Wichern: "Rettungshäuser" für bedürftige Kinder

Vor 125 Jahren starb der evangelische Sozialreformer Johann Hinrich Wichern

Von Wolfgang Plischke (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Sein Konzept galt als pädagogisch revolutionär. Im Jahr 1833 gründete der Theologe Johann Hinrich Wichern "zur Rettung verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder" in Hamburg das "Rauhe Haus" - eine Reetdach-Kate mit viel freiem Gelände in der Umgebung. Mit zunächst zwölf "Zöglingen" startete er die Betreuung unter familienähnlichen Strukturen. Auch später sprühte Wichern, der als bedeutender Sozialreformer der evangelischen Kirche gilt, vor Ideen und Tatendrang. Am 7. April 1881 starb er in der Hansestadt.

Im Rauhen Haus erhielten die Kinder Zuwendung, sie bekamen Unterricht in Lesen und Schreiben und somit eine Zukunftsperspektive. Zudem nahmen sie regelmäßig an Gottesdiensten und Gebeten teil. Ihnen solle mit dem Eintritt in das Rauhe Haus "alles ohne Ausnahme vollständig und für immer vergeben sein", schrieb Wichern. Andererseits sollten sie fortan nicht über die "vergangenen Dinge reden". Am ersten Advent des Jahres 1839 hing im Betsaal der erste Adventskranz der Welt - eine Erfindung Wicherns.

1845 beherbergte das "Rauhe Haus" bereits 93 Kinder. Wicherns Gedanke der "Rettungshäuser" wurde bekannt, tausende Besucher aus dem In- und Ausland kamen in die Hansestadt. Zwei leitende Helfer, vier Schwestern sowie 32 Brüder betreuten die Jungen und Mädchen. Auch Werkstätten wurden eingerichtet.

Angesichts der zunehmenden Not vieler Menschen im 19. Jahrhundert verfocht Wichern das Konzept der "Inneren Mission" der evangelischen Kirche, aus der später das Diakonische Werk hervorging. Er sprach sich für "das Bekenntnis des Glaubens durch die Tat der rettenden Liebe" aus. Christliche Verkündigung und soziales Engagement waren für ihn eine Einheit.

"Wichern war nicht nur mit den geistigen, theologischen und philosophischen Strömungen seiner Zeit wohl vertraut", meint der Heidelberger Diakoniewissenschaftler Theodor Strohm. Er sei zugleich Empiriker und ein sozialwissenschaftlich orientierter Praktiker gewesen: "Sein Horizont war europäisch und ökumenisch." Unermüdlich habe Wichern konkrete Innovationen, die er zum Teil im Ausland kennen gelernt hatte, in sein Reformkonzept übernommen.

Wichern wurde am 21. April 1808 in Hamburg geboren. Nach dem Theologiestudium von 1828 bis 1831 besuchte er in Halle die von August Hermann Francke gegründeten Waisenanstalten und zeigte sich davon stark beeindruckt. In Berlin sah er die "Freiwillige Armenbeschäftigungsanstalt" des Barons Ernst von Kottwitz. Auch in Hamburg wurde er als Oberlehrer in St. Georg mit dem sozialen Elend in der Großstadt konfrontiert.

1842 wurde im "Rauhen Haus" eine Druckerei eingerichtet, die 1844 ein eigenes Verlagsgeschäft und die Herausgabe der so genannten "Fliegenden Blätter" ermöglichte. Auch im publizistischen Bereich bewies Wichern besonderes Talent. So enthalten die "Fliegenden Blätter" eine Fülle von informativen Fakten, Namen und Orten, die einen Überblick über das evangelische Wohlfahrtsengagement der damaligen Zeit ergeben.

Im Revolutionsjahr 1848 beteiligte sich Wichern am Wittenberger Kirchentag, bei dem die kirchliche Einigung in Deutschland im Mittelpunkt stand. Dort warb er bei seiner viertelstündigen Stegreifrede, die mit dem Thesenanschlag Martin Luthers verglichen wurde, für seine Überzeugungen. "Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich bezeugen", unterstrich er.

Die Rede "strotzte nur so von Tatsachen, Zahlen, Namen", analysiert Strohm: "Von blassen Meinungen und Räsonnements hielt er hingegen nichts." Am 11. November 1848 kam es zur Gründung des "Central-Ausschusses für Innere Mission".

Anfang 1857 nahm Wichern die Berufung zum "Vortragenden Rat für die Strafanstalten und das Armenwesen" im preußischen Innenministerium an. Immer wieder, darauf verweist der Leiter des Diakoniewissenschaftlichen Instituts in Heidelberg, Heinz Schmidt, kam er auf die Sünde zu sprechen. Die Gefängniswelt sei für ihn "nichts Isoliertes, sondern nur eine Frucht unseres im Innersten zerfallenen, weil vom Wort und Gebote Gottes abgefallenen Volkslebens" gewesen. Die "sich immer neu erzeugende Saat des Verbrechens" nannte Wichern "eine der gereiften Früchte unserer national gewordenen Sünde, des unter uns mächtig gewordenen Indifferentismus und Unglaubens".

Zugleich wurde er Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin. In den preußischen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 organisierte er die diakonische Arbeit unter den Soldaten. Andere seiner Weggefährten setzten sich für Auswanderer ein, unterstützten wandernde Handwerksgesellen und betreuten Arbeiter im Eisenbahnbau. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im "Rauhen Haus", wo er nach langer schwerer Krankheit starb.

24. März 2006