Handwerk als Chance

3. Probleme und Herausforderungen

(55) Die folgende Darstellung der Probleme handwerklicher Betriebe in Deutschland und der Herausforderungen, vor denen das Handwerk heute steht, sollte im Zusammenhang mit der Grundthese dieser Denkschrift gesehen werden. Es geht darum aufzuzeigen, wo im Bereich Handwerk Probleme grundsätzlicherer Art entstehen und in welcher Hinsicht Verantwortung wahrzunehmen ist.

3.1 Verschärfter Wettbewerb - Kostendruck - Zunahme der Regelungsdichte

(56) In fast allen Bereichen handwerklicher Tätigkeit hat sich der Wettbewerb erheblich verschärft. Die Gründe dafür sind vielfältig und von Branche zu Branche verschieden. Handwerksbetriebe, die Investitionsgüter herstellen und einige Konsumgüter- und Dienstleistungshandwerke sind spätestens seit der Herstellung des Europäischen Binnenmarktes und der teilweisen Öffnung der osteuropäischen Märkte durch verstärkte Konkurrenz aus dem Ausland bedroht. Industriebetriebe, die bislang aus fertigungstechnologischen Gründen kaum eine ernsthafte Konkurrenz für handwerkliche Betriebe waren, dringen mit modernen, flexiblen Fertigungsmethoden immer mehr in angestammte Handwerksmärkte ein. Handelsnahe Handwerke, wie z.B. Bäcker und Metzger, stehen in manchmal ruinösem Verdrängungswettbewerb mit Verbrauchermärkten, weil sie nicht über gleichwertige Möglichkeiten zur Mischkalkulation verfügen und somit im Preiswettbewerb unterliegen. Nicht zu unterschätzen ist gleichfalls die zunehmende "Konkurrenz" durch Heimwerker. Wesentlich gravierender jedoch wirken sich Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung aus.

(57) Viele Märkte sind heute gesättigt. Der daraus resultierende verstärkte Wettbewerb trifft auf eine höhere Preissensibilität bei den Verbrauchern, von denen ein großer Teil mit geringeren Einkommenszuwächsen auskommen muß. Die Umkehrung der Alterspyramide, der Wertewandel in der Gesellschaft (z.B. verstärkte Sensibilität gegenüber Umweltfragen oder der Trend zu qualitativ höherwertigen Produkten und Leistungen), stagnierende Realeinkommen sowie kürzer werdende Lebenszyklen neuer Produkte sorgen für veränderte Nachfragestrukturen.

(58) Die Übernahme neuer Technologien und Organisationsformen wird für das Handwerk in Zukunft in noch kürzeren Zeitabständen notwendig sein. Damit verbunden sind beträchtliche Informations- und Kapitalbeschaffungsprobleme. Neue Verfahrenstechnologien werden erforderlich, weil die Kunden bei Qualität, Flexibilität, Termintreue und Wirtschaftlichkeit immer höhere Ansprüche stellen. Die rasante Entwicklung bei neuen Werkstoffen stellt die Innovationsfähigkeit vieler Handwerksbetriebe sehr auf die Probe.

(59) Obwohl der weitaus größte Teil der Arbeitsplätze von kleinen und mittleren Unternehmen gestellt wird, haben Tarif- und Sozialpolitik in der Vergangenheit häufig zu wenig Rücksicht auf die besonderen Bedingungen der kleineren Unternehmen genommen. Tarifliche Vereinbarungen zum Beispiel für die Arbeitszeitgestaltung werden vielfach für Großunternehmen getroffen, die dann in den kleineren Betrieben zu Problemen führen.

(60) Ein großer Teil der handwerklichen Betriebe hat bei den Lohnsteigerungen nicht vollständig mithalten können. Bei den arbeitsintensiven Produkten und Dienstleistungen des Handwerks schlagen Lohnsteigerungen viel stärker auf den Preis durch als bei kapitalintensiven Industrieprodukten. Bei zunehmend geringen Preiserhöhungsspielräumen mußte das Handwerk bei den Lohnsteigerungen zurückhaltender sein.

(61) Das zentrale Problem der handwerklichen Betriebe ist aber weniger die Höhe der Bruttolöhne als vielmehr die Höhe der Personalnebenkosten. Die amtliche Statistik weist das Handwerk nicht gesondert aus, sondern differenziert nach Branchen und Betriebsgrößen. Hierbei ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Branchen und Betriebsgrößenklassen. Je höher der Arbeitskostenanteil, desto höher sind auch die Personalnebenkosten und damit der Beitrag eines Betriebes bzw. einer Branche zur sozialen Sicherung.

(62) Die gesetzlichen Personalnebenkosten stellen den kleineren Teil der Lohnnebenkosten dar. Sie setzen sich zum einen aus den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung zusammen, die bis zu den Beitragsbemessungsgrenzen proportional zur Lohnsumme sind. Außerdem enthalten sie noch Zahlungen für bezahlte Feiertage, für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für den Mutterschutz und Zahlungen gemäß dem Schwerbehindertengesetz. In den tariflichen und freiwilligen Personalnebenkosten sind viele Größen enthalten, bei denen die Meinungen darüber auseinandergehen, ob es wirklich Zusatzkosten sind oder Lohnkosten im eigentlichen Sinn. Das gilt zum Beispiel für Zahlungen des sogenannten 13. Monatsgehalts. Dieser Lohnbestandteil wird zu den Lohnnebenkosten gezählt, weil er in einer Zahlung für das ganze Jahr erfolgt. Der größte Posten ist aber der vertraglich vereinbarte Urlaub.

(63) Die Industrie kann diesen Belastungen, die durch steigende Löhne und hohe Personalnebenkosten entstehen, durch Rationalisierungen begegnen. Sie kann kapitalintensiver arbeiten und Arbeitsplätze reduzieren. Viele Zweige des Handwerks hingegen haben aufgrund ihrer Tätigkeitsfelder deutlich geringere Rationalisierungsreserven und müssen andere Strategien ergreifen, um die Verteuerung des Faktors Arbeit zu bewältigen. Den Möglichkeiten zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität sind im Handwerk enge Grenzen gesetzt. So gingen im Handwerk bei gleichbleibender bzw. steigender Beschäftigung die zunehmenden Arbeitskosten zu Lasten des Substanzverzehrs und brachten damit die handwerklichen Betriebe in eine immer schwierigere Situation.

(64) Über die Personalnebenkosten werden auch solche sozialen Leistungen finanziert, die in keinem Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis stehen. Es handelt sich dabei um versicherungsfremde Leistungen, die eigentlich systemkonform aus Steuermitteln finanziert werden müßten. So ist beispielsweise die Erhöhung des gesamten Sozialversicherungsbeitrags seit 1990 im wesentlichen durch die Transfers für die Renten- und Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern bedingt. Diese durchaus richtigen und notwendigen Transfers erhöhten die Sozialversicherungsbeiträge allein um fast 3 Prozentpunkte, obwohl es sich dabei um Kosten handelt, die durch die Gesamtheit der Steuerzahler hätten aufgebracht werden müssen.

(65) Als belastend empfinden viele handwerkliche Betriebe die hohe Regulierungsdichte durch Gesetze und Verordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Tarifpartner und Gesetzgeber orientieren sich an einem Gesamtinteresse aus ihrer Sicht, das selbstverständlich nicht immer mit den Interessen kleiner und mittlerer Betriebe übereinstimmen kann, hier aber zu besonderen Problemen führt. Auch der Gesetzgeber nimmt oft auf die Besonderheiten der kleineren Betriebe wenig Rücksicht.

3.2 Demographische Verschiebungen

(66) Die gegenwärtigen demographischen Veränderungen haben erhebliche Auswirkungen auch auf die handwerklichen Betriebe. Der Anteil jüngerer Jahrgänge geht zurück, der Anteil älterer Personen nimmt laufend zu. Diese Verschiebungen haben einen erheblichen Wandel in der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zur Folge. Für das Handwerk wird angesichts der ständig abnehmenden Zahl Jugendlicher und dem gleichzeitig beobachtbaren Trend zu höheren Bildungsabschlüssen vor allem die Nachwuchssicherung zu einem gravierenden Problem. Insbesondere die Führungskräfte und Betriebsinhaber des Handwerks sind derzeit stark überaltert, so daß in den kommenden Jahren fast sprunghaft in großem Umfang Führungskräfte und Betriebsinhaber ausscheiden werden. Die damit freiwerdenden Positionen kann das Handwerk aus dem eigenen Nachwuchs heraus nicht besetzen. So müßte sich beispielsweise künftig eine große Zahl von Handwerksmeistern selbständig machen, wenn das Handwerk in seiner Gesamtheit über genügend Potentiale für Betriebsinhaber verfügen soll.

3.3 Ökologische Herausforderungen

(67) Die Umweltproblematik tangiert das Handwerk wie alle anderen Wirtschaftszweige in vollem Umfang. Jeder Handwerksbetrieb ist heute täglich mit den verschiedensten Umweltschutzfragen konfrontiert. Als zweitgrößter Wirtschaftszweig in Deutschland ist dabei das Handwerk zwangsläufig an der Entstehung von Umweltbelastungen beteiligt. Das Handwerk ist andererseits aber auch selbst von Umweltbelastungen betroffen. Viele Handwerker arbeiten in geschlossenen Räumen oder gehen direkt mit umwelt- und gesundheitsgefährdenden Stoffen um und sind Lärm, Stäuben und anderen Imissionen ausgesetzt. Schließlich ist das Handwerk aufgrund seiner Tätigkeitsfelder aber auch in besonderer Weise dazu prädestiniert, selbst zu einem nachhaltigen Umweltschutz beizutragen. Bei vielen Handwerksberufen ist der Umwelt- und Gesundheitsschutz seit jeher ein klassischer Aufgabenbereich, der durch die allgemeine Umweltdiskussion eine Aufwertung erfahren hat (z.B. Nahrungsmittelhandwerke, Bau- und Ausbauhandwerke, Handwerksberufe, die im Bereich der Reparatur, Montage und Wartung tätig sind). Zudem haben sich handwerkliche Strukturen und Besonderheiten wie die lokale und regionale Bindung an den Markt oder die persönliche und direkte Beziehung zum Kunden als für den Umweltschutz förderlich erwiesen.

(68) Es gibt keinen Wirtschaftsbereich, in dem alle Möglichkeiten zur Lösung von Umweltproblemen und zur Vermeidung von Umweltbelastungen ausgeschöpft sind. Auch im Handwerk muß das Umweltbewußtsein mehr gefördert werden. Es besteht im Umweltschutz ein hoher Bedarf an Schulung, Information, Beratung und Kooperation. Der Beitrag, den das Handwerk für den Umweltschutz leisten kann, und sein Handlungsspielraum in diesem Bereich muß allerdings auch in seiner engen Verflochtenheit und gegenseitigen Bedingtheit mit anderen Bereichen gesehen werden. Sein Beitrag ist zum Beispiel in einem hohen Maße davon abhängig, welche Vorgaben die Kunden bzw. die Auftraggeber dem betreffenden Betrieb machen.

3.4 Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit

(69) Schwarzarbeit ist eine besondere Form eines ungebundenen und sozial rücksichtslosen Wirtschaftens. Hier sind Elemente, die in einer sozialen Marktwirtschaft konstitutiv zusammengehören, wie etwa marktorientiertes Wirtschaften und soziale Sicherung, Leistung und Verantwortung für das Gemeinwohl, persönlicher Erfolg und Dienst an der Gemeinschaft, nicht miteinander verbunden. Schwarzarbeit beruht darauf, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Arbeit, die durch Bildung, soziale Sicherung und Bereitstellung von Infrastruktur geschaffen werden, mißachtet werden und der schuldige Beitrag an die Gemeinschaft verweigert wird. Schwarzarbeit ist Betrug, denn diejenigen, die sich ihrer Verpflichtung entziehen, Steuern und Versicherungsbeiträge zu zahlen, nehmen die Leistungen des Staates gleichwohl in Anspruch, holen sich aber zugleich ihren eigenen Vorteil. Schwarzarbeit ist auch eine Form der Ausbeutung, sei es die Selbstausbeutung, sei es die Ausbeutung anderer. Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich gegenüber den elementaren Lebensrisiken absichern müssen, werden entweder um die erforderlichen Vorsorgeleistungen gebracht, oder die Vorsorgeleistungen werden auf anderem Wege erschlichen.

(70) Der Aspekt des Betrugs wird insbesondere im Blick auf die Auswirkungen von Schwarzarbeit auf die handwerklichen Betriebe deutlich. Im Blick darauf, daß der handwerkliche Betrieb durch seinen Beitrag für das soziale Umfeld und den es versorgenden überschaubaren Raum eine so herausragende Bedeutung hat, ist die Schwarzarbeit für ihn eine besondere Bedrohung, denn sie bietet gleichsam "befreit" von dem Solidarbeitrag zur sozialen Sicherung ihre Leistungen kostengünstiger als das Handwerk an. Sie entzieht sich dem Eingebundensein in verhängnisvoller Weise und beschädigt wichtige Strukturen der sozialen Ordnung. Schwarzarbeit ist weit mehr als einfach nur ein lästiges Wettbewerbsproblem. Sie schädigt und übervorteilt das Gemeinwesen, oder auch, wenn es gar Beschäftigte des Handwerks selbst sind, die Schwarzarbeit leisten, die eigene Branche.

(71) Handwerkliche Betriebe sind besonders betroffen, wenn Selbständige und vor allem Unselbständige in ihrer Freizeit gewerbsmäßig Dienst- und Werkleistungen unter Verletzung des geltenden Steuer-, Sozialversicherungs-, Arbeits-, Ausländer-, Schwarzarbeits- und Handwerksrechts erbringen. Dadurch werden die legal arbeitenden Handwerksbetriebe benachteiligt und deren Arbeitsplätze gefährdet oder gar vernichtet. Bei der unselbständigen beruflichen Betätigung sind es die illegale Ausländerbeschäftigung, der illegale Einsatz von Leiharbeitnehmern und der Leistungsmißbrauch im sozialen Bereich, die zu Lasten der Handwerksbetriebe und ihrer Beschäftigten gehen.

(72) Der Stundenverrechnungssatz für einen Handwerksgesellen macht heute in der Regel das Fünf- bis Sechsfache des Nettostundenverdienstes eines Handwerksgesellen aus. Zu einem guten Teil hat dies auch mit der hohen Steuer- und Abgabenbelastung zu tun. In den letzten Jahrzehnten hat sie fortlaufend zugenommen. 1970 lag der Stundenverrechnungssatz lediglich doppelt so hoch wie der Nettostundenverdienst. Je mehr Abgaben am Faktor Arbeit festgemacht werden und je weiter die Schere zwischen dem Stundenverrechnungssatz und dem Nettostundenverdienst auseinanderklafft, desto teurer wird menschliche Arbeit und desto mehr wird die Entwicklung zu einer kapitalintensiven Produktion gefördert. Es verstärkt sich damit aber zugleich auch der Trend zu Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und Leistungsmißbrauch im sozialen Bereich, da legale Arbeit für die Verbraucher immer teuerer wird und immer schlechter bezahlt werden kann.

3.5 Belastungen und Benachteiligungen für Frauen im Handwerk

(73) Rund ein Drittel aller im handwerklichen Bereich Beschäftigten sind Frauen. Der Frauenanteil ist allerdings geringer als der Anteil der Frauen an der Gesamtheit der Erwerbstätigen. Frauen sind im Handwerk als selbständige Handwerksmeisterinnen, als Meisterfrauen, als mithelfende Familienangehörige und als angestellte Arbeitnehmerinnen tätig. Die größte Gruppe sind die angestellten Arbeitnehmerinnen. Die Situation der angestellten Arbeitnehmerinnen im Handwerk unterscheidet sich kaum von derjenigen in anderen Wirtschaftszweigen.

(74) Zahlenmäßig etwas geringer ist die Gruppe der Meisterfrauen und der mithelfenden weiblichen Familienangehörigen. Dabei spielen die "Meisterfrauen" - das sind in der Regel die mitarbeitenden Ehefrauen - eine zentrale Rolle im Handwerk. In mehr als drei Vierteln aller Handwerksbetriebe arbeitet die Ehefrau bzw. die Lebensgefährtin im Betrieb mit. Die mitarbeitende Ehefrau ist also fast die Regel.

(75) Jeder sechste Handwerksbetrieb wird von einer Frau geführt, rd. ein Viertel der Betriebsneugründungen im Handwerk entfallen auf Meisterinnen. In vielen handwerklichen Bereichen steigt der Frauenanteil stetig.

(76) Im handwerklichen Kleinbetrieb ist es teils eine wirtschaftliche Notwendigkeit, daß die Frau des Meisters mitarbeitet, teils selbst gewählter Lebensentwurf. Die Frau übernimmt in der Regel Führungsaufgaben im kaufmännischen Bereich und ist aus einem reibungslosen und effektiven Betriebsablauf nicht wegzudenken. Zu der Arbeit im handwerklichen Betrieb kommt bei diesen Frauen zumeist die Belastung als Hausfrau und Mutter. Bedingt durch die Arbeitsbelastung im Handwerksbetrieb, aber auch durch traditionelles Rollenverhalten ist in vielen Handwerksbetrieben die Frau allein für die Führung des Haushalts zuständig. Es sind überwiegend die Frauen, die die Kinder erziehen und, wie in vielen Handwerksbetrieben üblich, die ältere Generation bzw. pflegebedürftige Familienangehörige versorgen.

(77) Die Situation der selbständigen Meisterinnen und der Meisterfrauen im Handwerk ist häufig ungünstiger als die der übrigen angestellten Arbeitnehmerinnen im Handwerk und in den anderen Wirtschaftszweigen. Deren Leben ist zwar auch durch Mehrfachbelastung gekennzeichnet, durch die Arbeit im Betrieb und die Haus- und Erziehungsarbeit, doch kommen auf die Meisterinnen und Meisterfrauen im Handwerk durch den Betrieb zusätzliche Belastungen hinzu.

(78) In der betrieblichen Praxis ist es nur selten möglich, die Mitarbeit wegen familiärer Verpflichtungen zu unterbrechen oder die betriebliche Arbeitszeit zugunsten der Familie zu reduzieren. Aufgrund der besonderen Arbeitssituation und der ständig erforderlichen zeitlichen Verfügbarkeit im Betrieb lassen sich die beruflichen und die familiären Verpflichtungen - wenn überhaupt - nur unter großen Schwierigkeiten miteinander vereinbaren. Das betrifft besonders die jungen Frauen mit Kindern. Hier lassen sich nur Lösungen im Rahmen der Familie finden.

(79) Begrenzt sind die Möglichkeiten der Meisterinnen und Meisterfrauen im Handwerk aber häufig auch beim Zugang zu öffentlichen Einrichtungen der Kinderbetreuung, wie Kinderhorten, Kindergärten, Ganztagesbetreuungsstätten und ähnlichem, weil nicht selten Zugangskriterien wie "hilfsbedürftig", "Härtefall" oder "Notfall" eine große Rolle spielen, die in diesen Fällen nicht gegeben sind. Dazu kommt das generell unzureichende Angebot an Einrichtungen dieser Art, vor allem auf dem Lande. Bei Kindern im schulpflichtigen Alter führen die unterschiedlichen Unterrichtszeiten, die mangelnde schulische Betreuung bei Unterrichtsausfall und die Beaufsichtigung bei den Hausaufgaben zu weiteren Problemen. Leider sind in Deutschland Ganztagsschulen, die die berufstätigen Frauen entlasten können, bisher nicht oder nicht genügend vorhanden. Für die Meisterinnen und Meisterfrauen im Handwerk stellt sich täglich die Frage, wie die Arbeit im Betrieb mit dem Haushalt und der Erziehung der Kinder organisiert werden kann.

(80) Erschwert wird die Situation auch dadurch, daß Klein- und Mittelbetriebe personalpolitisch geringe Spielräume haben. Im Gegensatz zum Großbetrieb hat der Handwerksbetrieb kaum Möglichkeiten, den auftretenden Arbeitsausfall über Versetzungen und sogenannte Springer auszugleichen. Auch der Mangel an qualifizierten Fachkräften, der in vielen Handwerksberufen zu verzeichnen ist, erfordert häufig eine entsprechende Mehrarbeit der Handwerksfamilie. Darüber hinaus haben die jüngsten sozialrechtlichen Gesetzesänderungen zusätzlich die Arbeitsbelastung der Meisterinnen und Meisterfrauen im Handwerk erhöht. Ob es sich um die Ausweitung des Erziehungsurlaubs oder die an die Ausweitung des gesetzlichen Krankengeldes gekoppelte Erweiterung des arbeitsrechtlichen Freistellungsanspruchs bei Krankheit des Kindes handelt, stets sind die Leidtragenden dieser sozialen Errungenschaften die Handwerksmeisterinnen und Meisterfrauen im Handwerk. (81) Viele mitarbeitende Ehefrauen, insbesondere in Kleinbetrieben, haben nicht den Status von abhängig Beschäftigten und kommen insofern nicht in den Genuß diesbezüglicher sozialer Sicherungen. Vielfach sind sie auch als Unternehmerfrauen privat nicht ausreichend abgesichert. Hinzu kommt, daß häufig in Betrieben mit weniger als 10 Beschäftigten keine oder nur unzureichende Regelungen der Erbfolge und der Witwenversorgung für die mitarbeitende Ehefrau existieren. Hier besteht im Handwerk selbst ein großer Informations- und Handlungsbedarf.

(82) Die Unternehmerfrau im Handwerk kommt vielfach aus anderen Berufen. Für die neue Aufgabe im Handwerksbetrieb fehlen spezifische Aus- und Fortbildungsgänge, deren Schaffung dringend geboten ist.

3.6 Bildungsprobleme - Berufliche Perspektiven

(83) Schulische und akademische Bildung haben für unsere Wirtschaft und Gesellschaft zentrale Bedeutung. Der gleiche Stellenwert kommt aber auch der beruflichen Aus- und Fortbildung zu. Nur beide Bildungsbereiche zusammen führen zu einer ausgewogenen, den Begabungen, Neigungen und Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechenden Bildungs- und Qualifikationsstruktur. Im geteilten Deutschland nach 1945 haben sich zwei ganz unterschiedliche Formen beruflicher Bildung etabliert. Sie wurden 1990 wieder zusammen geführt. Die unterschiedlichen Prägungen wirken allerdings weiter.

3.6.1. Defizite im Bereich der beruflichen Bildung

(84) Die Bildungssituation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker verändert. Der Anteil der Studenten an einem Altersjahrgang hat seit 1960 um 730% zugenommen, die Zahl der Lehrlinge demgegenüber um 15%.

(85) Das Handwerk leistet einen wichtigen Beitrag für die Berufsausbildung. Handwerkliche Betriebe bilden mehr als ein Drittel aller Lehrlinge aus, obwohl nur etwa 20% aller Arbeitnehmer im Handwerk beschäftigt sind. Die Zahl der Ausbildungsverhältnisse im Handwerk stieg von 1975 bis 1980 um 39%. Wohl aufgrund der damaligen Erfahrungen ist seitdem die betriebliche Ausbildung nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt worden. Die Diskussion um Reformen der beruflichen Bildung konzentriert sich seitdem vorwiegend auf qualitative Verbesserungen und die Anpassung an die veränderten wirtschaftlichen, technischen und organisatorischen Gegebenheiten. Die bildungspolitische Weichenstellung der Bildungsoffensive zugunsten der schulischen und allgemeinen Bildung wirkt sich allerdings bis zum heutigen Tage immer stärker aus.

(86) Das veränderte Bildungsverhalten der Jugend wird den Arbeitsmarkt zusätzlich beeinflussen. Der langfristige Trend zu höheren Schulabschlüssen geht eindeutig zu Lasten der Hauptschule und zugunsten der weiterführenden Schulen. Obwohl der Anteil der Hauptschüler laufend zurückgegangen ist und sich dafür der Anteil der Schulabgänger mit höheren Abschlüssen entsprechend erhöht hat, ist der Anteil der Hauptschüler an den Handwerkslehrlingen von 1984 bis 1993 von 48,6% auf 53% angestiegen. Der Anteil der Lehrlinge ohne Hauptschulabschluß hat sich sogar von 3,9% auf 6,0% erhöht. Leicht angestiegen ist auch der Anteil der Lehrlinge mit Hochschul- oder Fachhochschulreife, nämlich von 5,0% im Jahr 1984 auf 5,6% 1993. Rückläufig war allerdings der Anteil der Absolventen mit Mittlerer Reife oder aus Berufsfachschulen, der sich von 28,8% auf 24,2% verringert hat. Stärker als der zahlenmäßige Rückgang der Lehrlinge, der zum Teil demographisch bedingt ist, wird aus diesen Vergleichen deutlich, daß sich der Handwerksnachwuchs von der schulischen Vorbildung her qualitativ verschlechtert hat, obwohl die Anforderungen in den Handwerksberufen deutlich gestiegen sind.

(87) Das Handwerk ist auf diese Entwicklungen noch nicht ausreichend vorbereitet. Es kennt, gleichgültig, ob Sonderschüler, Hauptschüler oder Abiturient nur einen Bildungsgang: die Lehre mit dem Abschluß "Gesellenprüfung". Auf unterschiedliche Vorbildungen kann die handwerkliche Berufsausbildung nur durch Verkürzung der Lehrzeit reagieren. Dies reicht nicht aus.

(88) Mit dem steigenden Anteil von Schulabgängern mit höheren Bildungsabschlüssen hat sich die schulische Bildung verbessert, was selbstverständlich auch für die darauf aufbauende berufliche Aus- und Fortbildung von Vorteil ist. Dies um so mehr, als die Anforderungen an die berufliche Aus- und Fortbildung deutlich gestiegen sind. Zum Nachteil für die berufliche Bildung erwiesen sich allerdings die Erwartungen, die bei den Betroffenen mit höheren Bildungsabschlüssen verbunden sind. Sie neigen dazu, die Möglichkeiten einer beruflichen Bildung und der sich anschließenden Berufswege zu unterschätzen und die Möglichkeiten einer akademischen Ausbildung zu überschätzen. Dies gilt selbst für Absolventen mit der Mittleren Reife; sie bevorzugen häufig ebenfalls die ihnen offenstehenden Studiengänge. Viele Absolventen mit ausgesprochen praktischer Begabung verkennen in vielen Fällen auch ihre persönlichen Stärken. Einstellungen und Erwartungen spielen bei der Wahl von Berufs- und Bildungsweg eine ganz entscheidende Rolle. Die gewerblich-technischen Ausbildungsberufe sind weit weniger begehrt als beispielsweise die Ausbildung im kaufmännischen Bereich und in der Verwaltung, vor allem in Großbetrieben und im öffentlichen Dienst. Selbst dann, wenn sich Absolventen für eine gewerblich-technische Richtung entscheiden, werden die Großbetriebe und der öffentliche Dienst bevorzugt, erst danach kommen die kleineren Betriebe und das Handwerk. Innerhalb des Handwerks bilden wiederum bestimmte Berufe, z.B. im Nahrungsmittel- und im Bauhandwerk das Schlußlicht.

(89) Zwar gibt es inzwischen fachbezogene Übergänge von der Meisterprüfung zur Universität, viele berufliche Bildungsabschlüsse aber lassen gleichwohl derzeit eine spätere Weiterqualifizierung in schulischen und akademischen Bereichen nicht zu. Nach wie vor eröffnet allein das Abitur sämtliche Optionen des Zugangs zu allen Ausbildungswegen, auch im berufsbildenden Bereich. Ein Vergleich zwischen beruflicher und schulischer Aus- und Fortbildung zeigt die gravierende Benachteiligung der beruflichen Aus- und Fortbildung, die bis zur Einführung des sog. "Meisterbafög" besonders in der finanziellen Förderung offenkundig war. Diese Benachteiligung der beruflichen Bildung war weder aus sozialen noch aus arbeitsmarktpolitischen oder gar volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten länger zu vertreten. Mit dem jahrelang umstrittenen "Meisterbafög" wurde eine wichtige Weichenstellung zugunsten der beruflichen Fortbildung vorgenommen, auch wenn die Fördermodalitäten verbesserungsbedürftig sind. Es bleibt zu hoffen, daß durch das "Meisterbafög" dem Rückgang der Teilnehmer an Fortbildungsmaßnahmen, insbesondere bei der Meisterausbildung im Handwerk, entgegengewirkt werden kann.

(90) Betroffen war nicht nur die Meisterausbildung, sondern die berufliche Weiterbildung und Qualifizierung generell, die zur Anpassung an den raschen wirtschaftlichen, technischen und organisatorischen Wandel unerläßlich ist. Heute müssen sich alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer ständig weiterbilden, um mit dem technischen und wirtschaftlichen Wandel Schritt halten zu können. Volkswirtschaftlich schädlich und sozialpolitisch höchst problematisch ist daher die Kürzung der Mittel für Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Auch die Arbeitslosigkeit, die zu einem erheblichen Teil strukturell bedingt ist, fordert umfassende Umschulungs- und Requalifizierungsmaßnahmen, um die Berufschancen der Arbeitslosen zu verbessern. Der gesamte Bereich der Umschulung, Requalifizierung und Weiterbildung ist ein zentraler Ansatzpunkt zur Anpassung an veränderte wirtschaftliche, technische und organisatorische Gegebenheiten.

3.6.2. Nachwuchs- und Fachkräftemangel

(91) Im handwerklichen Bereich besteht seit Jahren ein erheblicher Fachkräftemangel. Es kommt letztlich den Betrieben selbst zugute, wenn sie so viele junge Menschen wie möglich ausbilden und ihnen die bestmögliche Ausbildung zu geben versuchen. Dabei müssen sich handwerkliche Betriebe verstärkt um Absolventen aus den höheren Schulen, um den qualitativ besten Nachwuchs bemühen. Gleichzeitig muß aber auch weniger Qualifizierten eine echte Chance im Handwerk geboten werden.

(92) In den nächsten Jahrzehnten wird sich der Altersaufbau der bundesdeutschen Bevölkerung dramatisch verändern. Noch in den 90er Jahren wird es erstmals mehr über 50-jährige als unter 30-jährige Erwerbstätige geben. Diese Entwicklung wird das Angebot an Arbeitskräften entscheidend verändern. Im Vergleich zur Mitte der 80er Jahre wird sich zur Jahrtausendwende die Zahl der Schulabgänger fast halbieren. Außerdem erreichen die geburtenstarken Jahrgänge zunehmend das Rentenalter, so daß künftig in hoher Zahl Fach- und Führungskräfte im Handwerk ausscheiden, ohne daß dies durch entsprechenden Nachwuchs ausgeglichen werden kann.

(93) Die Überalterung der Fach- und Führungskräfte ist dabei besonders hoch. Trotz seiner hohen Attraktivität findet das Handwerk bei den jüngeren Jahrgängen ein vergleichsweise geringes Interesse. Das Handwerk wird also früher und mehr als andere Wirtschaftszweige von einem Ausscheiden einer großen Zahl älterer Fachkräfte und dem Nachwuchsmangel betroffen sein. Der Arbeitsmarkt der ausgehenden 90er Jahre wird dann durch einen Mangel an Fach- und Führungskräften bestimmt sein. In Zukunft wird zunehmend die ältere Generation die Innovationen und den technischen Fortschritt im Betrieb tragen müssen.

(94) Obwohl das Handwerk viele jener Möglichkeiten in sich vereinigt, die gemeinhin Inbegriff humaner und selbstbestimmter erwerbswirtschaftlicher Betätigung sind, gibt es bei vielen Arbeitnehmern geradezu Berührungsängste. Im Zusammenhang mit den großbetrieblichen Massenentlassungen der letzten Jahre stellt sich das drängende Problem, diese z.T. jungen und leistungsfähigen Menschen wieder in die Beschäftigung zu bringen. Aufnahmefähig und -bereit wären in vielen Fällen geeignete Handwerksbetriebe. Trotz intensiver Bemühungen und Hilfen von Arbeitsämtern, Kammern und Betrieben scheitert die Integration von Arbeitslosen, die zuvor in Großbetrieben gearbeitet haben, weil sie es ablehnen, eine Beschäftigung in einem Handwerksbetrieb anzunehmen - dies oftmals in Fällen, in denen sie ihre Ausbildung in einem solchen Betrieb absolviert haben. Dabei spielt der zu erwartende Lohn in den meisten Fällen keine entscheidende Rolle. Ausschlaggebend scheint vielmehr eine "großbetriebliche Prägung" und die Aufstiegschancen und beruflichen Aussichten im Bereich großer Betriebe zu sein. Wenn man davon ausgeht, daß es ein Beschäftigungswachstum bei den Großbetrieben nicht mehr geben wird, kann diese Grundeinstellung zu einem ernsthaften Hindernis für den notwendigen Strukturwandel werden. Bei hoher Arbeitslosigkeit werden vorhandene Beschäftigungspotentiale im handwerklichem Bereich nicht genutzt. Es ist dringend erforderlich, hier mehr Durchlässigkeit zu erreichen.

3.7 Weltwirtschaftliche Herausforderungen

(95) Heute müssen sich Industrie, Handel und Handwerk und letztlich alle Bürger darauf einstellen, daß es weltweit wirkende Trends gibt, deren Wirkungen teilweise noch nicht absehbar sind. Durch den Wegfall der Grenzen im europäischen Einigungsprozeß, durch den Zerfall der Blöcke, durch Massenkommunikation und weltweit wirkende Migrationsprozesse ergeben sich neue globale Konstellationen. Die Verflechtung der Volkswirtschaften infolge der Internationalisierung der Märkte und Globalisierung der Produktion und Wissensverarbeitung stellen einzelstaatliche und nationalökonomische Betrachtungsweisen in Frage. Diese Entwicklungen sind nicht ohne Einfluß auf das Handwerk, obwohl dessen Wirkungsfeld die Region und nicht der Weltmarkt ist.

(96) Die lokalen und regionalen Märkte des Handwerks werden immer stärker von einer Globalisierung der gesamten Wirtschaft bestimmt. In zunehmendem Maße wird alles weltweit miteinander vernetzt. Moderne Kommunikationstechnologien machen Informationen an jedem Standort für alle schnell und direkt nutzbar. Weitreichende Verkehrserschließungen lassen Entfernungen schrumpfen und die räumlichen Märkte immer größer werden. Die Transport- und Kommunikationskosten nehmen, gemessen an den gesamten Produktionskosten, ab. Verkehrserschließungen und neue Kommunikationstechniken lassen bisherige relative Standortvorteile schwinden und begünstigen bislang benachteiligte Produktionsstandorte, die weiter entfernt von den Hauptabsatzgebieten sind.

(97) Mit der Globalisierung der Märkte, vor allem aber der zunehmenden Verflechtung der europäischen Märkte, wächst auch der Austausch von Gütern und Dienstleistungen aus dem handwerklichen Bereich. Es kommt zu sehr schnellen, gar sprunghaften Veränderungen, die die Unternehmen begünstigen, die schnell und äußerst flexibel reagieren können. Hier hat das kleinstrukturierte Handwerk eindeutig Vorteile gegenüber den Großunternehmen mit längeren Planungs- und Entscheidungszeiträumen. Insofern begünstigt die Globalisierung grundsätzlich die flexiblen kleinen und mittleren Unternehmen. Andererseits tun sich handwerkliche Betriebe äußerst schwer in der Nutzung moderner Kommunikationstechnologien sowie in der internationalen Zusammenarbeit. Hinzu kommt, daß die Globalisierung der Weltwirtschaft in vielen Wirtschaftszweigen für Produktions- und Dienstleistungsbetriebe eine regionale und betriebliche Dezentralisierung begünstigt. Dagegen werden für zentrale Entscheidungs- und Verwaltungseinheiten eher noch betriebliche und regionale Konzentrationen gefördert. Damit verbunden ist eine Ballung von Macht und Kapital.

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