Die evangelischen Kommunitäten

2. Kurze Information

2.1 

Das Wort "Kommunität" bezeichnet in einem engeren Sinn geistliche Gemeinschaften, in denen Christen nach verbindlichen Ordnungen zusammenleben, die sich freiwillig zur Annahme der sog. "evangelischen Räte" verpflichtet haben: Armut als persönliche Besitzlosigkeit in Gütergemeinschaft (Mk 10,21; Apg 4,32); Keuschheit in Ehelosigkeit (Mt 19,10-12; 1Kor 7,7); Gehorsam als Anerkennung geistlicher Autorität (Mt 23,8; 1Thess 5,12f; Hebr 13,17). Es handelt sich um eine besondere Lebensform, in der sich diese Christen mit ihrem ganzen persönlichen Leben Gott ganz hingeben wollen, um Jesus Christus als ihrem Herrn in allen Lebensbereichen und jederzeit verfügbar zu sein, sowohl im Dienst für ihn wie darin zugleich im Dienst aneinander und füreinander (Joh 13,34f; 1Joh 4,11.19-21). Dazu kann man sich nicht selbst entschließen, sondern es ist eine persönliche Berufung durch Gott, die ein Mensch hört, wie die Jünger Jesu Ruf in seine Nachfolge gehört haben, und der er folgt wie sie (Mk 1,16-20); in der er sich eine längere Zeit hindurch in Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben der Schwestern bzw. der Brüder einlebt, und die er darin in ständigem Hören auf Gott überprüft, und zu der er dann in einem feierlichen Versprechen ("Profeß") vor Gott und vor seinen Mitgeschwistern sein Ja sagt, zunächst für eine befristete Zeit, und schließlich lebenslang. In der Anerkennung und vollen Annahme einer solchen Berufung wurzelt die besondere Gemeinschaft der Mitglieder einer Kommunität: Gottes persönlicher Ruf an jede und jeden von ihnen hat sie einander gegeben und anvertraut. Zum Zeichen dessen tragen viele Schwestern einen Ring, der sie ständig sowohl an das besondere Dienst- und Liebesverhältnis zu Christus wie damit zugleich an das Dienst- und Liebesverhältnis zueinander als "Familie Gottes" erinnert.

2.2

Kommunitäten in diesem Sinn leben zumeist als Schwesternschaften oder Bruderschaften für sich. Es gibt aber auch Kommunitäten, in denen zölibatäre Schwestern und Brüder in einer Gemeinschaft zusammenleben (wie z. B. in der Kommunität Imshausen). Eine wieder andere Art von Kommunitäten sind diejenigen, in denen Ehepaare mit und ohne Kinder in gleicher Verbindlichkeit in einer geistlichen Großfamilie zusammenleben (wie die Communität Koinonia in Hermannsburg, die Familienkommunität Siloah in Neufrankenroda und die Familien in Gnadenthal sowie in der Basisgemeinde Wulfshagenerhütten). Auch sie führt und hält eine besondere Berufung zusammen. Auch sie suchen ihrer Lebensform entsprechende Ordnungen, in denen sie eine volle Verfügbarkeit zum Dienst für Gott und füreinander leben können. Die verschiedene Lebensform zölibatärer und nichtzölibatärer Gemeinschaften bedeutet keinerlei geistlichen "Rangunterschied" zwischen ihnen. Sie erkennen einander als in der grundsätzlichen Zielrichtung verwandten Zweig von Kommunitäten an. Die Kommunität Gnadenthal ist dafür ein Vorbild: Dort leben eine zölibatäre Bruderschaft, eine zölibatäre Schwesternschaft und eine große Gruppe jüngerer und älterer Familien in einer "christlichen Dorfgemeinschaft" zusammen. Sie beten täglich zusammen, arbeiten z. T. zusammen, feiern zusammen. Ihr Vorbild ist die "Koinonia", die der Vater des Mönchtums, Pachomius, im 3. Jahrhundert in Oberägypten gegründet hat.3

2.3

In einem weiteren Sinn schließlich gehören zu dem Kreis der in verbindlich geordneter Gemeinschaft lebenden Christen die verschiedenen Bruderschaften und Schwesternschaften hinzu, deren Mitglieder ein normales bürgerliches Familien- und Berufsleben führen, darin aber bestimmten Regeln folgen, sich gegenseitig helfen und gemeinsam der Kirche dienen möchten. Dazu zählen vor allem die Schwestern des Ordo Pacis, die Brüder der Evangelischen Michaelsbruderschaft sowie die Schwestern und Brüder der Ansverus-Kommunität und der "Vereinigung vom gemeinsamen Leben".

2.4

Vorläufer der Kommunitäten sind in einem weiteren Sinn die Dienstgemeinschaften der Diakonissen in ihren Mutterhäusern, die im 19. Jahrhundert etwas ganz Neues im Lebensbereich der evangelischen Kirchen waren und zum Erscheinungsbild des evangelischen Christentums wesentlich beigetragen haben. Einige Kommunitäten sind direkt aus Diakonissenhäusern heraus entstanden wie die Schwesternschaft in Scherfede (Westfalen), die sich "Diakonissen-Kommunität Zionsberg" nennt. Gleichen Ursprung haben die Schwesternschaften des Julius-Schniewindhauses in Schönebeck/Elbe, des Missionshauses "Malche" in Bad Freienwalde (Brandenburg) und des Evangelischen Schwesternkonvents "Lumen Christi" in Gößweinstein (Mittelfranken).

Im engeren Sinn ist die bruderschaftliche Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ursprung der Kommunitäten zu sehen. Aus dem Schweizerischen Diakonieverein gingen die "Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben" hervor, die sich in Deutschland mit den verheirateten Geschwistern zur "Vereinigung vom gemeinsamen Leben im Ökumenischen Christusdienst" zusammengeschlossen haben. Sie leben heute an verschiedenen Orten und haben ihren Mittelpunkt im "Ökumenischen Lebenszentrum Ottmaring" (bei Augsburg), zusammen mit der Fokularbewegung. Ihr gemeinsames Leben verstehen sie als ein "Übungsfeld, um für das Geheimnis der einen und ganzen Kirche dienstbar zu werden, die im dreieinigen Gott schon besteht, aber im Zusammenhang der ökumenischen Erneuerungsbewegung dieses Jahrhunderts Wirklichkeit werden will".4 Diese ökumenische Vision lebt in allen Kommunitäten. Das tägliche Einheitsgebet der Vereinigung vom gemeinsamen Leben wird heute noch in mehreren anderen Kommunitäten im gleichen Wortlaut mitgebetet. Darin heißt es: "Vereinige uns alle mit dir und miteinander in der einen, alle und alles umfassenden Liebes- und Lebensgemeinschaft deines heiligen Herzens".

2.5

Die ältesten Kommunitäten sind in der ersten Nachkriegszeit entstanden unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Schuld wie auch der vielen Leiden und Zerstörungen des Krieges. Manche von ihnen haben eine unmittelbare Vorgeschichte im Leben der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit. Die Kommunität Imshausen z.B. ist direkt aus dem politischen Widerstand hervorgegangen. Ihre Gründerin, Vera von Trott, war eine Schwester des Widerstandskämpfers Adam von Trott zu Solz. So feiern einige Kommunitäten in diesen Jahren ihr 50. Jubiläum: 1997 die Evangelische Marienschwesternschaft in Darmstadt; 1999 werden dann die Kommunität Christusbruderschaft und 2000 die Communität Casteller Ring folgen. Die jüngsten Gründungen sind die Schwesternschaft des Trinitatisrings (1977 in Leipzig, jetzt in Lützschena), das Priorat St. Wigberti (1987 in Werningshausen, Thüringen), die Familienkommunität Siloah (1991 in Neufrankenroda, Thüringen), die Diakonische Schwesternschaft Wolmirstedt (seit 1996 im Kloster Barsinghausen) und die Basisgemeinden in Wulfshagenerhütten (seit 1981) und in Hamburg (seit 1992).

Die Mitgliederzahlen sind verschieden. Es gibt einige große Gemeinschaften mit über 100 Mitgliedern wie die Marienschwesternschaft und die Kommunität Christusbruderschaft in Selbitz; eine Reihe von Gemeinschaften um 50 wie z. B. die Communität Casteller Ring, die Schwesternschaft des Julius-Schniewind-Hauses und die Christusträger-Brüder und -Schwestern; sowie zahlreiche kleinere Gemeinschaften und auch ganz kleine Zellen wie die Kommunität "Freue dich" in Gnesau (Österreich) und die Communität El Roi in Basel mit drei Schwestern.

Die Zahlen als solche besagen aber wenig im Blick auf die Bedeutung (wie immer im Reiche Gottes!). Es gibt einerseits kleine Gemeinschaften mit erstaunlich kräftiger und weiter Ausstrahlung wie z. B. die Kommunität Imshausen, die Cella Hildegardis, die Diakonissenkommunität Zionsberg oder die Familienkommunität Siloah, die mit nur drei jungen Familien und wenigen weiteren Helfern vom Frühsommer bis zum Spätherbst Hunderte von arbeits- und heimatlos gewordenen Jugendlichen aus vielen Ländern Osteuropas auffängt und in Sommer-"Camps" seelsorgerlich-missionarisch betreut. Andererseits unterhalten die zahlenmäßig großen Gemeinschaften ihrerseits kleine auswärtige Zellen wie etwa die CCR ihre Stadt-Stationen in Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Hildesheim und neuerdings Erfurt; oder die Kommunität Christusbruderschaft im Kloster Wülfinghausen, in Magdeburg sowie in Bayreuth und Egensbach, Kulmbach und München. Missionsstationen in vielerlei Ländern der Dritten Welt haben z. B. die Christusträgerbrüder, von denen eine Gruppe in Kabul/Afghanistan aushält!, und die Christusträgerschwestern, die in Rawalpindi/Pakistan ein Leprahospital für Kranke aus der gesamten Umgebung und in Kudus im Landesinneren Jawas eine klinische Ambulanz sowie in Argentinien zwei Heime für Kinder aus sozial zerstörten Verhältnissen unterhalten. Die Evangelische Marienschwesternschaft hat seit 1980 24 Außenstationen ("Wiegen") in vielen Ländern der Welt gegründet. Andere Kommunitäten leben mit einer großen Zahl junger Menschen zusammen, um ihnen zur Selbstfindung im Glauben zu helfen: in Schulen oder Lebenszentren wie etwa die Schwestern des Missionshauses Malche, die Communität Adelshofen, die "Christen in der Offensive (OJC)" oder die Kommunität Koinonia in Göttingen. Die Kommunität Gnadenthal hat 1990 in Hennersdorf/Sachsen einen großen Handwerksbetrieb und eine Familienwohn- und Begegnungs- und Tagesstätte gegründet und baut gleichzeitig in Volkenroda/Thüringen das älteste deutsche Zisterzienserkloster, von dem nur noch bauliche Reste bestanden, wieder auf, in dem eine europäische Jugendbildungsstätte entstehen soll.

2.6

Ein sprunghaftes Wachstum, wie es die ältesten Kommunitäten zu ihrer Entstehungszeit nach dem 2. Weltkrieg erleben durften, ist zwar gegenwärtig nirgendwo zu verzeichnen. Nicht wenige Gemeinschaften aber erleben mit Dankbarkeit und Freude ein echtes Interesse junger Menschen, die für eine befristete Zeit mit ihnen leben ("Kloster auf Zeit"), und von denen dann immer wieder einige sich ihnen anschließen. So gibt es Kommunitäten, die Nachwuchssorgen nicht kennen, - freilich auch solche, deren Zahl seit Jahren nicht gewachsen ist. Aufs Ganze gesehen bekommen gegenwärtig auch Kommunitäten zu spüren, daß viele junge Menschen zwar an neuen Formen "unbürgerlichen" Zusammenslebens sehr interessiert sind, sehr wenige aber das Wagnis fester Bindung und Verbindlichkeit eingehen mögen.

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