Predigt am Gedenktag der Reformation in der Schlosskirche zu Wittenberg

31. Oktober 2002

Predigttext:
Philipper 2, 12 und 13

I.
Liebe Gemeinde!
Um die Wahrheit und um die Freiheit muss es gehen am Gedenktag der Reformation. Gerade auch an dieser historischen Stätte, dem Grab Martin Luthers – gerade auch 485 Jahre nach dem symbolträchtigen Tag seiner 95 Thesen über Buße und Ablass.

Das Ziel der Reformation im 16. Jahrhundert war nicht der Beginn einer neuen Kirche, sondern die Erneuerung der einen apostolischen und katholischen, das heißt allgemeinen Kirche.
Reformation bedeutet nicht Spaltung, sondern Sammlung der in vielerlei Hinsicht gespaltenen und zerrissenen Christenheit unter Wort und Sakrament.

Es gibt immer wieder Stimmen, die meinen, die Feier des Reformationstages sei heutzutage ökumenisch hinderlich; man solle doch alte Gräben nicht immer wieder aufreißen.
Und es gibt andere Stimmen, die fordern heute ein schärferes protestantisches Profil und meinen damit eine selbstbewußte Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche. Entsprechend gibt es auf römisch-katholischer Seite solche, die sehen die römische Kirche als die eigentliche an und deuten alle anderen Varianten als unzulänglich. Folglich könne es nur eine Rückkehr-Ökumene geben.
Solche Einstellungen gehen davon aus, dass Reformation ein Synonym für Trennung ist.
Das ist aber falsch. Die Reformation war eine ökumenische Aktion; ein Versuch, die schon zu damaliger Zeit in vielerlei Hinsicht zerrissene Christenheit unter dem Evangelium durch Wort und Sakrament zu erneuern, zu sammeln und zu einen.

Viele  hatten sich Erneuerung erhofft – Künstler und Intellektuelle, Ritter und Bauern. Sie erwarteten, dass durch die Konzentration auf die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament einer neue Einheit erreichbar wäre. Die ökumenische Dimension der Reformation ist ein Pfund, mit dem wir nach wie vor wuchern können.

Darum lasst uns hören auf Gottes Wort, das lebendig ist und uns den Weg weist für unseren Glauben heute.  In seinem Brief an die Philipper schreibt er:

Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit
gehorsam gewesen seid, nicht allein in
meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel
mehr in meiner Abwesenheit, - schaffet,
dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.

Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides,
das Wollen und das Vollbringen, nach
seinem Wohlgefallen.

II.
Zu Beginn ein Lobspruch des Apostels für die Gemeinde zu Philippi! Und für uns?:
„Ihr seid alle Zeit gehorsam gewesen,“ schreibt er.
Gehorsam im Wortsinn bedeutet: richtig hinhören, horchen auf Gottes Wort – und gehorchen, so sieht es der Apostel. Darauf kommt es an. Richtig hinhören, das ist reformatorischer Glaube.
Gehorchen, auf Gottes Wort hören, das ist keine kritiklose Obrigkeitstreue.
Leider ist christlicher Glaube auch immer wieder so verstanden worden. Die Reformation wurde angezündet durch die neue Entdeckung des Wortes Gottes, aber überlebt hat sie, auch weil Fürsten und Mächtige sich für den Schutz der reformatorischen Bewegung eingesetzt haben. Viele erwarteten dafür entsprechende Untertanentreue. Widerstand dagegen hat es durch die Geschichte hindurch oft nur von sehr wenigen  - zu wenigen - gegeben. Blicke wir nicht herab auf die vor uns, die „Hurra“, „Heil“ und „Freundschaft“ gerufen haben und den Diktatoren gefolgt sind. Prüfen wir, welches Leid der Welt wir geschehen lassen, welche Mächte wir über uns herrschen lassen.

Paulus wollte seine Gemeinde nicht zu kritiklosem Untertanengeist zwingen. Der reformatorische Ansatz des Gehorsam bedeutet: Neu hinhören. Der Zusammenhang macht es ganz klar.

Die beiden Verse aus dem Philipperbrief stehen im Anschluss an ein altes Lied, einen Christushymnus, der so beginnt:
„Ein jeglicher sei gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht“. Und dann wird der Weg Jesu beschrieben: So kommt Gott in diese Welt, er ist gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz.
Und gerade dieser Tod am Kreuz ist es, der die große Vision auslöst: „Alle Knie sollen sich beugen vor Gott, alle Zungen sollen bekennen, dass Christus der Herr ist.“
Hier ist es, hier ist das, was Reformation meint: Die eindeutige Hinkehr zu diesem einen Gott, der zu uns herabgekommen ist. Zum Gott der Befreiung. Neben ihm haben alle anderen Götter abgewirtschaftet.
Gehorsam ist also folglich nicht mit Parieren und Untertansein zu übersetzen. Gehorsam heißt: Hinhören auf diese große Wirklichkeit der göttlichen Befreiung:
Nicht ich selber, nicht meine guten Taten, nicht mein Lebenswandel, schon gar nicht meine Volkszugehörigkeit und meine Intelligenz oder mein Geld bringen mich auf Gottes Seite. Er selber hat uns befreit durch Jesus. Auf diese Botschaft gilt es hinzuhören. Dann ist zu entdecken:
Gerechtigkeit vor Gott muss nicht ersetzt oder ergänzt werden durch Heilige und deren überschüssige Wohltaten. Gerechtigkeit ist geschenkt.

III.
Mit Furcht und Zittern.
„Schaffet, dass ihr selig werdet mit Furcht und Zittern.“ Mit Furcht und Zittern, sagt Paulus. Die Worte müssen wir aus dem ganzen Zeugnis des Paulus entfalten:
Angesichts der großen Befreiung durch Gott in Jesus Christus deckt sich auf, was mit uns wirklich los ist.
Das eigene Herz ist ein Abgrund.
Die Welt ist voller Rätsel, die ich nicht erklären kann. Voller Unrecht und Angst, die mich bekümmert.
Da ist dieser hässliche Graben, der mich von Gott trennt, das Dunkel des Todes.
Da ist der genaue Blick auf meine Schuld, die niemand wegnehmen kann, vor allem ich selber nicht.
In dieser Erkenntnis ist es verständlich: Mit Furcht und Zittern erkennen wir diese Realitäten. Diese Welt lebt, als sei Gott ohne Bedeutung. Ein Machtvakuum entsteht, in dem sich neue Mächte breit machen, immer wieder.
Wir wissen, welche Mächte diese Welt regieren. Geld und Machtgier können Menschen so sehr in Besitz nehmen, ja besessen machen, dass sie nur mit Gegengewalt von Verbrechen abzuhalten sind. In manchen Gegenden der Welt ist jegliche friedenstiftende Ordnung zusammengebrochen. Terror und Gangstertum machen sich breit, bedrohen die ganze Welt und selbst Kinder zwingt man, Soldaten zu werden.

Der Satz: „Gnade vor Recht“ ist dieser Welt zu weich und gleichzeitig geht Gerechtigkeit vor die Hunde.
Ellenbogen scheinen wirksamer zu sein, als zärtliche Hände.
Hackentritte und kleine Tiefschläge, biestige Nickeligkeiten verderben den Weg zu erfülltem Leben.
Und dazu kommen die vielen nichtigen Spiele, mit denen sich Menschen betäuben lassen, um nicht in Depressionen zu verfallen.


„Mit Furcht und Zittern“ nur können wir unser aktives Leben gestalten.

Furcht, vor allem in Verbindung zu Gott, ist sehr schwer zu verstehen als Haltung erfüllten Lebens. Es ist, als wäre zu viel Angst und zu viel fehlendes Zutrauen damit verbunden.
Aber Gott fürchten und ihn lieben, ihm vertrauen, das sind keine Gegensätze.
So wie das Kreuz keine leicht getrübte Lebensepisode des Christus ist, sondern tiefste Verzweiflung und Gottverlassenheit, so ist auch die Nachfolge dieses Weges gekennzeichnet vom aktiven Lebenskampf – mit Furcht und Zittern.
Jesu Gehorsam lässt nicht dem Starken das Feld, geht nicht vor den Mächtigen in die Knie, sondern kniet nieder neben denen, die am Boden liegen.
Das ist ein Zeugendienst, der nicht leicht ist, aber dennoch befreiend. Er hat die große Verheißung: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Darauf lasst uns hören.

„Schaffet, dass ihr selig werdet.“ Seligkeit selbst ist nicht Ergebnis unserer Taten, sondern bleibt Gottes Geschenk, aber der Weg, auf den er uns stellt, der Weg zu dieser Seligkeit, der ist einer der aktiven Aufmerksamkeit.
Ohne Christus, den Gekreuzigten, der uns so nahe kommt, würde ich an Gott nicht glauben können.
Und so führt dieser Weg in das Heil, wenn auch mit Furcht und Zittern und in großer Skepsis gegenüber allen, die die Welt verbessern. „Das letzte lohnende Abenteuer“ hat Peter Beier diesen Weg genannt.

IV.
„Wollen und Vollbringen“ stehen in Gott.
Das ist unser Trost.
Der Kampf der Reformation als Kampf um die Einheit der Kirche hat viele unselige Folgen gehabt. Das Ringen um die Wahrheit hat zu religiösen Kämpfen geführt, die viel Blut gekostet haben.

Die Fronten des 16. Jahrhunderts und die Art ihrer Kämpfe in den Jahrhunderten danach sind unsere nicht mehr.

  • Längst versteht die katholische Kirche Gerechtigkeit Gottes nicht anders als wir.
  • Längst halten wir nicht mehr die gegenseitigen Verdammungsurteile aufrecht. Die Konzentration auf Wort und Sakrament hat bis tief in die Gesellschaft hinein gewirkt.

Dankbar erinnern wir uns also an das, was war, an die Bedeutung der Reformation für die europäische Gesellschaft und die von ihr geprägten Kulturregionen.
Die Bedeutung Luthers für die Entwicklung der Sprache in Deutschland ist bekannt. Katechismen, Bibelübersetzungen sind auch in anderen Ländern in ähnlicher Weise prägend gewesen. Die protestantischen Impulse haben die Kultur, insbesondere Musik und Malerei stilbildend beeinflusst.
Ich denke an Albrecht Dürer. Ich denke an Johann Sebastian Bach und an viele andere Namen. Heute, an diesem Tag, denken wir auch an Lukas Cranach, den Älteren.
Auch in politischer Hinsicht ist die Reformation nicht ohne Einwirkung auf die europäische Kultur geblieben. Vom reformierten Genf gab es Einfluss auf ganz Europa und über Auswanderer in die neue Welt, nach Amerika. Gewissensfreiheit, Toleranz und Demokratie, Freiheit und Menschenrechte - das sind Begriffe, die für eine stark von protestantischer Herkunft geprägten Kultur stehen. Die Kraft des Protestantismus ist weit über das Kirchliche hinaus gegangen. Viele wissen das gar nicht mehr, weil das Feuer der Reformation heruntergebrannt ist.
Noch einmal: Die alten Fronten sind es nicht mehr, die uns trennen. Wir haben heute eine gemeinsame Front gegen diejenigen, die gar nichts glauben oder nur an sich selber.

  • Wir stehen als Christen gemeinsam in unserer Zeit gegen das Gift der oberflächlichen Gleichgültigkeit.

  • Die konfessionellen Grenzen verlaufen zwischen denen, die Gott als Garnitur für Sonn- und Feiertage nutzen, ihn sonst aber für überflüssig erklären, und denen, die Nachfolge wagen mit Furcht und Zittern.

  • Zwischen denen, die ohne Skrupel seelische Erbauung vereinen mit brutaler Alltagsgewalt, und denen, die wissen, Gottes Gnade will sich auswirken in den Strukturen unserer Welt.

  • Zwischen denen, die fundamentalistische und fanatische Dogmen aufrichten, die sie den Menschen mit Gewalt zu befolgen auferlegen, und denen, die fragen und suchen.

V.
Wir brauchen über die Konfessionsgrenzen hinaus eine Gemeinsamkeit, wenn wir im Raum des Vorläufigen über die Frage von Recht und Gerechtigkeit streiten.

  • Das heißt zum einen: In Jesu Namen an der Seite der Schwachen und Verstummten stehen,
    das heißt zweitens: Zum Schutz der Schwachen um die Solidarität der Starken werben,
    das heißt drittens: Gemeinsam frei werden zu einer gemeinsamen Zukunft; mit eingestandenen Verirrungen und Verstrickungen auf Vergebungsbereitschaft treffen.

Mit Furcht und Zittern den Weg gehen:

  • das heißt: Wir dürfen aus lauter Gerechtigkeitsverlangen nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen.

  • Wir dürfen aus erlittenem Unrecht nicht fortdauernden Hass in uns wachsen lassen.

Wer Erfahrungen mit dem totalitären Staat gemacht hat, weiß, dass er seine Spuren überall und bei vielen hinterlassen hat. Aber nachdem er überwunden ist, sollten wir es ihm nicht gestatten, unsere Beziehungen noch einmal zu zersetzen, in dem wir unversöhnlich auf alle zeigen, die sich mit der Staatssicherheit eingelassen haben. Vor allem wenn die Dinge nach bestem Wissen und Gewissen aufgeklärt werden konnten.

Die evangelische Kirche hat nach umfangreicher Recherche festgestellt, dass Manfred Stolpe stets ein Mann der Kirche war, der im Interesse von Bedrängten gehandelt hat, - auch wenn er in manchem sein Verhandlungsmandat aus eigenem Ermessen erweitert hat.
Ihn nun nochmals der Stasiverstrickung zu bezichtigen, stößt auch in unserer Kirche auf Unverständnis, zumal dauernd wiederholte ehrenrührige Vorwürfe in der Öffentlichkeit als ein unerquicklicher Streit unter Christen wahrgenommen werden.
Wenn es heute um die Verteidigung von Menschen- und Bürgerrechten geht, dann ist das eine weltumspannende und weltumfassende Aufgabe. Wir brauchen eine Globalisierung vor allem in Fragen der Humanität, der Menschenrechte und der sozialen Verantwortlichkeit. Dazu brauchen wir Bürgerrechtler nicht nur als „ehemalige“, sondern wir brauchen sie als Menschen, die heute für Recht und Gerechtigkeit kämpfen. Wir brauchen Menschen, die die Verletzung von Bürgerrechten in unserem Land und in unserer Welt nicht schweigend hinnehmen.

So lassen Sie uns - mit Furcht und Zittern - auch den ökumenischen Weg gehen.
Wollen und Vollbringen stehen in Gott. Der Sohn Gottes hat uns freigemacht. Wir sind nicht Rädchen im Getriebe, kommen heraus aus dem Teufelskreis von Schuld und Resignation. Lasst uns darum dranbleiben an diesem Wort und Treue bewahren. Die Botschaft macht uns neu, befreit uns aus der Angst vor morgen und gründet unsere Hoffnung auf ewig.
Amen!