notwendig als Bedingung der Möglichkeit der Entfaltung einzelner ebenso wie sozialer Einheiten. Recht gilt jedoch nur, wenn seine Befolgung gesichert ist. Der vornehmste Beitrag zur Rechtsgeltung ist die Akzeptanz des Rechts. Eine Friedensordnung, international ebenso wie innerstaatlich, die ihre Geltung jedoch ausschließlich auf den Gedanken der Akzeptanz stützen wollte, entbehrt nach aller geschichtlichen Erfahrung der Realität. Im Konfliktfall muß Recht auch durchgesetzt werden. Die internationale Ordnung sieht eine Reihe von Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung mit friedlichen, d. h. nicht-militärischen Mitteln vor (so wie auch die innerstaatliche Rechtsdurchsetzung im Regelfall nicht mit polizeilichen, physischen Zwangsmitteln erfolgt). Hierzu zählen vor allem die Streitschlichtung, wirtschaftliche Maßnahmen und verschiedene Formen des Embargo. Das qualitativ Neue der durch das Recht der Vereinten Nationen begründeten, gewiß noch unvollkommenen internationalen Friedensordnung besteht darin, daß sie als ultima ratio auch den physischen Zwang als Mittel der Rechtsdurchsetzung kennt. Das Ende des Ost-West-Konflikts eröffnet die Chance, das Rechtsdurchsetzungssystem der Vereinten Nationen zur Geltung zu bringen.

  1. Schwierige Fragen zur Rechtsdurchsetzung ergeben sich im Blick auf die "humanitären Interventionen". Im Prinzip geht es dabei um den alten Konflikt zwischen staatlicher Souveränität einerseits und universaler Humanität andererseits. Historisch gesehen ist dieser Konflikt schon einmal entschieden worden, und zwar zugunsten der Souveränität der Einzelstaaten. Jeder Einzelstaat konnte von daher für sich in Anspruch nehmen, politisch zu bestimmen, welche Definition von Humanität und welches Recht in seinem Inneren und für sein Handeln gelten sollten. Im Rahmen einer internationalen Friedensordnung, die unter der Herrschaft des Rechts steht, kann eine so verstandene Souveränität nicht mehr uneingeschränkt akzeptiert werden. Die Völkergemeinschaft hat die Pflicht, zur Geltung und Durchsetzung der Menschenrechte beizutragen und darum den Opfern von Unterdrückung und Gewalt Schutz und Hilfe zuteil werden zu lassen. Dieser Einsicht zu allgemeiner Anerkennung zu verhelfen ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Stärkung der internationalen Friedensordnung.

Bevor jedoch eine humanitäre Intervention zur ultima ratio der Anwendung militärischer Gewalt greift oder das Maß der bereits eingesetzten militärischen Gewalt steigert, ist sorgfältig zu prüfen, ob diese Mittel aller Voraussicht nach tatsächlich leisten, was sie leisten sollen, nämlich über die Hilfe für die aktuellen Gewaltopfer hinaus den Schutz bzw. die Entwicklung einer funktionsfähigen Friedensordnung. Humanitäre Gesichtspunkte können eine Intervention mit militärischen Zwangsmitteln nur rechtfertigen, wenn

  • die Entscheidung über ein solches Eingreifen, die nicht der Souveränität einzelner Staaten überlassen bleiben darf, im Rahmen und nach den Regeln der Vereinten Nationen getroffen wird,
  • die Politik im Rahmen des Schutzes oder der Wiederherstellung einer rechtlich verfaßten Friedensordnung über klar angebbare Ziele einer Intervention verfügt,
  • die an den Zielen gemessenen Erfolgsaussichten nüchtern veranschlagt werden, von Anfang an bedacht wird, wie eine solche Intervention beendet werden kann.

Der Gedanke der humanitären Intervention kann zum Einfallstor zahlreicher nicht-humanitärer Beweggründe für Interventionen werden, und umgekehrt können Opportunitäts- und Interessengesichtspunkte eine dringend erforderliche humanitäre Intervention verhindern. Zur notwendigen Ernüchterung zählt auch die Einsicht, daß zwischen dem universalen Anspruch der Menschenrechte und ihrer tatsächlichen Durchsetzung und Durchsetzbarkeit eine schmerzliche Kluft besteht. Es werden nicht alle, nicht einmal alle massiven Menschenrechts- und Völkerrechtsbrüche beseitigt werden können. Es wird nicht allen Opfern internationaler Gewalt Beistand und Hilfe gewährt werden können. Wir werden immer wieder die eigene Ohnmacht angesichts der Bilder und Nachrichten von Unrecht und Gewalt aushalten müssen.

  1. Derzeit noch schwer überschaubar und lösbar sind Fragen der Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit der Vereinten Nationen. Die vom Sicherheitsrat gebilligte "Agenda für den Frieden" beschreibt programmatisch Anspruch und Aufgabe. Die in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten sind freilich nur zum geringeren Teil demokratisch-rechtsstaatlich verfaßt. Nicht wenige haben den Charakter von Diktaturen, die innerstaatlich die universalen Menschenrechte faktisch nicht anerkennnen. Die Mitwirkung an Friedenseinsätzen im Auftrag der Vereinten Nationen kann insofern auch als ein Beitrag gewertet werden, bei den Mitgliedern der Völkergemeinschaft selbst die Verpflichtung auf eine verbindliche internationale Rechtsordnung zu stärken. Andererseits bleiben Zweifel, ob der tatsächliche Zustand der Organisation der Vereinten Nationen in allen Fällen eine Orientierung an den Grundsätzen und Regelungen der Charta gewährleistet - nicht zuletzt im Blick auf die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, die jeden Beschluß und jede Aktion, die sie selbst oder ihre Interessen zum Gegenstand haben, mit ihrem Veto blockieren können. Bei der Weiterentwicklung der gegenwärtigen Strukturen der internationalen Friedensordnung wird zu prüfen sein, auf welche Weise sowohl in der jetzigen Phase des Übergangs - hier aus Gründen der Effizienz - als auch in einer späteren umfassenden Regelung - hier aus Gründen der notwendigen Teilung von Macht - neben die Vereinten Nationen, wie in der Charta vorgesehen, regionale Systeme kollektiver Sicherheit treten können. Ferner gibt es derzeit keine Regelung für die rechtliche Überprüfung von Entscheidungen und Handlungen der Vereinten Nationen; hier müssen Ergänzungen vorgenommen werden, die unter Umständen eine Anrufung und Einschaltung des Internationalen Gerichtshofes und dessen allseitige Respektierung ermöglichen.

In der Charta der Vereinten Nationen sind bis zum heutigen Tag in Kap. VII, das die "Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen" regelt, die Art. 43ff nicht ausgefüllt. Dies ist aber erforderlich. Dabei geht es um "Sonderabkommen", in denen sich "alle Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten ..., zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dadurch beizutragen, daß sie ... dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen". Nur auf diesem Wege könnten die Vereinten Nationen selbst über Streitkräfte verfügen, die als internationale Polizeitruppe rasch und unter der ausschließlichen Verantwortung des Sicherheitsrats verfügbar wären. Zur Steigerung der friedenspolitischen Wirksamkeit solcher Streitkräfte bedarf es eines umfassenden Ausbildungskonzepts in klarer UN-Profilierung, wie es ansatzweise in verschiedenen Ländern Skandinaviens und in Österreich bereits praktiziert wird; solche Ansätze müssen weiterentwickelt werden.

  1. In den Jahrzehnten nach dem Ende des 2. Weltkrieges hat Deutschland in der internationalen Politik eine Sonderrolle gespielt. Dies hing vor allem mit der deutschen Geschichte, der Teilung, der exponierten Situation an der Schnittstelle der Blöcke und der eingeschränkten Souveränität zusammen. Das Ende der Ost-West-Konfrontation und die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit haben für Deutschland innerhalb der Gemeinschaft demokratischer Staaten eine veränderte Verantwortung mit sich gebracht. Dabei stellt es eine der wichtigsten Lehren der deutschen Geschichte dar, daß Alleingänge vermieden werden müssen und eine feste internationale Einbindung Priorität hat.

Die Neubestimmung des Auftrags der Bundeswehr muß sich ethisch an den Einsichten in die friedenspolitische Verantwortung im Rahmen einer auf die Herrschaft des Rechts gegründeten internationalen Friedensordnung und rechtlich streng an den Vorgaben des Grundgesetzes orientieren. Die bloße Suche nach neuen Aufgaben darf keinesfalls bestimmend sein. Der Gesichtspunkt des nationalen Interesses ist legitim; er kann auch vor moralischer Überforderung bewahren. Aber er darf immer nur im Rahmen der von den ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten gezogenen Grenzen zur Geltung gebracht werden. Dasselbe gilt für den Sicherheitsbegriff. Ein sehr weit gefaßter Begriff nationaler Sicherheit, der sich aus dem Blickwinkel des nationalen Interesses an möglichen Risiken orientiert, beschwört die Gefahr einer weltweiten "Kanonenbootpolitik" herauf.

Für eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Zwangsmaßnahmen im Rahmen der internationalen Friedensordnung - sei es im Sinne von Art. 41-42 und 48 ChVN oder im Sinne der heute noch nicht anwendbaren Art. 43ff ChVN - müssen klare rechtliche Voraussetzungen geschaffen werden. Dafür ist eine Klärung der Verfassungslage erforderlich. Auch die Soldaten der Bundeswehr, die bei Einsätzen im Rahmen eines Auftrags der Vereinten Nationen ihr Leben einsetzen, brauchen ebenso wie ihre Familien rechtlich eindeutige Verhältnisse. Es ist unbefriedigend und gefährlich, wenn stattdessen lediglich politische und militärische Fakten geschaffen werden. Eine andere wichtige Voraussetzung stellt es dar, daß eine Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen unter dem Kommando der Vereinten Nationen, wie in anderen Mitgliedstaaten, fallspezifisch auf einem breiten innenpolitischen Konsens beruht.

Die deutsche Politik kann auf keinem Feld von den Belastungen absehen, die sich aus der verbrecherischen Politik und Kriegsführung des nationalsozialistischen Deutschland ergeben. Dies gilt auch für die mögliche Beteiligung deutscher Soldaten an militärischen Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen. Jedoch rechtfertigt die belastete Vergangenheit keine grundsätzliche Sonderrolle Deutschlands. Prinzipiell ist vielmehr davon auszugehen: Was friedensethisch und friedenspolitisch für die anderen Staaten der Vereinten Nationen gilt, das gilt auch für Deutschland; was für kanadische oder italienische Soldaten gilt, das gilt auch für deutsche. Gerade weil Deutschland militärische Gewalt in verbrecherischer Weise mißbraucht hat und durch den Einsatz militärischer Gewalt von einer Schreckensherrschaft befreit worden ist, hat das demokratische Deutschland allen Grund, sich im Rahmen der Vereinten Nationen oder von diesen gemäß Art. 52-53 ChVN ermächtigten oder beauftragten regionalen Organisationen an der Abwehr von Aggressionen und Friedensbedrohungen und an der Wiederherstellung des Rechts zu beteiligen.

2. Ausbau von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung

Eine internationale Friedensordnung, die bei der Aufgabe der Rechtsdurchsetzung die ultima ratio des Einsatzes militärischer Gewalt einer strengen Prüfung unterwirft und ihn tatsächlich dem Grenzfall vorbehält, ist in besonderer Weise auf den Ausbau von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung angewiesen. Weil Feindschaft nicht durch Waffen überwunden werden kann und sich konfliktverursachende oder -verschärfende ungerechte Strukturen in aller Regel nicht mit Gewaltanwendung beseitigen lassen, besteht ein dringender Bedarf an wirksamen nicht-militärischen Mitteln zur Bearbeitung und Lösung von Konflikten.

In Ansätzen sind sie durchaus vorhanden. In den Kirchen haben sich vor allem die Friedensdienste ihrer Entwicklung, Förderung und Anwendung angenommen. Ein entschlossener Ausbau der vorhandenen Ansätze ist nötig und möglich. Dabei werden viele experimentelle Schritte erforderlich sein. Um konfliktverschärfenden Enttäuschungen nicht Vorschub zu leisten, ist es allerdings geboten, das Wünschenswerte vom Tatsächlichen, das zukünftig Mögliche vom gegenwärtig Vorhandenen, das dringend Benötigte vom praktisch Machbaren zu unterscheiden.

Aufgaben der Erkundung, Erprobung und Realisierung stellen sich auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Ebene der gesellschaftlichen Kräfte, insbesondere für den Bildungsbereich, für Verbände und freie Vereinigungen und nicht zuletzt für die Kirchen und Religionsgemeinschaften, auf der staatlichen Ebene und auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen. Exemplarisch werden im folgenden einige Wege und Mittel zur zivilen Bearbeitung von Konflikten benannt:

  1. Vielen Konflikten liegen trennende Fremdheitserfahrungen und Vorurteilsstrukturen zugrunde. Von fundamentaler Bedeutung sind darum solide Aufklärung über historische und kulturelle Zusammenhänge und Erziehung zum Respekt vor fremden und andersdenkenden Menschen und Gruppen. Projektspezifische Kooperationsvorhaben zur Lösung allgemeiner zivilisatorischer Aufgaben (wie Techniksicherheit, Schutz von Luft, Wasser und Boden) bieten konkrete Möglichkeiten, in der konstruktiven Bearbeitung von gemeinsamen Problemlagen Prozesse der Entfeindung zu befördern. Partnerschaften und Dialoge, auch interkonfessioneller und interreligiöser Art, sind ein Beitrag zur Überwindung von Fremdheit und Vorurteilen. Die Förderung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs kann wechselseitig zu einer differenzierten Wahrnehmung beitragen. Dabei gilt es, die Vielfalt der Stimmen zu beachten und auch den Stimmen Gehör zu schenken, die nicht zu den vor Ort herrschenden gehören. Dies hat besondere Bedeutung in Menschenrechtsfragen, gerade dann, wenn Frauen betroffen sind. Im Ost-West-Konflikt hatten Feindbilder eine konfliktverhärtende Wirkung. Heute besteht die Gefahr, daß andere Konflikte durch Feindbilder verfestigt und zugespitzt werden. Dies gilt insbesondere im Blick auf das Verhältnis zwischen dem europäisch-nordamerikanischen Raum und der islamischen Welt. Es ist nötig, einen Austausch zu fördern, der die jeweilige innere Pluralität der "Welten" wahrzunehmen hilft. Auch für das Verhältnis zum Islam gilt: Es gibt Sicherheit und Frieden nur miteinander, nicht gegeneinander.
  2. Die bereits vorliegenden Erfahrungen mit Wegen ziviler Konfliktbearbeitung bedürfen gezielter Auswertung, Förderung und Weiterführung. Die Teilnehmer an Missionen der Vereinten Nationen und der KSZE haben die verschiedenen Funktionen internationaler Hilfskräfte kennengelernt und können helfen, die friedenspolitische Wirksamkeit der hier praktizierten Ansätze zu verbessern: Tatsachenermittlung, Anbieten guter Dienste, Vermittlung, Vergleich, Übernahme polizeianaloger Aufgaben. Darüber hinaus werden vor allem von Mitgliedern gewaltfreier Gruppen und transnational vernetzter Bürgerinitiativen gegenwärtig beispielhafte Versuche in verschiedenen Konfliktregionen unternommen, um zwischen den Konfliktparteien die Artikulation von mißachteten Bedürfnissen zu erleichtern und gemeinsame Schritte zur Konfliktdeeskalation zu befördern. Zur Forschung und Lehre in Techniken ziviler Konfliktbearbeitung, die praxistauglich sind, könnten akademieähnliche Einrichtungen hilfreich sein. Häufig fehlt aber die nötige finanzielle Unterstützung. Der Einsatz finanzieller Ressourcen für die unterschiedlichen Wege und Mittel der Konfliktbearbeitung folgt bislang keinen vernünftigen Kriterien. Für den Einsatz militärischer Gewalt werden im aktuellen Konfliktfall kurzfristig hohe Summen aufgewendet, die für die vorausschauende, vorbeugende Anwendung ziviler Mittel der Konfliktbearbeitung nicht zur Verfügung standen und stehen. Dieses Mißverhältnis muß beseitigt werden. Erst wenn die Wege der zivilen Konfliktbearbeitung in viel höherem Maße als bisher gefördert werden, kann verläßlicher geprüft und beurteilt werden, was sie leisten können.
  3. Das Instrumentarium der internationalen Politik zur Steuerung und Lösung von Krisen ist unzureichend und muß verbessert werden. Mittelfristig sind dafür Vereinbarungen nötig, in denen die Einzelstaaten Souveränitätsrechte abtreten und im Gegenzug die Mechanismen der Vereinten Nationen und regionaler Systeme kollektiver Sicherheit gestärkt werden. Keinen Aufschub dulden entschlossene Anstrengungen, um die friedenspolitische Wirksamkeit von Sanktionen zu verbessern. Dies gilt sowohl für die Einhaltung von Embargos als auch im Blick auf die Angemessenheit von Maßnahmen, die nicht etwa zusätzlich eine "Wagenburgmentalität" befördern dürfen. Viel zu wenig erprobt ist der Einsatz positiver Anreize, etwa indem wirtschaftliche Hilfe an die Einhaltung von Rechtspositionen gebunden wird. Ein zentrales politisches und rechtliches Problem besteht darin, daß Staaten, die aus früheren Kolonialgebieten hervorgegangen sind, oft keine politischen Gemeinwesen und keine in sich verflochtenen Volkswirtschaften ausbilden konnten und daß Staaten, in denen unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen zusammenleben, äußerst labil sind. Hier werden innovative Prozesse zur Bildung von Rechtsformen benötigt, die föderale Selbstbestimmungsrechte einräumen und unterhalb der Schwelle staatlicher Souveränität Autonomie gewährleisten.

3. Begrenzung des Rüstungspotentials

Auf militärische Machtmittel kann gegenwärtig und künftig in einer internationalen Friedensordnung nicht verzichtet werden. Aber sie müssen auf ein friedensverträgliches Maß zurückgeführt werden.

  1. Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Gang gekommene Abrüstung muß und kann fortgeführt und intensiviert werden. Das Rüstungspotential, das im Zeitalter der nuklearen Abschreckung sowohl nuklear wie konventionell eine irrationale Größenordnung angenommen hatte, ist nach wie vor überhöht und der sicherheitspolitischen Lage nicht angemessen. Die in den Wiener Verhandlungen vereinbarte Truppenstärke der Bundeswehr ist lediglich eine Obergrenze. Ob die Bundeswehr mittelfristig in eine Berufsarmee umgewandelt und die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft werden soll, läßt sich derzeit noch nicht absehen und entscheiden. Die Vereinbarungen und Ankündigungen der USA und der Sowjetunion/GUS zur atomaren Abrüstung müssen zügig realisiert werden. Auch Frankreich, Großbritannien und China müssen ihren Beitrag zur atomaren Abrüstung leisten. Die Gewährleistung der universalen Geltung und der Wirksamkeit des Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen hat eine hohe Priorität. Auf weitere Sicht muß auf die Ächtung der Atomwaffen durch die Vereinten Nationen hingearbeitet werden, was bedeutet, daß ihre Herstellung, Bereithaltung und Anwendung zu verbieten und dieses Verbot weltweit durchzusetzen ist.
  2. Von großer Dringlichkeit ist die Kontrolle der Lieferung von Kriegsmaterial. Sie ist erforderlich, um die Gefahr des Ausbrechens von militärischen Konflikten möglichst zu verringern. Bisher jedoch können - bei entsprechenden finanziellen Mitteln - in den Konfliktherden der Welt Waffen nahezu in beliebiger Weise beschafft werden. Auf diesem Gebiet haben objektive Schwierigkeiten (wie der duale Gebrauch von Gütern und die im Waffengeschäft begegnende große kriminelle Energie), aber auch anhaltende Versäumnisse (wie die nachlässige Handhabung bestehender Vorschriften und das Ausbleiben verschärfter Regelungen sowohl auf der nationalen wie auf der EG-Ebene) zu untragbaren Zuständen geführt. Die friedenspolitische Verantwortung verlangt, gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland, tiefe Einschnitte in die Produktion von und den Handel mit Rüstungsgütern. Ein besonderes Problem stellen die nicht hinreichend kontrollierten Bestände an Atomwaffen und spaltbarem Material in der ehemaligen Sowjetunion dar. Hier sind Hilfen der gesamten Staatengemeinschaft, insbesondere der westeuropäischen Staaten und der USA erforderlich.
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