Predigt zum 1. Sonntag nach Trinitatis im Dom zu Greifswald / Bachwochen – Kantaten-Gottesdienst ( 5. Mose 6, 4 - 9)

02. Juni 2002

(4) Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.
(5)  Und du sollst den HERRN, deinen Gott,
lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer
Seele und mit all deiner Kraft.
(6)  Und diese Worte, die ich dir heute gebiete,
sollst du zu Herzen nehmen
(7)  und sollst sie deinen Kindern einschärfen
und davon reden, wenn du in deinem Hause
sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich
niederlegst oder aufstehst.
(8)  Und du sollst sie binden zum Zeichen
auf deine Hand, und sie sollen dir ein
Merkzeichen zwischen deinen Augen sein,
(9) und du sollst sie schreiben auf die
Pfosten deines Hauses und an die Tore.

1.
„Höre, Israel“ – so beginnt das Glaubensbekenntnis Israels.
„Höre!“ – das erste Wort soll die festliche Kantate mit dem Wort Gottes verbinden, das diesem Sonntag zugeordnet ist.
Um die Botschaft wirklich hören zu können, müssen wir schrille Geräusche ausblenden. Wir müssen den Lärm überhören, der die wunderschöne Musik zu übertönen droht. Dann, wenn wir hier zur Ruhe kommen und die Musik erleben und genießen, dann muss unser Ohr auch die wunderschöne Musik durchdringen, um zur Mitte zu kommen, um das Absolute zu hören. Wenn es für die Musikinteressierten nicht irritierend wäre, würde ich sagen: Lasst uns um das absolute Gehör bitten. So aber sage ich besser: Lasst uns darum bitten, das Absolute zu hören:
„Höre, Israel – Der Herr ist unser Gott, ER allein.“

Lärm, der die schöne Musik zu übertönen droht:
Es ist der Lärm der Geschichte, das Getöse des Missbrauchs religiöser Weihen für weltliche Geschäfte. Stadträte mit ihren Legislaturperioden und ihren Geschäftsordnungen, das sind weltliche Geschäfte. Es ist eine längst vergangene Zeit, in der Johann Sebastian Bachs Musik zur Eröffnung des neugewählten Rates der Stadt Leipzig ertönte. Es war das Jahr 1731. Damals pflegte man die von Gott verordnete Obrigkeit mit geistlichem Beistand zu weihen. Man feierte festliche Gottesdienste mit eigens dafür komponierter Musik.

Danach und immer wieder in der Geschichte leiteten Obrigkeiten aus solchen Weihen Vollmachten ab, für die sie sich vor den Menschen nicht mehr rechtfertigen wollten. „Und alles Volk soll sagen: Amen!“ singen Alt und Chor in dieser Kantate, gleichsam als Belehrung, was die Rolle des Volkes sein sollte, im politischen Geschäft.
Als dann die Zeiten solche Gottesweihen für entbehrlich hielten, waren längst andere Systeme entstanden. Auch sie hatten ihre feierlichen Musikaufführungen zum Lobpreis der eigenen Stärke. Auch hier hatte das Volk Ja und Amen zu sagen zu dem, was im Namen von Führer und Rasse oder im Namen von Partei und Klasse verordnet wurde. Auch hier übten Stadträte ihre Macht aus. Weder vor Gott noch vor dem Menschen musste gerechtfertigt werden, was verordnet und entschieden wurde.
Schutz- und Hilfesuchende wurden von den städtischen, örtlichen Ebenen oft genug auf höhere und weitere Machtnetze verwiesen, denen auch die kleinen Stadt- und Kreisfunktionäre ausgeliefert waren.

Diese Geschichte ist der Lärm, der es bisweilen schwer macht, die wunderschöne Musik heute mit ungetrübter Freude zu hören. Wir hören  den festlichen Überschwang, staunen über die jubelnden und kunstvollen Dankgesänge. Wunder der Barmherzigkeit, Gottes Güte werden gepriesen. Und viele sind skeptisch, ob das dem Glauben angemessen ist, ob die Musik nicht religiös überhöht, was eigentlich zu den Ordnungen dieser Welt gehört.

Gerade heute ist diese Skepsis immer dann notwendig, wenn religiöse Begründungen sogar für Verbrechen, für Terror und Hass herhalten müssen.

Genau darum muss unser Ohr auch durch diese wunderschöne Musik hindurchdringen. Denn hinter den bewegenden Melodien und Harmonien, hinter den kunstvoll und kontrapunktisch gesetzten Linien muss unser Ohr das Absolute hören; das ist das Maß für das menschliche Lobpreisen.

„Höre, Israel! ER ist unser Gott, ER allein.
Du sollst IHN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von all deiner Kraft.“

2.
Das Glaubensbekenntnis Israels – faszinierend und eindrücklich. Von einer Generation zur anderen soll es getragen werden. - ‚Du sollst diese Worte zu Herzen nehmen, den Kindern einschärfen. Wo du stehst und gehst, zu Hause und in der Fremde.‘
Als Zeichen an der rechten Hand, zwischen den Augen, an den Türpfosten sollen die Worte geschrieben sein.

So zielt denn alle Musik, die wir heute erleben, wie auch alle Unterweisung auf dieses Bekenntnis: Gott ist einer!
Was ist so faszinierend an diesem Bekenntnis?
Warum gilt es als so wichtig?
Und warum hören Menschen so schwer, wenn es um das Absolute geht?
Der Herr, euer Gott, ist Einer. Dieses lebenswichtige Bekenntnis ist nicht ein Satz theoretischer Erwägungen und logischer Ableitung. Es ist die gesammelte Erfahrung einer gelebten Geschichte.
Ein Volk wurde herausgerufen aus der gestaltlosen Babelwelt, die ihren Turm der Selbstüberhebung zu bauen trachtet. Eine Menschheit, die zerstreut wird unter dem Fluch der Verwirrung ihrer Sprache; Grammatik- und Vokabelkenntnis bringen die Erlösung nicht. Nur ein Neuer Geist kann Verstehen lehren: „Ich habe dich erwählt – du bist mein.“ Die Kinder sollen es gesagt bekommen: Eure Väter und Mütter waren Sklaven in Ägypten, sie sind in die Freiheit geführt worden. Darum gilt es, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft.

Das ist ein Bollwerk gegen die selbst gemachten Götter und gegen die konstruierte Gottlosigkeit, gegen die Sehnsucht nach rückwärts, nach der sich rasch verklärenden Vergangenheit.
Das lassen Sie uns bedenken. Viele sind erzogen in atheistischem Geist, systematisch als Bestandteil eines Schulkonzeptes oder nebenbei, mit oberflächlich rationalistischen Vulgärsprüchen. Sie können Gottes Wirken nicht erkennen, vermögen sein Werk nicht zu ahnen; erklären Gott für als ein Ergebnis der Projektion menschlicher Ideale oder als Ausgeburt des Seufzens einer bedrängten Kreatur, als Opium des Volkes. Nur das Elend müsse bereinigt sein und schon erweise sich jede Gottesvorstellung als überflüssig. So haben es die materialistischen Theoretiker erklärt und so hat es sich auch ausgebreitet, wo Religionsunterricht erteilt wurde, gleichsam als ein platter Rationalismus, der nur die Oberfläche als wahr erkennt. Solche Religionstheorie wird ausdrücklich oder unter der Hand nach wie vor weitervermittelt in die neue Generation.
Es ist ein Irrweg des Denkens!

Das Bekenntnis Israels ist nicht vorrational unaufgeklärt. Es ist erlebte Geschichte; religiöse Erfahrung, die nicht verfliegt, weder in den dunklen Phasen einer Jahrhunderte langen Verfolgungsgeschichte, noch dann, wenn kühle Rationalität sich über die Erlebnisse hermacht und sie zu pathologisieren trachtet.

Gerade wenn menschlich nichts mehr zu gehen scheint, gerade wenn rationale Konstrukte zu größenwahnsinnigen Staats- und Gesellschaftskonzepten gewuchert sind, erweist sich die Gotteserfahrung als Halt und als Gegengewicht. Wo diese Gotteserfahrungen ideologisch-propagandistisch verspottet werden, da brechen sie sich neu ihre Bahn. Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass die Wirklichkeit nicht aufgeht, in dem, was einer zahlen und berechnen kann.
Wo Gott abgeschafft oder verdrängt wird, entsteht ein Vakuum, in das neue Mächte einströmen, keine klaren rationalen, sondern verführerische: Mammon nennt das Jesus in der Bibel. Die Jagd nach Geld und Macht beginnt – zerstört das Zusammenleben, drückt Schwache an die Seite, geht über Leichen.

ER, unser Gott, ist Einer. Nichts dagegen bietet die ganze Palette der selbst gemachten oder von Staats- und Menschenmacht verordneten Götzen.
Höre, Israel. – Das ist das Geschenk des Gottesvolkes an die Welt. – Bitten wir um das absolute Gehör – um das Gehör für das Absolute.

3.
„Höre, Menschheit“, so dürfen wir das Bekenntnis Israels abwandeln. Denn wir haben es von Jesus, dem Juden, der uns und alle Völker einbezieht in die Erfahrung und die Geschichte seines Volkes. Ihm glauben wir Christen seinen Gott. Von ihm wissen wir, dass dieser Gott die Verlorenen sucht und die Kleinen erwählt hat. Von ihm wissen wir, wie riskant das Leben in der Gottesmissachtung ist, das Leben der Ellenbogen und des Zynismus, das Leben des Brudermordes, der Frauenunterdrückung und der Kinderausnutzung.
Henning Schroer, der vor kurzem gestorbene Bonner Professor, hat das Bekenntnis Israels zu unserem entfaltet.
„Höre, Menschheit, Juden und Christen, der Gott Israels ist der Gott Jesu Christi, Gott als einer, er allein. Und du sollst ihn bejahen mit deinem ganzen Denken und Fühlen, mit deiner Bedürftigkeit und deinen Stärken, mit deinem Geld und deinem Vermögen.“

Einzig ist Gott – die Liebe ist seine Gestalt.
Erzählt davon euren Kindern – zu Hause und auf Reisen! Macht auch handfeste Zeichen gegen die Engstirnigkeit. Die jüdischen Symbole an Stirn und Arm beim Gebet – der kleine Behälter an dem Türpfosten mit dem Stückchen Pergament, auf dem dieses Bekenntnis geschrieben steht: Höre, Israel, ER ist euer Gott, ER ist Einer“.- Es steht da aufgeschrieben, dass es beim Eingang und Ausgang beachtet wird.
Es darf nicht vergessen werden in den Abgründen des Leides und im Gewirr des äußerlichen Betriebs.

Nutzen wir vergleichbare Zeichen: das Kreuz als ein Abbild – die wundervollen Kirchen wie diese hier in Greifswald – nutzen wir auch die herrliche Musik, damit wir die Herkunft nicht vergessen: Einzig ist Gott – Die Liebe ist seine Gestalt.
Er liebt die Verlorenen und richtet das Kleine und Bedrückte auf.

Der Ratsregierung von Leipzig, zu deren Amtsantritt die jubelnde Kantate zum ersten Mal erklang, hat man damals viel zugetraut. Man war dankbar für die Menschen und ihre Begabungen, für ihre guten Absichten und Ziele. Das sollte dem Gemeinwesen helfen. Recht und Gerechtigkeit als Bedingungen friedlichen Zusammenlebens, das zu fördern war der Auftrag des Rates.

Enttäuschungen über menschliche Machenschaften gab es auch damals schon. Erst recht heute, so fürchte ich, werden viele das dankbare Zutrauen zu den Menschen nicht aufbringen und damit auch nicht zu Gott, von dem sie anderes erwarten, als die Politik uns bereitet.

Zu schwer sind die Probleme unserer Zeit. Die Weltlage mit ihren Aggressionen und Terroranschlägen, mit ihrer Ungerechtigkeit gegenüber den armen Massen reizt zu anderen Gesängen, als zu jubelndem Dank.

Zu viel Enttäuschung bereiten auch die schwarzen Schafe in der politischen Klasse. Uns befällt eher verdrossene Müdigkeit als fröhlicher Dank. Gerade wieder erleben wir Politiker, die sich die Krankheit der europäischen Kultur, den Antisemitismus, zu nutze machen suchen. Es gibt den Bodensatz der Vorurteile im Dunst von Stammtischen. Immer wieder traut er sich ans Licht mit Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen, mit Bedrohung jüdischer Bürger und ihrer Freunde.
Wer Verantwortung trägt in unserem Land, darf sich dieser Stimmungen nicht bedienen. Im Gegenteil – unsere Politik muss diese Unkultur in Grenzen halten. Das ist ihr demokratischer, humaner und christlicher Auftrag. Furchtbar, wenn sich einer damit brüstet, er habe 11 Tausend zustimmende Zuschriften erhalten für antisemitische Ressentiments.

Trotz all dem: Die Kantate ist ein Zeichen gegen diesen Ungeist. Ihre Töne und Worte werden uns nicht einschläfern. Sie werden unser Gehör schulen und es auf das Absolute weisen: Höre Menschheit, der Herr ist unser Gott. Der Gott der Liebe.

Ein Letztes noch:
Vielleicht ist im Lichte der Botschaft des alten Bekenntnisses aus Israel gerade diese Kantate ein neuer Impuls, für die zu beten, die Verantwortung tragen in unserer Gesellschaft. Viele von ihnen drohen mutlos zu werden, angesichts aller pauschalen Verurteilungen, die ihnen begegnen. Sie brauchen aber Zutrauen und Ermutigung für ihren Einsatz, damit unser Gemeinwesen die Spuren dieses einen Gottes, der die Liebe ist, deutlicher erkennen lässt.
So segne uns Gott, dass wir seine einzigartige Liebe deutlicher verstehen und dankbar beantworten können.