Die evangelischen Kommunitäten

1. Einleitung

Auf dem Evangelischen Kirchentag gibt es seit Jahren eine Halle mit der Überschrift: "Evangelisches Kloster". Hier wirken geistliche Gemeinschaften verschiedener Art zusammen, Schwesternschaften, Bruderschaften, Kommunitäten. Sie beten viermal am Tage miteinander und laden alle Besucher ein mitzubeten. Sie richten im Saal ihres "Klosters" alles mit besonderer Liebe und Sorgfalt so ein, daß sich alle Besucher als ihre Gäste zum Verweilen eingeladen fühlen. In den kleinen Kojen, in denen sie sich je einzeln vorstellen, geht es ihnen weniger um Werbung für sich selbst als vielmehr darum, ein gemeinsames Leben in verbindlicher Ordnung als einen möglichen Weg von Christen heute vorzustellen und jungen Menschen nahezubringen: als deutlich "alternative" Form eines gemeinschaftlichen Lebens im christlichen Glauben inmitten unserer diffuser werdenden Welt und insofern tatsächlich als "Klöster"; aber darin zugleich als lebendige Beispiele dafür, daß Christsein in fröhlicher Deutlichkeit nicht in einer Abkehr von der "Welt" geschehen muß, sondern sehr wohl als eine Weise kritischer Teilnahme. Beeindrucken können die so lebendigen Gesichter alter Frauen und Männer, die ihr Leben lang im Kloster gelebt haben. Eindrücklich ist auch das zuversichtliche Selbstbewußtsein junger Menschen, die ihren Weg ins Kloster gefunden haben und sich dort wohlfühlen. Beeindrucken kann es, wie diese Nonnen und Mönche mit beiden Beinen in der Lebenswirklichkeit von heute ihren festen Stand haben, und wie sie als Priorinnen und Prioren Leistungswillen und Leistungskraft ausstrahlen, ohne autoritär zu sein.

Jedoch: Evangelische Klöster, kann es das denn überhaupt geben? Hat doch die Reformation die Klöster radikal kritisiert und in ihrem eigenen Bereich ganz abgeschafft! Über 400 Jahre hindurch hat es evangelische Klöster nicht gegeben, während sich im selben Zeitraum das katholische Ordenswesen ständig vervielfältigt und über die ganze Welt ausgebreitet hat. Im Bewußtsein katholischer Christen haben "Ordensleute" völlig selbstverständlich ihren festen Platz und große Bedeutung. Für evangelische Christen dagegen galt es bis vor kurzem geradezu als feste Regel: Klöster gehören zur katholischen Welt - im Protestantismus gibt es keine Klöster und kann es keine Ordensgemeinschaften geben.

Doch in unserem Jahrhundert, in dessen Verlauf sich zwischen Protestantismus und Katholizismus so vieles verändert hat, gilt auch diese Regel nicht mehr. Seit 50 Jahren gibt es evangelische Ordensgemeinschaften und evangelische Klöster; und ihre Zahl ist ständig im Wachsen. Ihr Name lautet: "Kommunitäten", das heißt: Gemeinschaften. Denn das ist ihnen allen gemeinsam: Sie wollen Orte sein, "wo in unserer Zeit des Individualismus und der Anonymität brüderlich-schwesterliche Gemeinschaft eingeübt wird (Gal 6,2)"1 . Zugleich aber eben auch Orte, an denen im Schutz der verbindlichen Ordnungen des gemeinschaftlichen Lebens die ganz persönliche Eigenart jedes Mitgliedes zu je ihrer besonderen Entfaltung kommen kann.

Viele Evangelische kennen heute mindestens die Bruderschaft von Taizé. Sie ist seit Jahrzehnten ein regelmäßiger "Wallfahrtsort" und Treffpunkt vor allem junger Menschen aus allen Ländern der Welt. Ein Ort, an dem auch Großstadt-Jugend von einem Leben im gesungenen Gebet, in Bibelaustausch und Stille fasziniert wird und hier wie von selbst alle Hemmungen verliert, selbst daran teilzunehmen. Aber daß es inzwischen allein in Deutschland mehr als 30 evangelische Kommunitäten und darüber hinaus eine beachtliche Zahl von Bruder- und Schwesternschaften, Familienkommunitäten, Basisgemeinden und anderen Gemeinschaften gibt, ist den meisten immer noch unbekannt. Und doch muß man sagen: "Die Wiederentdeckung und Erneuerung kommunitären Lebens gehört mehr und mehr zum Erscheinungsbild (auch) der evangelischen Christenheit in Deutschland, in Europa und darüber hinaus in manchen Kirchen der Weltchristenheit".2

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