Fünfzig Jahre Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Erbe und Auftrag

Joachim Mehlhausen, Tübingen

Georgenkirche zu Eisenach

Wir können nicht einfach mit dem Anfang anfangen, wenn wir über Erbe und Auftrag der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland nachdenken wollen. Im Juli des Jahres 1948, drei Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation und wenige Wochen nach der Währungsreform, die von allen Betroffenen - auch von den Mitgliedern der verfassunggebenden Kirchenversammlung als eine zutiefst beunruhigende, ja existenzgefährdende Entscheidung der Besatzungsmächte angesehen wurde - in diesem Juli des Jahres 1948 stand man nicht in einer Stunde Null. Das feinsinnig klingende und oft zitierte Dictum "So viel Anfang war noch nie" ist historisch falsch.

In den ersten Nachkriegsjahren empfand kaum einer der verantwortlich Handelnden in Politik und Gesellschaft, daß man eine tabula rasa vor sich habe und nun auf ihr etwas völlig Neues zeichnen könne. Man trug gerade in diesen ersten Nachkriegsjahren schwer an der Last der Vergangenheit und spürte, wohin man sich auch wandte, die Folgen der bösen und schrecklichen Jahre von 1933 bis 1945. Die Städte waren zerstört, Millionen Flüchtlinge strömten in das von den Truppen der Alliierten besetzte Land. Demontagen lähmten die Wirtschaft. Ein unübersehbares Heer von Kriegsgefangenen war erschöpft und resigniert in die Heimat zurückgekehrt. Zumal im Osten wurde eine nicht genau bekannte Zahl weiterer Gefangener festgehalten. Hunger und Versorgungsengpässe auf allen Gebieten ließen den schäbigen Schwarzen Markt blühen und gerade die Bedürftigsten, Frauen, Kinder und Alte gingen leer aus.

Nein, das war keine Stunde Null, in der man Anlaß gehabt hätte, mit Zuversicht an den Neubau zu gehen. Erst später, als sich die zunächst so bedrohlich präsentierende Währungsreform im Westen als ein materieller Segen erwies, wandelte sich dort die kollektive Mentalität - und dies dann allerdings sehr schnell und allzu gründlich. In den frühen fünfziger Jahren begann in Westdeutschland ein kollektives Verdrängen der jüngsten Vergangenheit im Wohlgefühl des neuen Wirtschaftswunders. Da erst konnte die Meinung aufkommen: "So viel Anfang war noch nie".

Aber als die verfassunggebende Kirchenversammlung in Eisenach ihre Verhandlungen aufnahm, standen alle ihre Teilnehmer noch ganz unter dem Eindruck von Trauer, Not und Entbehrung. Das Erste, was der zum Präsidenten der Versammlung gewählte Gustav Heinemann tat, war eine Verlesung der Namen jener Pfarrer und Gemeindeglieder, die - wie Heinemann es formulierte - "nach einer vorläufigen, aber nicht vollständigen Liste ... als Bekenner unseres Glaubens im Konzentrationslager und in Gefängnissen seit 1933 ... ums Leben gekommen" sind.

Wir sollten uns heute abend die Zeit nehmen, diese Namen noch einmal zu hören:

Treuherz Behrendt
Dietrich Bonhoeffer
Helmut Hesse
Ernst Kasenzer
Justus Perels
Paul Richter
Paul Schneider
Ludwig Steil
Werner Sylten
Friedrich Weißler

Ist es nicht merkwürdig, daß uns einige dieser Namen heute fremd sind? Und ist es nicht noch merkwürdiger, daß keine spätere Synode der EKD diese Namenliste zu Ende geschrieben und irgendwo ehrenvoll festgehalten hat?

Doch kehren wir zu den Anfängen vor dem Anfang des Juli 1948 zurück. Auch der deutsche Protestantismus stand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keineswegs vor einer tabula rasa, auf der man nun ganz neue, theologisch sorgfältig durchdachte Linien zeichnen konnte. Der Verfassungsneubau fand auf einem Trümmergelände statt, das man - um im Bilde zu bleiben - nicht einfach planieren konnte. Auf diesem Trümmergelände gab es feste alte Grundmauern, einige recht gut erhaltene Gebäude und vor allem Grenzlinien und Grenzsteine, die im kirchlichen Katasteramt unverrückbar festgeschrieben schienen. Im deutschen Schicksalsjahr 1933 war dieses Tableau, an dessen Gestaltung viele frühere Generationen gearbeitet hatten, in seiner ganzen Sperrigkeit und Widerständigkeit zum erstenmal sichtbar geworden. Die Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 hinterließen auf einen Schlag sogenannte intakte und zerstörte Landeskirchen, dazu ein klägliches, ja böses Kirchenregiment an der Spitze in Berlin. Es folgte der Kampf in der Kirche um die Macht in der Kirche. Dann gab es die kurze Sternstunde von Barmen im Mai 1934. Aber schon wenige Monate später zerbrach die Bekennende Kirche.

Die übergroße Mehrheit der mit Leitungsverantwortung betrauten Kirchenmänner wagte nicht den von Bonhoeffer und Justus Perels, von Paul Schneider und Friedrich Weißler und noch einigen wenigen anderen vollzogenen Schritt aus dem Stillhalten hinaus in die Resistenz bis hin zum aktiven Widerstand gegen das Unrechtsregime. Die Kirchenwahlen vom Juli 1933 hatten die strukturellen Probleme des deutschen Protestantismus unnachsichtig aufgedeckt und die ziemlich unversöhnlichen theologie- und kirchenpolitischen Lagermentalitäten vor aller Augen geführt.

Von alledem war bei Kriegsende nur eine Position untergegangen. Die Deutschen Christen waren nach 1945 so spurlos verschwunden, daß alliierte Besatzungsoffiziere, die sich gründlich darauf vorbereitet hatten, wie sie mit dieser merkwürdigen Kirchenpartei umgehen sollten, aus dem Staunen nicht herauskamen. Aber das Verschwinden der Deutschen Christen bedeutete nicht, daß der Neubau der Evangelischen Kirche auf einer tabula rasa hätte beginnen können.

Um welche alten Grundmauern, stehen gebliebenen Gebäude und Grenzsteine handelte es sich, die von der verfassunggebenden Kirchenversammlung berücksichtigt werden mußten? Ich zähle die wichtigsten Erblasten kurz auf: Zu berücksichtigen waren (1.) die traditionsreichen und traditionsbewußten, bekenntnisbestimmten Landeskirchen; (2.) die Gliederung des deutschen Protestantismus in drei konfessionelle Lager, die ihrerseits in eigengeprägte Traditionsverbände unterteilt waren; und (3.) mußte man zu drei Konzeptionen des Neuaufbaus Stellung nehmen, die jeweils in tief differenten theologischen Grundüberzeugungen ihre Wurzeln hatten.

Zu diesem dritten Punkt war bereits im August 1945 in Treysa eine Vorentscheidung getroffen worden. Dennoch waren diese drei Positionen auch in Eisenach präsent: personell und konzeptionell. Wenn wir heute nach Erbe und Auftrag der "Grundordnung" von 1948 fragen, dann müssen wir uns diese drei Entwürfe für den Neubau der Evangelischen Kirche auf dem schwierigen Trümmergelände in Erinnerung bringen, zwischen denen damals gewählt werden mußte. Die Namen der Entwürfe lauteten: Bruderrat, Lutherrat, Einigungswerk. Ihre Architekten und Protagonisten waren: Martin Niemöller, Hans Meiser, Theophil Wurm.

Zwei dieser drei Entwürfe hatten revolutionären Charakter und kosteten einen hohen Preis. Die dritte, bis zum heutigen Tage wirksame Bauzeichnung für die Gestaltung des schwierigen Trümmergeländes suchte die Integration und den im deutschen Protestantismus altehrwürdigen magnus consensus. Integration und Konsens aber - und hier liegen Erbe und Auftrag dicht beieinander - kosten auch einen Preis, den man möglichst genau auf Heller und Pfennig kennen sollte. Was schlugen die drei Architekten vor?

Niemöller bemühte sich gleich nach seiner Befreiung aus der Haft mit der ihm eigenen Dynamik, den bruderrätlichen, also den dahlemitischen Flügel der Bekennenden Kirche wieder zusammenzubringen. Sein Konzept für den Neubau der Evangelischen Kirche lautete: Nur von den einzelnen Gemeinden her kann und darf ein Neues heranwachsen. Ganz unten muß damit begonnen werden, die Fehler der Vergangenheit an der Wurzel auszureißen, ohne Rücksicht auf Personen und Traditionen. Niemöller wünschte, daß in allen evangelischen Gemeinden in Deutschland ein solcher Prozeß der Selbstreinigung stattfinde, der in einer feierlichen Konstituierung von Bekennenden Gemeinden mit der Verpflichtung auf Barmen und Dahlem als den entscheidenden und scheidenden theologischen Deklarationen des Kirchenkampfs einen vorläufigen Abschluß finden sollte. Wie sich solche neu konstituierten Bekennenden Gemeinden dann untereinander und miteinander zu einem gesamtkirchlichen Verband vereinigen könnten, hielt Niemöller bei Kriegsende für eine verfrühte Frage. Er wollte sich um die Konstruktion des Daches keine sorgenvollen Gedanken machen, so lange der Baugrund noch nicht einmal gesäubert war.

Niemöllers Konzept, dem aus der Schweiz Karl Barth mit Freundesworten Ermutigung zusprach, war revolutionär. Denn seine Verwirklichung hätte das Ende der Volkskirche in Deutschland bedeutet. Denn ganz gewiß wäre es nicht möglich gewesen, in jeder Gemeinde diesen anspruchsvollen und anstrengenden, viele Opfer kostenden Prozeß der Selbstreinigung und Selbstverpflichtung durchzuführen. Es wären im günstigsten Fall über das Land verstreute einzelne Bekenntnisgemeinden mit hohem kirchlich-theologischem Selbstbewußtsein und nicht minder hohem moralischem Anspruch entstanden. Die Mehrzahl der Gemeinden aber hätten Niemöllers Ansinnen mit Nachdruck widersprochen. Es gebe wichtigeres zu tun - so hätte man wohl gesagt - als den rigorosen Kirchenkämpfern, denen man schon 1934 nicht mehr gefolgt war, nun zum Triumph zu verhelfen. Niemöllers Konzept hatte den großen Vorzug, auf gut gesichertem theologischem Grund zu stehen; aber es kostete einen hohen Preis.

Der zweite revolutionäre Entwurf für den Neubau der Evangelischen Kirche trug den Namen: Deutsche Lutherische Kirche. Für die im Lutherrat schon seit 1936 miteinander im Gespräch stehenden Theologen schien der Zusammenbruch im Jahre 1945 den Kairos zu bieten, eine bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichende Fehlentwicklung des deutschen Protestantismus rückgängig zu machen: nämlich die Unionen zwischen Lutheranern und Reformierten, denen man das Kirchesein im Vollsinn schon immer abgesprochen hatte, da ihnen ein eigenes Bekenntnis fehlte oder zu fehlen schien. Nun sollte eine einheitliche, bekenntnisbestimmte und bekenntnisgebundene Deutsche Lutherische Kirche errichtet werden. Alle in den unierten Kirchen versammelten Lutheraner hätten ohne Schwierigkeit Mitglieder dieser lutherischen Kirche werden können. Die dem reformierten Bekenntnis angehörenden Gemeindeglieder aus den Kirchen der Union sollten keine getrennte Sonderkirche neben der lutherischen Großkirche bilden, sondern geschwisterlich unter deren weitem Dach eigene Räume erhalten.

Revolutionär war auch dieses Konzept. Auf der einen Seite hätte es alte Träume von einer in der Reformation Luthers begründeten Einheit des deutschen Protestantismus Wirklichkeit werden lassen. Seit dem Jahre 1848 haben viele evangelische Theologen auf dieses Ziel hingearbeitet. Die einheitliche lutherische Nationalkirche war nicht erst eine Erfindung der Deutschen Christen. Männer wie der liberale Kirchenhistoriker Karl Hase aus Jena hatten hierzu schon hundert Jahre zuvor aufgerufen. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätte sich das alles nur auf Kosten der unierten Landeskirchen - ja des Landeskirchentums überhaupt - durchführen lassen. Sie wären dem revolutionären Neuansatz zum Opfer gefallen. Allen voran die Kirche der altpreußischen Union mit ihren großen Provinzialkirchen, deren Ordnung in der Zeit des Nationalsozialismus gründlich zerstört worden war, während die lutherischen Landeskirchen von Bayern, Hannover und Württemberg nach ihrem Selbstverständnis den Sturm "intakt" überstanden hatten. Otto Dibelius spricht in seinen Lebenserinnerungen davon, daß es "wie ein Schlag durch die Reihen der Unierten gegangen sei, als es bekannt wurde: die Lutheraner tun ihre eigene Vereinigte Lutherische Kirche auf!"

Es ist nahezu ausschließlich das Werk von Theophil Wurm gewesen, daß 1945 in Treysa und dann 1948 in Eisenach keine der beiden revolutionären Lösungen für das Kirchenverfassungsproblem auch nur ansatzweise zum Zuge gekommen ist, obwohl beide ihre unverkennbaren Stärken hatten. Der bruderrätliche Entwurf machte Ernst damit, daß die evangelische Kirche wie das gesamte deutsche Volk zwischen 1933 und 1945 Irrwege gegangen war und zur Umkehr gerufen werden mußte. Der Entwurf des Lutherrates meinte einen Weg zeigen zu können, wie die Zersplitterung des deutschen Protestantismus zu überwinden sei. Zudem sollte die Deutsche Lutherische Kirche den Rang einer bekenntnisbestimmten Kirche erhalten. Das wäre - zumal im Blick auf die Ökumene - ein Fortschritt gewesen. Eine Kirche, deren Kirchesein durch ihren Bekenntnisstand fest umschrieben ist, kann selbstbewußter und mit größerem Gewicht in der Ökumene auftreten als ein bloßer Kirchenbund.

Was hatte der württembergische Landesbischof diesen wegweisenden Konzepten entgegenzusetzen? Wurm kannte die innerkirchliche Lage sehr genau. Er sah die vielen Bruchlinien, die den deutschen Protestantismus seit 1933 offen und verdeckt in verschiedene Lager teilten. Alledem setzte er seit 1943 die Idee eines Kirchlichen Einigungswerkes entgegen. Auf eine kurze Formel gebracht bedeutete die Parole Kirchliches Einigungswerk: Es muß möglich sein, in einer breiten Mitte, die nur an den äußersten rechten und linken Rändern Grenzziehungen kennt, den deutschen Protestantismus zu einer Handlungseinheit zusammenzuführen.

Hinter Wurms Konzept stand die problematische Überzeugung, daß die Polarisierungen seit 1933 von einem Konfliktpotential ausgelöst worden waren, das letztlich außerhalb der Kirche und ihrer Verkündigung seine - ideologische - Heimat hatte. Es müsse möglich sein, durch konsequente Ausscheidung dieser Fremdeinflüsse die evangelische Einheit wieder herzustellen, wobei eine Anknüpfung an Erkenntnisse der Barmer Synode und eine Besinnung auf die Grundlagen von Schrift und Bekenntnis unentbehrliche Wegweiser zu sein hätten. Die Schwachstelle dieses Integrationsmodells ist unübersehbar. Es mußte bei allen denen heftigsten Widerspruch auslösen, die in den kirchlichen Wirren seit 1933 keine bloß von außen aufoktroyierte Störung zu erkennen meinten, sondern sie als Folgen von Fehlentwicklungen ansahen, die in Kirche und Theologie selbst ihren Ort hatten.

Warum hat Wurm mit solcher Zähigkeit an diesem Modell, das dann in die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland eingegangen ist, festgehalten? Aus dem Abstand von fünfzig Jahren läßt sich die Frage mit zwei kurzen Sätzen beantworten:

(1.) Wurm kämpfte für den Erhalt einer handlungsfähigen großen Volkskirche. (2.) Wurm kämpfte um einen deutlich sichtbaren Platz dieser Kirche in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit.

Für die Erreichung dieser beiden Ziele war er bereit, den Preis zu zahlen, den die Sammlung einer derart breiten Mitte kostet. Das heißt: Die Evangelische Kirche in Deutschland ist von Anfang an als eine Konfliktgemeinschaft konzipiert worden. Denn in ihr sollten nahezu alle Gruppen des deutschen Protestantismus zusammengehalten werden - mit ihren so vielfach unterschiedenen theologischen, konfessionellen und kirchenpolitischen Überzeugungen. Das Wort Konfliktgemeinschaft bringt zum Ausdruck: Man muß auf Schritt und Tritt damit rechnen, daß grundsätzlicher Streit innerhalb dieser Gemeinschaft aufbrechen kann. Wer die Geschichte der EKD ein wenig kennt, weiß, wie oft es dazu gekommen ist. Ob die Stichworte "Wiederbewaffnung" hießen oder "Ost-West-Konflikt", "Militärseelsorgevertrag", "Prager Friedenskonferenz", "Nachrüstung" oder "Stellung zu den Befreiungsbewegungen im Südlichen Afrika" - oder was es sei - in allen diesen Diskussionen meldeten sich die alten Gegnerschaften wieder zu Wort und stellten das Zusammenbleiben auf eine harte Probe.

Dies zeigte sich bei den vertraulichen Vorberatungen in Eisenach schon am zweiten Tage, als es zu einer ernsten Auseinandersetzung über den Artikel 4.4 des Grundordnungsentwurfs kam, der die wechselseitige Zulassung zum Abendmahl in den Gliedkirchen betraf. Als die Lage völlig verfahren erschien, stellte Wurm ein denkwürdiges Ultimatum. Er erklärte, "er werde, wenn es zu einer Einigung nicht komme, den Festakt [zur Eröffnung der verfassunggebenden Kirchenversammlung am kommenden Tage] nicht mitmachen können, da er wohl viele Fehler haben möge, aber nie gelernt habe, Komödie zu spielen".

Dieses Ultimatum galt Vertretern der Lutherrats, die auch in Eisenach noch einmal den Versuch unternahmen, der neuen EKD eine konfessionell lutherische Prägung zu geben. Nach Sonderberatungen dieses Kreises erklärte Hanns Lilje schließlich, man frage sich, ob "Wurms Wort kirchenpolitisch oder seelsorgerlich gemeint" gewesen sei; man sei ferner "schmerzlich berührt" wegen einer "Äußerung Wurms über die 'Ultras'"; hierzu verweise man auf Römer 14: Wo die "Schwachen im Glauben" nicht aufgenommen würden, da werde "kein Segen" sein. Doch auf diese Bemerkungen Liljes folgte die entscheidende Erklärung der Lutheraner, die den Weg zur neuen "Grundordnung" frei machte: "Wir wollen die Einheit der EKD im Sinne der Grundordnung Artikel 1 [also als eines Bundes von Kirchen, der nicht selbst Kirche ist]. Wir wollen nicht dahinter zurück. Dafür haben wir Opfer gebracht. Es kommt auf die richtige Interpretation des Artikels 1 an. Wir sind willens, in der EKD zu bleiben."

Diese kurze Passage aus dem Protokoll der vertraulichen Vorberatungen in Eisenach bringt präzise zum Ausdruck, in welchem Sinne die EKD als Konfliktgemeinschaft begründet worden ist. Wer - wie Wurm es wagte - von der Mitte her nahezu alle theologischen, konfessionellen und kirchenpolitischen Positionen zu einem Ganzen zusammenführen will, der nimmt in diese Sammlungsbewegung eben auch alle Konfliktpotentiale mit hinein, die durch das Zusammenführen derart verschiedener Gruppen aufgehäuft werden. Es war das besondere Charisma Wurms, daß er die Unerschrockenheit, den Mut und auch die fromme Zuversicht besaß, ein solches Werk könne gelingen, ja vielleicht sogar von Dauer sein. Liljes Frage, ob Wurms Ultimatum kirchenpolitisch oder seelsorgerlich gemeint gewesen sei, muß man wohl so beantworten:

Auf die Verhandlungen in Eisenach bezogen handelte Wurm mit seinem Ultimatum eindeutig als Kirchenpolitiker. Er erzwang mit seiner Drohung, der Eröffnungsfeier fernzubleiben, verhandlungstaktisch die Integration divergierender Grundanschauungen zu einem Mehrheitswillen. Seit Rudolf Smend den Begriff der Integration in das Staatsrecht eingeführt hat, ist er in der Politikwissenschaft fest verankert. Es gibt m. E. keinen stringenten Einwand dagegen, das politische Integrationsmodell auch für Entscheidungsprozesse im kirchlichen Raum in Anspruch zu nehmen. Nur sollte dies nicht verdeckt und mit mehr oder minder schlechtem Gewissen geschehen, sondern offen und mit deutlicher Angabe der jeweiligen Ziele. Im Blick auf das langfristige Ziel handelte der Kirchenpolitiker Wurm in Eisenach allerdings als Seelsorger. Dies muß unbedingt verdeutlicht werden, weil nur unter diesem Aspekt Erbe und Auftrag der Kirchenversammlung recht erfaßt werden können.

Wurms große Ziele - der Erhalt einer tatkräftigen Volkskirche und ein Platz für diese Kirche in der Öffentlichkeit - wollten in der notvollen Nachkriegszeit ein alle Menschen erfassender Seelsorgedienst der Kirche sein. Der Erhalt der Volkskirche - als Kirche für das Volk - war kein Selbstzweck und schon gar keine ekklesiale Restauration oder Besitzstandswahrung. In dem Konzept der als Konfliktgemeinschaft begründeten EKD steckte ein modernisierendes kirchliches Selbstverständnis, das die Mehrheit der verfassunggebenden Versammlung von ganz weit links bis ebensoweit rechts überzeugte. Im zerstörten Deutschland gab es nach dem 8. Mai 1945 nur zwei leidlich intakte gesellschaftliche Großorganisationen: die evangelische und die katholische Kirche. Dieses Potential sollte für gesellschaftsdiakonische Aufgaben der unterschiedlichsten Art bewahrt, erhalten und ausgebaut werden. Deshalb das Ja der Versammlung zu einer Kirche für das Volk, auch wenn der Preis unter theologischen Gesichtspunkten gesehen sehr hoch war.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Platz der Kirche in der Öffentlichkeit. Alle Besatzungsmächte - auch die Sowjetische Militäradministration (SMAD) - brachten den Kirchen gleich nach 1945 ein grundsätzliches Wohlwollen entgegen. Der Vertreter der SMAD hatte zwar bei der Eröffnung der Versammlung ein denkbar dürres Grußwort gesprochen, darin aber immerhin "einen vollen Erfolg für die Aufgabe der Vereinigung der evangelischen Kirchen Deutschlands" gewünscht. Im Grußwort des Vertreters der Militärregierung der USA war von der "Bedeutung der Kirche als einer aufbauenden Macht von wesenhafter Bedeutung für das Gesamtwohl des Volkes" die Rede gewesen. In diesen Worten klang die Idee der Rechristianisierung Deutschlands an, die von vielen Kirchenmännern damals hoch geschätzt wurde. Der französische Feldbischof, Marcel Sturm, Kenner und Freund des deutschen Protestantismus, äußerte sich kompetent zu den theologischen Aspekten einer kirchlichen Verfassungsberatung und zum zurückliegenden Kirchenkampf.

Welche Unterschiede es in der Kirchenpolitik der Besatzungsmächte auch immer gab: 1948 waren sie noch alle bereit, den Kirchen einen Platz in der Öffentlichkeit zu gewähren. Und diesen angebotenen öffentlichen Raum wollte Wurm der evangelischen Kirche nicht durch den unerbittlichen Austrag theologischer Differenzen wieder nehmen lassen. Denn die Kirche brauchte nach seiner Ansicht diesen Raum, um ihren gesellschaftsdiakonischen Dienst am ganzen Volk ausüben zu können. Schon zwei Tage nach Kriegsende hatte Wurm in einer über den Rundfunk verbreiteten und in zahllosen Kanzelabkündigungen in ganz Deutschland zu Gehör gebrachten Rede "An das deutsche Volk" sein Seelsorgekonzept für die Nachkriegszeit zum Ausdruck gebracht:

"Wir sehen unsere erste Aufgabe darin, alle die tiefgebeugten am Grabe ihres Glückes, ihrer Heimat, ihrer Habe stehenden Menschen auf den hinzuweisen, der allein den Trauernden Kraft und Trost spenden kann, auf unsern Herrn und Heiland ... Aus der Zuversicht zu ihm und aus der Gewißheit einer göttlichen Leitung der Dinge erwächst ... die Kraft zum Wiederaufbau der zerstörten irdischen Heimat. Nicht klagen und anklagen, sondern vergeben und helfen ist das Gebot der Stunde."

Dieser Ton ist in Eisenach gehört worden und fand Zustimmung. Die von Dibelius in die Versammlung eingebrachten "Worte der EKD" Zum Frieden und Zur deutschen Not waren erste Konkretionen, die man einmütig verabschieden konnte - über alle Gräben hinweg. Schwieriger gestaltete sich die Aussprache über einen von Heinrich Vogel eingebrachten Text unter der Überschrift "Seht den Menschen!" Es wurde sogleich gefragt, "inwieweit wir heute schon die Vollmacht dazu haben, so in den politischen Raum hineinzustoßen". Doch unter der umsichtigen Diskussionsleitung von Heinemann ist auch dieser "Kundgebung" zugestimmt worden. Zurückgewiesen wurde allerdings ein Antrag von Hermann-Albert Hesse, in den Art. 16 der "Grundordnung" den Satz einzufügen: "Die EKD weiß im Glauben und in der Hoffnung um ihre Schuld und ihre missionarische Verantwortung gegenüber dem Volke Israel." Statt die in der Tat äußerst problematische Verbindung von Schuld und Mission aufzulösen und nur das Schuldbekenntnis in die Grundordnung hineinzuschreiben, hat die Versammlung bedauerlicherweise das gesamte Thema vertagt.

Der große Antipode Wurms, Martin Niemöller, hat am letzten Tag der Versammlung von Eisenach noch einmal unmißverständlich ausgesprochen, was das Hauptthema dieser Versammlung gewesen war. Dies war nicht der Wortlaut der einzelnen Artikel der "Grundordnung" gewesen. Sie waren unter der sachkundigen Leitung des Kirchenrechtlers Erik Wolf vorzüglich vorbereitet worden und hatten der Versammlung nur wenig zu schaffen gemacht. Das Grundkonzept war das eigentliche Problem gewesen. Und so sprach auch Niemöller von den "bedrückenden Schwierigkeiten", die aufgetreten waren. Aber, so fuhr er fort, "ich möchte nicht, daß wir uns aus dieser Not, in der wir nun einmal sind, einen Heiligenschein machen. Wir wollen diese Not nehmen, als das, was sie ist und bleibt, eine reale, nüchterne und weiterhin bedrängende Not. Ich möchte nicht, daß wir scheiden von dieser ersten Kirchenversammlung der EKD mit diesem Bewußtsein der Bedrückung. Ich habe auch nicht das Gefühl, ... daß ich dastehe und leere Hände hätte; denn es ist doch etwas Großes in diesen Tagen in Eisenach geschehen."

Man blieb beieinander in der Konfliktgemeinschaft. Man begnügte sich mit der Gründung einer Kirche, die nur ein Kirchenbund und nicht selbst Kirche sein konnte, weil das konfessionelle Problem 1948 nicht zu lösen war. Erst die Arnoldshainer Abendmahlsthesen und die Leuenberger Konkordie haben in der EKD die Kirchengemeinschaft als Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft hergestellt und die Verpflichtung, Zeugnis und Dienst gemeinsam auszurichten, zum Bestandteil der "Grundordnung" gemacht. In diesen Bereichen bewährte sich der Appell an das geduldige Warten, den Dibelius zum Thema seiner Predigt im Eröffnungsgottesdienst gemacht hatte, die er mit den Worten beschloß: "Die Kirche kann warten. Nur der Teufel hat es eilig."

Man blieb beieinander in der Konfliktgemeinschaft. Das hieß ferner: Man beließ den Landeskirchen weitestgehende Selbständigkeiten, insbesondere die uneingeschränkte Autonomie in allen Fragen, bei denen das Bekenntnis berührt wird. Aber man gab der EKD den Auftrag, für die Gliedkirchen vor allem im Blick auf die Gesellschaft, den Staat und die Ökumene öffentliche Gemeinschaftsaufgaben wahrzunehmen. Im Art. 19 der "Grundordnung" heißt es: "Die EKD vertritt die gesamtkirchlichen Anliegen gegenüber allen Inhabern öffentlicher Gewalt." Und Art. 20 bestimmt: "In Erfüllung ihrer Aufgaben kann die EKD Ansprachen und Kundgebungen ergehen lassen." Dies sind Sätze, die für den Weg des deutschen Protestantismus in den zurückliegenden fünfzig Jahren hohe Bedeutung erlangt haben - erinnert sei nur an die Denkschriften und ihre Wirkung in der Öffentlichkeit.

Als nach der Gründung der beiden deutschen Staaten die Erfüllung dieses Öffentlichkeitsauftrags in Ost und West unmöglich wurde, erhielt die "Grundordnung" einen bedeutsamen Zusatz: In den Art. 1 Abs. 2 wurde die Formel von der "besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland" eingefügt, gleichlautend mit Art. 4 Abs. 4 der "Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR". Diese Formel hat noch einmal eindrucksvoll belegt, warum es sich lohnen kann, in einer Konfliktgemeinschaft beieinander zu bleiben. Für viele Jahre bestand die vornehmste Pflicht und Aufgabe der EKD darin, im lebendigen Vollzug Brücken über die Mauer hinweg zu schlagen. Gewiß hat es auch sonst solche Brückenschläge hin und her vieltausendfach auf der Grundlage von ganz unterschiedlich motivierten Einzelinitiativen gegeben. Aber daß sich der deutsche Protestantismus auch als sichtbare Gemeinschaft an diesem Dienst beteiligen konnte, verdankte er dem Mut und der Zuversicht, mit dem hier in Eisenach vor fünfzig Jahren die "Grundordnung" geschaffen worden ist.

Es kann jetzt nicht im einzelnen berichtet werden, welche praktische Auslegung die "Grundordnung" in den Jahren nach 1948 erfahren hat. Das insgesamt auffälligste Merkmal war wohl dies: Die Landeskirchen erhoben keinen Widerspruch, als im Lauf der Jahre die EKD auf immer mehr Gebieten Aufgaben wahrzunehmen begann, von denen in der "Grundordnung" streng genommen nicht die Rede war. Einer der besten Kenner der - gescheiterten - EKD Struktur- und Verfassungsreform Anfang der siebziger Jahre, Olaf Lingner, hat diesen Sachverhalt so beschrieben: "Mit der Gründung des Kirchenbundes in der DDR ist der äußere Anstoß für den Beginn der Verfassungsreform der EKD genannt; die eigentlichen Gründe ... waren andere. Die Situation der EKD war gekennzeichnet durch ein Mißverhältnis zwischen Aufgaben einerseits und verfassungsrechtlicher Struktur andererseits." Dies Mißverhältnis sollte durch die Verfassungsreform aufgehoben werden.

Man kann aus dem Scheitern der Verfassungsreform der siebziger Jahre auch ein positives Ergebnis herauslesen: Die Landeskirchen akzeptieren seit Jahrzehnten durch Stillschweigen einen stückweisen Souveränitätsverzicht, indem sie gegen bestimmte Aktivitäten der EKD keinen Einspruch erheben. Es ist gewiß recht praktisch und wohl auch bequem, auf solche Weise das Erbe der "Grundordnung" zu verwalten. Daß Gefahren in einem solchen Verfahren stecken, hat die Streichung des Buß- und Bettages als eines gesetzlichen Feiertages gezeigt. Hier hätten die Landeskirchen von Anfang an auf die Verankerung dieses Feiertages in der jeweiligen Landesgesetzgebung verweisen und somit die Sache von der EKD weg und an sich ziehen können.

Das vom letzten Ratsvorsitzenden, Landesbischof Klaus Engelhardt, bei seinem Abschied gehaltene Plädoyer für eine strukturelle Konzentration innerhalb der EKD muß auf der Tagesordnung der zuständigen Gremien stehen bleiben. Es gibt inzwischen viel zu viele Vorgänge, die doppelt und dreifach beraten werden (auf der Ebene der Landeskirchen, der konfessionellen Zusammenschlüsse und der EKD). Hier könnte wertvolle Arbeitszeit und auch Geld gespart werden. Denn durch Konzentration und überlegte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips könnten schlankere Lösungsmodelle für viele praktische Fragen gefunden werden, bei denen niemand benachteiligt würde. Doch insgesamt bleibt festzuhalten, daß das in Eisenach verabschiedete Grundmodell der Zuordnung der Landeskirchen zur EKD eine tragfähige und haltbare Konstruktion vorgezeichnet hat.

Worin besteht das Erbe der Konfliktgemeinschaft, in die der deutsche Protestantismus vor fünfzig Jahren in Eisenach hineingeführt worden ist? Gewiß würde es die Väter dieser "Grundordnung" von Herzen freuen, daß ihr Werk alle Stürme und allen Streit so lange Zeit überstanden hat. Einiges deutet darauf hin, daß sich manche Gegensätze im Laufe der Jahre abgeschliffen haben. An die Stelle der damaligen kirchenpolitischen Lagermentalität ist heute zumindest hier und da ein milder Pluralismus getreten, der bereit ist, jedem das Seine zu lassen. Doch täuschen wir uns nicht: Es kann in jedem Augenblick wieder dazu kommen, daß die Gegensätze neu aufbrechen. Ich erlaube mir die Frage zu stellen: Welche alten (uralten?) Frontstellungen sind denn eigentlich bei dem neuesten Streit um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" wieder aktiviert worden?

Der aus dem Erbe hervorgehende Auftrag der "Grundordnung" von 1948 ist unverändert geblieben. Er sagt, daß eine solche Konstruktion nur dann auch weiterhin verantwortet werden kann, wenn man die Ziele zu benennen weiß, um deretwillen ein so kühnes "Kirchliches Einigungswerk" gewagt werden soll. Vor fünfzig Jahren hat man hier an diesem Ort auf diese Frage einmütig eine klare Antwort gegeben: Kirche für das Volk - Kirche in der Öffentlichkeit. Das waren damals die bestimmenden Perspektiven. Und weil man sich über diese Auftragsperspektiven einig war, konnten die positionell so weit voneinander entfernt stehenden Mitglieder dieser Kirchenversammlung der "Grundordnung" einmütig zustimmen. Unser Nachdenken über Erbe und Auftrag muß mit der mahnenden Frage schließen, welche gemeinsamen Auftragsperspektiven uns heute veranlassen, in der Konfliktgemeinschaft der EKD beieinander zu bleiben, wo doch wohl fast jede und jeder von uns eine kirchliche Heimat kennt, in der wir zwar nicht völlig konfliktfrei, aber doch immerhin in vertrauterer Umgebung als Christinnen und Christen leben können. Wem eine eigene Antwort auf diese Frage nicht leicht fällt, der versuche es doch noch einmal mit den Eisenacher Perspektiven: Kirche für das Volk - Kirche in der Öffentlichkeit. Und dazu sagte Niemöller bei der Eröffnung der Kirchenversammlung: "Was wir hier in Eisenach wollen? - Zunächst nichts weiter, als dieser Tatsache Ausdruck geben, daß die Evangelische Kirche sich in Pflicht genommen weiß, daß sie über alle Grenzen der Landeskirchen und Konfessionen hinweg, über alle Trennungslinien der Besatzungszonen hinaus, durch alle politische und soziale Zerklüftung hindurch eine gemeinsame Verantwortung trägt, die wir heute anerkennen und nicht wieder verleugnen wollen."