Andacht zum Volkstrauertag in Berlin

Militärbischof Sigurd Rink

Zum Volkstrauertag erinnert der Evangelische Militärbischof Sigurd Rink in einem Rundfunkbeitrag im Deutschlandradio Kultur an den Dichter Wolfgang Borchert, dessen 70. Todestag sich am 20. November jährt. Der Dichter wurde nur 26 Jahre alt und erlebte mit 20 Jahren als Panzergrenadier der Deutschen Wehrmacht das kriegerische Grauen an der Ostfront. 

Soldatenfriedhof in Italien
Soldatenfriedhof des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Monte Cassino/Italien.
„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Vom Umgang mit nationaler und persönlicher Schuld

Volkstrauertag: Unser Volk trauert. Gedenkt unzähliger Toter und Traumatisierter der beiden Weltkriege im vergangenen Jahrhundert. Schwerer noch wiegt, dass wir Deutsche uns eigenen politischen Versagens erinnern, verhängnisvoller Entscheidungen, ausgebliebener Courage, die den ganzen Kontinent über alle Abgründe des Menschenmöglichen und des Vorstellbaren hinaustrieben.

Unser Volk hat Grund zu Trauer und auch zu Scham. Aufrechnen mit Fehlern anderer Völker ist etwas für Krämerseelen, erniedrigte nur einmal mehr.

Wohl kaum einer hat das Grundgefühl einer ganzen Generation in so starke, lyrische Worte gefasst, wie der Hamburger Wolfgang Borchert, dessen 70. Todestag wir am 20. November begehen. Nur 26 Jahre wurde er alt, aber er hat sich schon in diesen jungen Jahren der Realität und dem Grauen des Krieges gestellt wie kaum ein anderer.

Im Mai 1941, also gerade einmal 20 Jahre alt, wird er als Panzergrenadier an die Ostfront einberufen.

Von dort schreibt er einen „Brief aus Russland“:

„Man wird tierisch.
Das macht die eisenhaltige
Luft. Aber das faltige
Herz fühlt sich manchmal noch lyrisch.
Ein Stahlhelm im Morgensonnenschimmer.
Ein Buchfink singt und der Helm rostet.
Was wohl zu Hause ein Zimmer
Mit Bett und warm Wasser kostet?
Wenn man nicht so müde wär!
Aber die Beine sind schwer.
Hast du noch ein Stück Brot?
Morgen nehmen wir den Wald.
Aber das Leben hier ist so tot.
Selbst die Sterne sind fremd und kalt.
Und die Häuser sind
so zufällig gebaut.
Nur manchmal siehst du ein Kind,
das hat wunderbare Haut.“

Nach gut einem Jahr an der Front steht Wolfgang Borchert zum ersten Mal vor Gericht.

Er hatte die Sinnhaftigkeit des Krieges in Frage gestellt und das passte den Herren nicht ins Konzept.

So wird aus dem 21-jährigen jungen Mann ein Widerstandsgeist und ein Kriegsgegner.

Schwer verwundet an Leib und Seele kehrt Wolfgang Borchert mit Kriegsende nach Hause zurück.

Doch es werden ihm nur noch zwei Jahre zum Leben und zum Dichten bleiben. Die Wundmale des Krieges waren nicht mehr zu heilen. Heinrich Böll, ein anderer Großer der Nachkriegsliteratur schrieb über ihn: „Borcherts Schrei galt den Toten, sein Zorn den Überlebenden, die sich mit der Patina geschichtlicher Wohlgefälligkeit umkleideten.“

Wolfgang Borcherts Lyrik, seine Theaterstücke, seine Prosa waren seine Form, das unaussprechliche Grauen des Krieges zu artikulieren.

Während anderenorts schon im Sommer 1945 der Ruf laut wurde, es müsse doch jetzt ein Ende haben mit der Erinnerung an die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur und die Grauen des Krieges schaute er genau hin, fand seine subjektive, persönliche Wahrheit und scheute sich auch nicht, das zu beschreiben, was weh tut.

Natürlich war das Verlangen nach Bindung und Tiefe, nach Glück und Beheimatung unendlich groß in diesen Tagen, Wochen, Monaten nach Kriegsende. Die Kirchen waren voll. „Not lehrt beten.“

„Wir sind noch einmal davon gekommen!“, riefen sich die Überlebenden zu und zugleich: „Nie wieder Krieg!“

Es gab ein unendlich großes Verlangen nach Trost.  Nicht aus eigener Leistung heraus oder aus dem, was Deutsche denn doch an Gutem vollbracht haben in der Geschichte. Menschen wollten Trost erfahren, der trägt; wollten frei werden von den Zwängen eigener Gerechtigkeit. Hören wollten sie. Gesagt bekommen.

Der kurze, prägnante Satz des Johannesevangeliums: „Die Wahrheit wird Euch frei machen“ kann ein Leitwort über dem Volkstrauertag 2017 sein.

Auch in diesem Jahr hat Deutschland sich mit der 1945 längst nicht abgeschlossenen Vergangenheit herumgequält Besonders traf es die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Was Tradition sein kann und darf, wurde zuweilen hektisch diskutiert. Womöglich hat sich einmal mehr gerächt, dass viel zu schnell und leichtfertig Schlussstriche herbeigewünscht wurden, dass nötiges Hinsehen lange Zeit unterblieb. Was verdrängt wurde, kehrt umso heftiger zurück. Ein Grund mehr, heute getröstet und getrost zu bleiben.

Mir sagen die Worte Jesu: Sei gelassen und getrost! Fürchte Gott- und lerne daran, Furcht und Kleinmut in der Weit zu überwinden. Lass dich von den Forderungen der Weit nicht auffressen. Nicht umfassende Korrektheit rettet, nicht mein richtiges Handeln, sondern Gottvertrauen allein. Und in der Weit handelst du eben "weltlich" - nur lass' dich davon nicht auffressen, bewahre die innere Distanz.

Was immer an Schuldscheinen gegen dich zeugen mag: Das letzte Zeugnis gibt ein Anderer.

Was Jesus seinen Jüngern mitgibt, das hat Jahrhunderte zuvor der Prediger Salomo knapp zusammengefasst in der klugen Weisung:

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

Selbst gerecht sein zu wollen, das ist einerseits das Natürlichste überhaupt, eine Frage der Ehre sozusagen. Wer gilt schon gern als unzuverlässig, als Gesetzloser und Verbrecher, als einer, der Schuldscheine fälscht? Gesetz und Moral sind zu fürchten. Ohne Gesetz und Moral können Menschen auch nicht zusammenleben.

Und doch! Und doch weist Gottesfurcht über die Gesetzesfurcht hinaus.

Kern der reformatorischen Entdeckung, die wir in diesem Jahr gefeiert haben, ist ja die Unterscheidung zwischen meiner eigenen, kleinlichen Gerechtigkeit und der unendlich austeilenden, schöpferischen Gerechtigkeit Gottes. Gott wird mich am Ende, im Gericht, nicht messen, wiegen, prüfen. Wohl wird er mir vor Augen führen, wo ich Menschen verletzt und enttäuscht habe, das wird nicht harmlos sein. Da werden meine Schuldscheine gezählt. Überwältigen wird Gott mich aber nicht als der strafende Richter, sondern mit seiner Liebe.

Wenn es drauf ankommt, zählt Gottes Wille, dass er mein Gott sein will, dass er Beziehung sucht und hält, dass er mich nicht umkommen lässt, wie verdient das auch immer sein mag.

„Gericht“ kommt ursprünglich nicht von „Hinrichten“, sondern von „Richten“ im Sinne vom Gerade-Machen. Gott macht es am Ende gerade und gut.

Dass Gott richtet und nicht hinrichtet, ist der Trost des Volkstrauertags. Wenn wir bei Trost bleiben wollen, dann suchen wir nicht Rechtfertigung in Aufrechnen und Rechthaberei. Dann lassen wir uns den Trost des Evangeliums gesagt sein. Niemand könnte sich selbst Besseres tun, als Gott ihm schon längst Gutes getan hat.

Gott liebt, auch die Schuldigen. Dass seine Liebe nicht aufrechnet, das macht sie besonders. Mit dem Braven gut sein, das kann jeder kleinliche Despot. Gott liebt­ und macht damit liebenswert.

Sich das gesagt sein zu lassen, das macht nicht träge. Das motiviert, in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich mit Gottes Gerechtigkeit beschenkt bin, dann werde ich Gerechtigkeit weiterschenken. Dann werde ich in meinem kleinen Bereich versuchen, so gütig zu sein, so lebensspendend, wie Gott es im Großen ist.

Ich denke an den Feldwebel der Wehrmacht Anton Schmid. Er rettete 300 Juden aus dem Getto von Wilna. Ohne Befehl, seinem Gewissen treu. Er trug wesentlich bei zum Entstehen einer jüdischen Widerstandsbewegung in Litauen und Weißrussland. Er, der Feldwebel der Wehrmacht. Dafür verurteilte ihn ein Militärgericht zum Tode. Heute haben wir gelernt, nehmen ihn zum Beispiel. Die Bundeswehr-Kaserne in Blankenburg im Harz trägt seinen Namen. Auf diesen Kameraden können deutsche Soldaten stolz sein. Er folgte seinem Gewissen, wo selbst hohe Offiziere sehenden Auges ins Verderben mitliefen.

Eine Nation, die Gottes Güte kennt, akzeptiert die Grautöne der eigenen Geschichte. Keine Schuld katapultiert aus der Geschichte heraus. Und kein Heraushalten erspart, künftig mitschuldig zu werden.

Dass alles an Gottes Güte hängt, gibt uns das menschliche Maß. Und es gibt es uns den Auftrag, uns nicht aus der Geschichte davon zu stehlen.

Du bist nie zu schlecht, um mit gerade Deinen Begabungen in der Welt etwas beizutragen und auszurichten.

Und Du bist nie zu gut, um Dir nicht im Einsatz für eine relativ bessere Welt die Hände schmutzig zu machen. Ja, genau diese Welt, so wenig sie sich wohlfeilen Heile-Welt­ Träumen einfügt, sie lohnt den Einsatz.

Soldaten, das beeindruckt mich als Militärbischof immer wieder,  sind die Menschen, die da sind und Verantwortung übernehmen, wenn die Politik anders nicht mehr weiter weiß. Unsere Soldaten treten auf Beschluss unseres demokratischen Parlaments in vielen Ländern der Erde für Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Menschenrechte ein. Das unterläuft die sündenstolze Ohne-mich-Haltung.

Dass Soldaten im Namen unserer Nation handeln, das zeigt: Wir nehmen Teil an der Geschichte, mit aller Vorsicht, unter jeder denkbaren Rechenschaft. Aber wir halten uns nicht heraus, wo es gilt, Fehlentwicklungen zu entgegnen.