Morgenandacht zur Synodentagung 2018 in Würzburg

Verena Übler, Synodale der EKD und Pfarrerin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern

Predigt
5. Tagung der 12. Synode der EKD 11. bis 14. November 2018 in Würzburg

Es gilt das gesprochene Wort.

Guten Morgen!

Wir beginnen im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Lasst uns gleich ein erstes Lied singen!

Lied: Atme in uns, Heiliger Geist

Liebe Geschwister! "Alles beginnt mit der Sehnsucht", sagt Nelly Sachs in einem Gedicht. Sehnsucht: Was für ein Gefühl! Laut Duden ein brennendes, verzehrendes, ungestilltes, unbestimmtes Sich-Sehnen nach jemanden oder nach etwas. Heute Morgen war das vielleicht das Sehnen nach dem eigenen Bett und der eigenen Matratze daheim. – Scherz.

Ich bin überzeugt, wir alle kennen sie: Sehnsucht.

Kathi, 23 Jahre, sagt: "Sehnsucht ist für mich ein Verlangen, ein Mangel, ein Bedürfnis." Sehnsucht ergreift uns, bringt uns in Bewegung, ist ein Motor. Manchmal lähmt sie vielleicht auch. Wenn das, was ersehnt wird, unerreichbar scheint, dann kann sie auch blockieren. Sehnsucht gehört zum Menschsein, schon immer.

Die vielleicht allererste Sehnsucht vonseiten der Menschen findet sich im 1. Buch Mose:

Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.

So fing es an. Und dann geht es weiter: Sara sehnt sich nach einem Kind. Mose will Freiheit für sein Volk. Ruth und Naomi wollen überleben. Elia hat Todessehnsucht. Maria sehnt sich danach, dass aus unten oben wird. Die Frau mit dem krummen Rücken will den Himmel sehen. Zachäus sehnt sich nach Zugehörigkeit. Judas hofft, dass alles anders wird. Die Frau aus Samaria verzehrt sich nach lebendigem Wasser. Sehnsucht – überall, seit Tausenden von Jahren.

Und die Sehnsüchte oder – ich sage auch einmal – die Lebensthemen sind dieselben geblieben: Ein Paar sehnt sich nach einem Kind, aber es klappt einfach nicht. Der Hunger veranlasst Menschen zur Flucht. Lisa sieht keinen Ausweg; sie will sterben. Die Opposition in Venezuela kämpft für eine Veränderung der Verhältnisse. Herr Müller betet dafür, gesund zu werden. Tom möchte einmal, nur einmal dazugehören. Paul setzt auf Gewalt, damit die Dinge sich ändern. Julia sehnt sich danach, an Gott zu glauben.

Sehnsucht. Wir streben, wir strampeln, wir kämpfen, wir hoffen.

Auf den ersten Blick scheinen sich die Beispiele zu unterscheiden. Aber es gibt eine Klammer, eine Überschrift. Für mich läuft alles auf eines hinaus, eine Sehnsucht, die allem zugrunde liegt: die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens. Und genau die ist uns versprochen. Jesus sagt: Ich bin gekommen, dass sie Leben haben, Leben in Fülle.

Die Menschen der Bibel, diejenigen, die Jesus begegnen, ahnen etwas davon. "Wenn ich nur den Zipfel seines Gewandes berühren kann, so werde ich gesund", sagt die Frau, die schon jahrzehntelang an Blutungen leidet. Nur einen Zipfel seines Gewandes, und ein Stück von der Fülle wird Wirklichkeit. Für mich besteht darin unsere Aufgabe: Als Christen und Christinnen an unserem je eigenen Ort – hier in der Synode, daheim in der Gemeinde, in unserem Alltag, ganz egal, wo – Menschen das zu vermitteln.

Auch dir steht die Fülle des Lebens zu. Die Fülle des Lebens ist nicht nur einer ausgewählten Schar versprochen, den moralisch Hochstehenden, den Leistungsstarken, denen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen; denen schon auch. Sie können dankbar sein dafür. Die Fülle des Lebens steht aber auch allen anderen zu: denen, die scheinbar vom Pech verfolgt sind, denen, denen das Leben immer noch eine Schippe drauflegt, denen, die sich ritzen, weil das, was sie erlebt haben, ein Ventil braucht, denen, die an Einsamkeit zu ersticken drohen, denen, die Missbrauch erlebt haben. Wir werden genau davon heute noch hören und darüber reden.

Dieser Satz: "Ich bin gekommen, dass Sie Leben haben, Leben in Fülle" kann Kraft entwickeln, um zu überleben. Ein Satz allein macht es natürlich nicht.

Liebe Geschwister, nicht dass Sie denken, mit dieser Fülle, die ich vor Augen führe, bin ich jetzt auf dem Prosperity-Gospel-Trip. Nein, nein! Sie müssen mir nicht Ihren Zehnten geben, weil ich auf die Villa mit zehn Oldtimern spechte. Und ich verspreche Ihnen im Gegenzug auch nicht, dass dann alle Ihre Probleme gelöst wären. Kein Automatismus.

Nein, Leben in Fülle, das meint etwas anderes. Das verspreche ja auch nicht ich. Die Kraft, die dieser Satz ausstrahlt, kommt daher, dass Jesus selbst ihn sagt. Nur so kann er zur Grundlage, zum Fundament, zum Ausgangspunkt für Veränderungen werden, sich aufzumachen und alles in Anspruch zu nehmen, was eben Veränderung bringen kann, zum Beispiel sich an Menschen zu wenden, die helfen können.

Wir haben uns gestern und vorgestern ganz intensiv dem Schwerpunktthema gewidmet. Ich möchte uns darin bestärken und Mut machen, dass wir die Kraft dieses Satzes nutzen – für uns selbst, für junge Menschen, für alle Menschen. Für Ella, 28 Jahre, zum Beispiel, die sagt:

"Ich sehne mich nach Wertschätzung und Anerkennung, nach Geliebt-Werden und Lieben, nach Geborgenheit und Sicherheit, nach Gemeinschaft, nach interessanten und ehrlichen Begegnungen und Gesprächen, nach Herausforderungen, die das Leben spannend machen."

Ja, all das gehört zur Fülle des Lebens. Ja, Ella, sie steht dir zu. Es steht dir zu, zu wissen, dieser Satz gilt auch mir, macht innerlich frei und gibt Kraft, Kraft aufzustehen, Kraft standzuhalten, Kraft für die Stürme des Lebens. Und, auch das ist mir wichtig, er gibt Kraft, sich zu engagieren und aktiv zu werden, und zwar nicht ausschließlich, was die persönlichen Lebensthemen angeht, sondern auch im Blick auf andere, im Engagement für andere.

Vor 170 Jahren haben Frauen begonnen, ihre Sehnsucht nach Beteiligung umzusetzen. 70 Jahre hat es gedauert. Gestern vor 100 Jahren war es soweit: Frauen bekamen das aktive und passive Wahlrecht. – Fülle des Lebens.

Bei meiner kleinen Miniumfrage unter jungen Menschen habe ich auch die Frage gestellt: Kann die Kirche etwas im Hinblick auf deine Sehnsucht tun? – Ich zitiere noch einmal Ella:

"Vielleicht kann die Kirche mir helfen, Wege zu finden, meinen Sehnsüchten auf den Grund zu gehen und ihnen zu begegnen. Vielleicht kann die Kirche mich unterstützen, den Hoffnungsfunken meiner Sehnsüchte zu entfachen, damit Großes daraus werden kann."

Wenn das gelänge, wäre das wunderbar; denn Sehnsucht soll ja nicht ins Leere laufen, auch wenn der Duden behauptet, ihr Charakter sei, dass sie eben ungestillt ist. Vielleicht empfindet man das manchmal so. Aber für Julian, 23 Jahre, ist sie die Negativform von Vorfreude. Er sagt: "Ich bin ein großer Genießer von Vorfreude und empfinde selten Sehnsucht." – Bei Elly, 21 Jahre, wandelt sich Sehnsucht in Vorfreude. Sie sagt:

"Sehnsucht habe ich oft nach schönen Erlebnissen, bei denen man aus seinem Alltag ausbricht. Wie etwa unserem Zeltlager, einer tollen Freizeit – wir nennen es auch gerne die Post-Freizeit-Depression – oder einem Festival. Und obwohl man die Personen, die diese Zeit so unvergesslich gemacht haben, auch danach noch ständig sieht, ist es die besondere Stimmung, die zu Hause einfach nicht aufkommen mag und die man vermisst. Doch zum Glück wird diese Sehnsucht bald abgelöst von der Vorfreude auf das nächste Erlebnis."

Also bei Vorfreude weiß ich, ahne ich, dass sie sich wahrscheinlich erfüllen wird. Das, was bevorsteht, wird eintreffen. Bei Sehnsucht ist das an sich vielleicht nicht garantiert.

Aber, liebe Geschwister, das Überzeugende an dem Versprechen, das Jesus macht, ist doch, dass er uns entgegenkommt. Es ist nicht einseitig nur eine Bewegung von uns hin zu Gott.

Die Theologin Carter Heyward hat das schon vor langer Zeit so ausgedrückt: "God is power in relation. Gott ist Macht in Beziehung." – Und eine Beziehung hat Bewegung von beiden Seiten. Gott hat auch Sehnsucht nach uns. Und darum läuft unsere Sehnsucht nicht ins Leere.

Jesus sagt am Brunnen zu der Frau aus Samaria:

"Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt."

"Alles beginnt mit der Sehnsucht" – so Nelly Sachs. Das Gedicht endet:

"Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
dich gefunden zu haben."

Amen.

Wir singen – wie kann es anders sein? –: "Da wohnt ein Sehnen tief in uns."

Lied: "Da wohnt ein Sehnen tief in uns"

 

 

 

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