Morgenandacht zur Synodentagung 2018 in Würzburg

Dr. Jan Lemke hält die Morgenandacht

Predigt
5. Tagung der 12. Synode der EKD 11. bis 14. November 2018 in Würzburg

(unredigierte Fassung)

Es gilt das gesprochene Wort.

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder!

Zur Morgenandacht heute, am letzten Tag der Synode, begrüße ich Sie alle ganz herzlich. Guten Morgen!

Auch wenn es hier drinnen kein natürliches Tageslicht gibt – außer vielleicht dem Leuchten in Ihren Augen –, wollen wir die Sonne zumindest musikalisch hereinlassen. Deswegen würde ich gerne mit einem Stück aus diesem externen, analogen Gesangbuch starten: die „Sonne der Gerechtigkeit“.

(EG 262, 1.2.4.6)

Die Gerechtigkeit ist ein vielfältig Ding. Sie kommt mit der Sonne, wie wir gerade gehört haben. Aber ganz anders kommt es mit der heutigen Tageslosung daher, die im 45. Kapitel bei Jesaja steht. Da soll sie nämlich wie Regen aus den Wolken fallen. Dort heißt es: Träufelt, ihr Himmel, von oben, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit! Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf! Ich, der Herr, habe es geschaffen.

Nun sieht man: Die Gerechtigkeit kann mit Sonnenschein verbunden sein, aber auch mit Regen. Ich als Jurist und praktizierender Richter – das haben Sie gestern schon mitbekommen – will mich aber nicht lange mit meteorologischen Betrachtungen aufhalten. Da spricht mich, wie Sie sich denken können – jedenfalls auf den ersten Blick –, insbesondere das Stichwort „Gerechtigkeit“ an.

Ganz natürlich ist die Verbindung zwischen der Gerechtigkeit und meiner beruflichen Tätigkeit allerdings nicht; das muss ich gleich von vornherein einräumen. Aber das könnte Ihnen auch selber auffallen. Wenn Sie sich gelegentlich und vermutlich eher zwangsweise mit Gesetzestexten auseinandergesetzt haben, dann wird Ihnen sicherlich aufgefallen sein, dass das Wort „Gerechtigkeit“ kaum jemals in einem Gesetzestext vorkommt. Sogar im Grundgesetz ist dies nur einmal der Fall, nämlich in Artikel 1 Abs. 2. Das können Sie nachher googeln; das muss ich Ihnen jetzt nicht näher erläutern. Ansonsten kommt es noch bei der Vereidigung des Bundespräsidenten vor, sodass dies überhaupt, soweit ich es weiß, die einzigen Stellen sind. An wesentlich mehr erinnere jedenfalls ich mich nicht.

Die vorgeschriebene Eidesformel hat zum Beispiel jeder Schöffe abzugeben und habe auch ich abzugeben gehabt, nämlich mit dem Versprechen, nur der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen. Darüber hinaus verwendet der weltliche Gesetzgeber den Begriff der Gerechtigkeit praktisch nicht.

Da, wo der weltliche Gesetzgeber gleichwohl meint, dass die wörtliche Anwendung eines Gesetzes zu nicht akzeptablen und mithin ungerechten Ergebnissen führt, lässt er dem Anwender üblicherweise die Hintertür der Billigkeit. Diese kommt als kleine Schwester der Gerechtigkeit daher und ist dagegen wieder überraschend häufig in Gesetzestexten aufzufinden.

Da ist die Frage für mich und vielleicht auch für viele von Ihnen: Woran liegt diese Scheu vor der Gerechtigkeit bei Juristen? Warum haben Juristen so wenig Gelegenheit, sich mit der Gerechtigkeit auseinandersetzen?

Ich könnte jetzt natürlich versuchen, eine Definition des Begriffs „Gerechtigkeit“ abzugeben. Aber das will ich gar nicht unbedingt machen. Ich denke, das ist auch nicht nötig; denn jeder von uns hat ja so ein Gefühl, ein Bauchgefühl, was gerecht ist oder was nicht gerecht ist, so wie man das dem Micha damals auf dem Kirchentag in Hamburg entnehmen konnte: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ So ähnlich ist es auch mit der Gerechtigkeit. Jeder von uns hat das Gefühl, es muss etwas ins Lot gebracht werden, und dann wird es auch gerecht sein. Unser Gewissen, wenn wir es denn einschalten, weist uns den Weg.

Mir fällt allerdings immer wieder die Häufung in der Verwendung des Begriffs „Gerechtigkeit“ im biblischen und theologischen Kontext gegenüber insbesondere dem juristischen Sprachgebrauch auf. Das ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass das Wort „gerecht“ gerade in älteren Texten nach heutigem Sprachgebrauch auch häufig als rechtschaffen, anständig oder aufrichtig auszulegen und zu deuten ist. Trotzdem bleibt noch ein so deutliches Ungleichgewicht, dass ich so formulieren möchte: Wer sich wirklich für Gerechtigkeit interessiert, sollte nicht Jura, sondern Theologie studieren.

Was wir für gerecht halten, kommt darauf an, nämlich auf Tatsachen und Umstände, die wir erkennen müssen, um Justitias Waagschalen damit zu füllen. Häufig sind es Kleinigkeiten, die Licht oder auch Schatten auf einen Sachverhalt werfen und sein Erscheinungsbild entscheidend verändern können.

Ich will einmal ein Beispiel geben: Wenn wir sehen, dass ein großer Mann einen kleinen verhaut, dann erkennen wir Unrecht; so einfach ist das. Das gibt sich aber, wenn wir erfahren, dass hier nur ein Film gedreht wird und es sich um zwei Schauspieler handelt. Dann finden wir es wieder in Ordnung. Wenn wir allerdings wissen, dass zwar Schauspieler am Werk sind, aber der große Schauspieler die Situation nur ausnutzt, um dem kleinen, der ihm wirklich verhasst ist, aus echter Boshaftigkeit ein echtes blaues Auge zu verpassen, dann ist die Gerechtigkeit bei uns wieder auf den Plan gerufen.

Die Geschichte ließe sich weiter fortsetzen. Und mit jeder Information, die wir zusätzlich bekommen, könnte das Bild von der Gerechtigkeit kippen.

Daraus folgt für mich, dass die Gerechtigkeit in ihrer Vollendung von der Bedingung abhängt, dass derjenige, dem die Bewertung dieses Sachverhalts obliegt, notwendig über alle auch nur entfernt bedeutsamen Informationen verfügen muss, die auf den Sachverhalt Einfluss nehmen oder genommen haben.

Das können sehr, sehr viele Informationen sein. Wie gesagt, die Kette ließe sich beliebig fortsetzen und alles kann mit allem zusammenhängen. Als Beispiel kennen Sie vielleicht alle, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Nordamerika auch auf das Wetter in Würzburg Einfluss haben kann. So ähnlich ist das mit der abschließenden Beurteilung von Sachverhalten, wenn sie vollständig und in gerechtem Sinne vorgenommen werden soll, auch.

Im Extremfall, der gleichzeitig auch der Idealfall der Gerechtigkeit ist, kann nur gerecht sein, wer buchstäblich alles weiß. Aber auch dann wäre die Gerechtigkeit noch weit entfernt. Wir kennen die Geschichten von dem Bankräuber, der nach Südamerika flüchtet und dann nicht ausgeliefert wird, obwohl jeder weiß, dass es ein Bankräuber ist. Das ist doch ungerecht. Oder wenn jeder weiß, dass ich eine bestimmte Geldforderung habe, dass mir Geld zusteht, sich mein Schuldner aber in die Insolvenz flüchtet und sich jeder weiteren Anstrengung zur Begleichung seiner Schuld entzieht, das ist doch auch ungerecht. Oder nicht?

Dann hilft die im Erkenntnisverfahren – so nennt man sozusagen das Verfahren bis zum Urteil – gewonnene Überzeugung von der Gerechtigkeit nicht weiter. Erst, wenn sie auch im Vollstreckungsverfahren durchgesetzt werden kann, dann wäre sie verwirklicht. Bei der Findigkeit von Straftätern und Schuldnern, das kann ich Ihnen aus meiner langen beruflichen Praxis versichern – viele von Ihnen kennen das auch –, wird sich das Ideal der Gerechtigkeit wiederum nur verwirklichen lassen, wenn der Vollstreckung praktisch unbegrenzte Möglichkeiten offenstehen.

Sie sehen schon, worauf ich hinaus will. Gerechtigkeit setzt im Erkenntnisverfahren die Allwissenheit und im Vollstreckungsverfahren die Allmacht voraus. Diese Voraussetzungen bringen Justizbedienstete regelmäßig nur eingeschränkt mit.

Da ich nicht genau weiß, welche Verbreitung diese Morgenandacht nimmt, möchte ich vorsichthalber meine Dienstvorgesetzten, die Präsidentin meines Landgerichts und den Präsidenten des Oberlandesgerichts – von hier seien sie herzlich gegrüßt –, von dieser Betrachtung ausnehmen.

Davon abgesehen scheint mir aber nicht nur nachvollziehbar, sondern auch angebracht – mit einem Wort billig: hier sind wir wieder bei der kleinen Schwester –, im Rahmen der justiziellen Arbeit die Rede von der Gerechtigkeit nicht überzustrapazieren. Allwissend und allmächtig, mithin wahrhaft gerecht, ist nur Gott. Ich denke, da sind wir uns einig. Die Gerechtigkeit ist eine göttliche Eigenschaft. Sie ist absolut und unbegrenzt. Deswegen gilt sie auch überall.

Als Ideal sollten sie allerdings auch Juristen nicht aus den Augen verlieren. Insbesondere sollten sie nicht vergessen, dass die Gerechtigkeit ein materieller Wert ist, der im Alltag durch verfahrensrechtliche Vorschriften und Förmlichkeiten, die ja unter Juristen so beliebt sein können, vielfach beschnitten, oft beschädigt und gelegentlich sogar zerstört wird.

Das aus meiner Sicht eigentlich Interessante dabei ist, dass Gott diese Schwächen des weltlichen Rechtssystems sicherlich nicht verborgen geblieben sind, bevor er seinen Sohn in die Welt sandte und schließlich menschlicher Rechtsprechung und ihrer Vollstreckung aussetzte. Das tat er ganz offenkundig nicht aus Gerechtigkeitserwägungen. Nein, wer sein Kind in die Welt schickt, wie Gott das getan hat, der hat das getan, um die Welt zu retten und die Menschen zu erlösen, die als Sünder allzumal unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten regelmäßig mit den allerschlimmsten Strafen zu rechnen hätten.

Gott hat anstelle der Gerechtigkeit die Gnade gesetzt. Er, der allwissend und allmächtig ist und dem es mithin allein möglich ist, der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen, hat sich gegen die Gerechtigkeit entschieden, indem er den von ihm geliebten Menschen aus Barmherzigkeit den Weg der Gnade gewiesen hat. Insoweit verstehe ich die Erleichterung Martin Luthers, als der zu der Erkenntnis kam, dass er allein aus Gnade gerettet würde – sola gratia, Sie kennen das noch vom letzten Jahr –, denn unter Berufung auf die Gerechtigkeit hätte er sicherlich deutlich schlechtere Karten gehabt. Dieser Gedanke ist für mich ein Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen; denn wir müssen eines zur Kenntnis nehmen. Auch das ist schon angeklungen. Gott hat die Menschen unvollkommen geschaffen. Selten gelingt ihnen wirklich etwas Gutes und meistens meinten sie es bloß gut und den Rest fegen wir zusammen.

Bei Gott allerdings ist durch seine Gnade das Gutgemeinte schon gut. Wir Menschen können es ihm ohnehin nicht gleichtun, auch nicht in der Gerechtigkeit. Auch die Stärksten und die Leistungsfähigsten können es nicht. Wir sind auf Gnade angewiesen und die Gnade ist Ausdruck der Liebe. Das sollten wir uns bewusst machen; denn wenn wir unsere Mitmenschen so betrachten, geht es uns meist nicht wesentlich anders. Wir bewundern die Menschen um ihrer Stärken willen, aber erst ihre Schwächen machen sie auch aus unserer Sicht richtig liebenswert. Dann helfen wir ihnen gern, den Rest zusammenzufegen. Dann versuchen wir auch gemeinsam, es beim nächsten Mal besser zu machen. Dann gestehen wir uns gegenseitig das zu, was wir zum Leben brauchen. Dann verzichten wir auch auf das, was nicht notwendig ist und was ein anderer braucht. Und dann sorgen wir selbst für einen gerechten Ausgleich, ganz von allein, ohne Urteil und ohne Richter. Der hat dann Feierabend.

Noch einmal zurück zur Tageslosung: Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf! Ich, der Herr, habe es geschaffen. – Ich will das nicht dementieren.

Ich möchte nur gern hinzufügen: Die Gerechtigkeit wachse durch Gnade.

Für den heutigen letzten Tag der Synode möchte ich Ihnen zurufen: Seien wir alle gnädig miteinander. – Das ist jetzt hoffentlich nichts grundlegend Neues. Gleichwohl würde ich wegen des Schwungs noch das Lied 395, „Vertraut den neuen Wegen“, mit Ihnen singen.

(EG 395)

Ich möchte mit Ihnen beten. – Guter Gott, lass von dieser Synode eine gute Wirkung ausgehen. Lass junge Menschen so lebendig, kreativ und mutig sein, wie sie sich das selbst oft kaum vorstellen können, wie es Kirche und Gesellschaft aber oft von ihnen erwarten, und lass sie nicht an dem Erwartungsdruck leiden. Lass ältere Menschen nicht ihrer Jugend nachtrauern, sondern in Würde ihr Leben so gestalten, dass ihr Vorbild dazu inspiriert, im Zusammenleben die Kirche zu gestalten. Lass Gequälte, Missbrauchte, Gedemütigte und verletzte Menschen nicht an dem Unrecht, das ihnen geschehen ist, verzweifeln, sondern mach sie stark in dem Willen, das Böse mit Gutem zu überwinden. Lass die Menschen, die für das Leid anderer verantwortlich sind, damit aufhören und das Ausmaß ihrer Schuld erkennen, dass sie ehrlich um Verzeihung bitten können. Lass alle, die auf der Flucht sind und ihre Heimat verloren haben, ihre Heimat wiederfinden oder wenigstens eine Heimat finden und bis dahin freundliche und liebevolle Aufnahme finden, dass sie wieder Vertrauen aufbauen können. Gott sei uns gnädig.

Vater unser