Landwirtschaft im Spannungsfeld, zwischen Wachsen und Weichen

Zusammenfassung der Grundforderungen

6.1 Grundprobleme

(141) Nach der ausführlichen Darstellung der Spannungsfelder Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie sowie Hunger und Überfluß, und nach dem Versuch, Orientierungshilfen und sozialethisch verantwortbare Lösungsansätze in den jeweiligen Bereichen aufzuzeigen, sollen abschließend noch einmal gewichtige Anliegen dieser Denkschrift zusammenfassend benannt werden. Es ging um

  • die Zukunft der bäuerlich geprägten Betriebe angesichts wachsender Überschüsse und fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft;
          
         
  • die Vermeidung bedenklicher Folgen von intensivem Landbau und intensiver Tierhaltung im Konfliktfeld von ökonomischen Zwängen und neu erkannten ökologischen Notwendigkeiten;
          
         
  • den sparsamen, schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen im Zielkonflikt von kurzfristiger Güterversorgung und langfristiger Bewahrung der Lebensgrundlagen (Boden, Wasser, Luft, landschaftliche, pflanzliche und tierische Vielfalt);
          
         
  • die Verantwortung für die Dritte Welt angesichts weltweiter Zusammenhänge von Überfluß, Hunger und Armut.
    (142) Wie vielschichtig und komplex all diese Probleme sind, hat die Darstellung in den einzelnen Kapiteln aufgezeigt. Dabei ist deutlich geworden, daß den großen Herausforderungen heute nur mit einschneidenden und umfassenden Lösungen begegnet werden kann, die nicht mehr lange auf sich warten lassen dürfen. Alle gesellschaftlichen Gruppen werden ihren Beitrag dazu leisten müssen, ohne die Schuld für Fehler der Vergangenheit und Gegenwart nur bei anderen zu suchen. Wie auch immer die Lösungen im einzelnen aussehen mögen, folgende Grundforderungen sollen dabei berücksichtigt werden.

6.2 Grundforderungen

(143) Die staatliche Agrarpolitik muß heute drei Ziele gleichzeitig verfolgen: Die Überschußproduktion verringern, ökologische Belange stärker berücksichtigen und soziale Härten im Strukturwandel wegen fehlender außerlandwirtschaftlicher Beschäftigungsmöglichkeiten vermeiden. Die Agrarpolitik darf nicht zum Wachstumszwang oder zum Hinausdrängen in die Arbeitslosigkeit führen. Die Existenzsicherung bäuerlicher Betriebe und die soziale Absicherung müssen angesichts der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation den Vorrang vor einer Förderung sehr großer Produktionseinheiten haben. Langfristig Jedoch muß ein behutsamer weiterer struktureller Anpassungsprozeß möglich sein, gerade um die finanzielle und soziale Situation der Inhaber von Problembetrieben zu verbessern.

(144) Eine Kurskorrektur der EG-Agrarpolitik ist angesichts der Überschuß- und Finanzierungsprobleme der EG unausweichlich. Sie steht jetzt unter hohem Zeitdruck. Die Einführung von Quotensystemen (Garantiemengenabnahmen) mit administrativen Steuerungsmechanismen darf aus den dargestellten Gründen keine Dauereinrichtung werden. Es ist zwar richtig, daß langfristig gesehen marktwirtschaftliche Anreize (reduzierte Preise und Anreize zum Abbau von Kapazitäten) das Marktgleichgewicht wieder herstellen können. Wenn jedoch kurzfristige Erfolge sichtbar werden müssen, geraten gerade wieder klein- und mittelbäuerliche Betriebe unter einen sozial kaum zu verantwortenden Einkommensdruck. Um so wichtiger sind für diese Betriebe

  • flankierende Maßnahmen mit direkten Einkommensübertragungen dort, wo einkommenspolitische, soziale und ökologische Belange dies erfordern;
          
         
  • die Entlastung dieser Betriebe durch die Einführung von differenzierten Beiträgen zur Sozialversicherung;
          
         
  • ihre Einbeziehung in ein modifiziertes Förderungsprogramm;
          
         
  • Krediterleichterungen, wie sie gegenwärtig versucht werden (allerdings nur so weit, daß dadurch nicht neue Anreize zur Produktionsausweitung geschaffen werden);
          
         
  • Entgelt bei landschafts- und waldpflegerischen Maßnahmen und sonstigen ökologischen Leistungen für die Gesellschaft.

All das kostet den Staat und Steuerzahler viel weniger Geld als die Mitfinanzierung von Arbeitslosigkeit und die Behebung ökologischer Schäden.

(145) Eine bäuerlich geprägte Landwirtschaft als regional unterschiedliches Mit- und Nebeneinander von landwirtschaftlichen Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben hat sich als diejenige Lebensform erwiesen, die einer ganzheitlichen Betrachtungsweise agrarpolitischer Zielsetzungen am ehesten gerecht werden kann. Sie bedarf der Förderung im Hinblick auf neue fundamentale Ziele und Aufgaben, d. h. auf Ziele, die über die Sicherung einer ausreichenden Nahrungsmittelversorgung hinausgehen. Zu diesen Zielen und Aufgaben gehören:

  • die langfristige Bewahrung der Funktionsfähigkeit örtlicher Naturhaushalte und der Bodengesundheit bei schonender Nutzung der natürlich verfügbaren Güter;
          
         
  • die Einbindung der Landwirtschaft in die Bewahrung und Schaffung von Ökosystemen, die der biologischen Selbstreinigung, der Klima- und Wasserhaushaltsstabilisierung dienen, und durch welche Tier- und Pflanzenarten im Gleichgewicht gehalten werden;
          
         
  • die Einbindung der Landwirtschaft in die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ein Netz von naturnahen Biotopen zu schaffen;
          
         
  • die Aufrechterhaltung einer tragfähigen Besiedelungsstruktur in ländlichen Räumen unter Einhaltung eines vielfältigen, gegliederten Landschaftsbildes.

(146) Da die vor allem ökonomisch begründete Intensivierung der Landbewirtschaftung immer sichtbarer an ökologische Grenzen stößt, sollte auch in den Gebieten, in denen die Bodenfruchtbarkeit, die Wasserqualität und Artenvielfalt akut und langfristig gefährdet sind, die landwirtschaftliche Intensivproduktion nicht weiter ausgebaut werden. Ein sorgsamerer und umweltschonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen ist dringend geboten. Im Zweifelsfall sollten heute ökologische Forderungen Vorrang vor ökonomischen Erwägungen haben, zumal langfristig nur das ökonomisch sinnvoll ist, was auch ökologisch verantwortet werden kann. Notwendig ist deshalb:

  • die Begrenzung des Einsatzes von mineralischem Dünger (aber auch organischem Dünger wie der Gülle) und von chemischen Pflanzenbehandlungsmitteln und pharmazeutischen Präparaten auf das unbedingt notwendige Maß sowie die fachgerechte Durchführung dieses Einsatzes;
          
         
  • die fortschreitende Bevorzugung naturgemäßer umweltfreundlicher Anbau- und Pflanzenschutzverfahren;      
         
  • standortangepaßte Anbausysteme mit geringem Energiebedarf, die nicht nur für Entwicklungsländer anzustreben sind, sondern auch für stark belastete Regionen der Industrieländer;
          
         
  • eine größere Nutzung der vielen Möglichkeiten, die eine intensive, aber dennoch umweltschonende Landbewirtschaftung möglich machen (vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Kap. 4); der Staat sollte diese Möglichkeit durch entsprechende Anreize und Verordnungen (z. B. durch eine Gülle-Verordnung der Bundesländer) fördern und die Entwicklung vorantreiben;    
         
  • die Förderung eines Netzes von naturnahen Biotopen durch entsprechende Anreize und Verordnungen (vgl. Ziff. 145); dagegen sollte die Umwandlung von Feucht-, Trocken- und Magerwiesen und anderen bedrohten Lebensräumen in genutzte Flächen verhindert werden.

(147) In der landwirtschaftlichen Tierhaltung ist das bereits geltende Tierschutzgesetz (1962), das für das Tier eine »angemessene, artgemäße Nahrung und Pflege und eine verhaltensgerechte Unterbringung« vorschreibt, genauer und konsequenter als bisher zu beachten. Die Novellierung dieses Gesetzes, die eine bessere Handhabung ermöglichen muß, sollte bald abgeschlossen werden. Bei der Durchsetzung seiner Lebensinteressen sollte der Mensch immer auch die Lebensinteressen der anderen Kreatur angemessen berücksichtigen und Leid soweit wie möglich verringern. Wenn aus ethischen Gründen auf kostengünstigste Ausnutzung technischer Möglichkeiten verzichtet werden muß, ist dafür zu sorgen, daß auch die anderen Länder in der EG ähnliche Regelungen und Gesetze einführen und durchsetzen. Die Einsicht, daß eine Veränderung nur durch ein gemeinsames Vorgehen aller EG-Länder herbeigeführt werden kann, darf in unserem Lande nicht als Alibi dienen, abzuwarten und notwendige Schritte hinauszuzögern. Notwendig ist deshalb:

  • die EG-weite Einschränkung der landwirtschaftlichen Tierhaltung durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründet sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme, die eine artgemäße Betreuung und damit verantwortlichen Umgang mit den Nutztieren gewährleisten;
          
         
  • die Verhinderung regionaler Schwerpunktbildungen der intensiven Tierhaltung dann, wenn dies zu unzumutbaren Belastungen führt;
          
         
  • die Einschränkung von Massentierhaltungen ohne eigene Futterversorgung durch entsprechende Änderungen in der Agrarförderung, durch steuerliche Maßnahmen und durch Änderungen in Umweltschutzgesetzen von Bund und Ländern;
          
         
  • eine wirksame Einschränkung der gewerblichen Tierhaltung durch gesetzliche Maßnahmen und durch die gemeinsame Bereitschaft des bäuerlichen Berufsstandes.

Auch die Verbraucher werden durch umweltbewußteres Verhalten ihren Beitrag leisten müssen, nicht zuletzt durch Zahlung höherer Preise bei ökologisch unbedenklicheren Produktionsverfahren. Dies gilt auch insgesamt für die Erhaltung der Umwelt. Sauberes Wasser, reinere Luft, weniger schadstoffbelasteter Boden, rückstandsfreiere Nahrungsmittel und tierfreundlichere Haltungsformen haben ihren Preis. Deshalb ist das Verursacherprinzip durch das Gemeinlastprinzip zu ergänzen. Während etwa die Politiker sich noch um die Einführung eines Umweltpfennigs (Waldpfennigs) oder eines Tempolimits für Autofahrer zur sofortigen Verminderung der Stickoxyde streiten, sind weite Teile der Bevölkerung längst bereit, sogar größere Einschränkungen hinzunehmen, wenn diese Maßnahmen der Umwelterhaltung dienen. Boden, Wasser und Luft sind nicht vergleichbar mit anderen Verbrauchsgegenständen. Sie sind kostbare Güter, ohne die es kein Leben auf dieser Erde gibt. Um die Schadstoffbelastung in der Luft zu verringern, sind allein Milliardenbeträge erforderlich, die sich nur durch Anwendung des Verursacher- und des Gemeinlastprinzips aufbringen lassen. Da die Zeit drängt, sollten über alle parteipolitischen und Bundesländergrenzen hinweg bald durchgreifende Vereinbarungen getroffen werden.

(148) Langfristig ist unser künftiges Schicksal mit dem Leben der Menschen in der Dritten Welt untrennbar verbunden. Kein entwickeltes Land kann aus der Mitverantwortung entlassen werden. Wenngleich die Not von Ländern der Dritten Welt in vielen Fällen mit Ursachen zu tun hat, die in diesen Ländern selbst liegen, so bleibt dennoch die Tatsache der vielfältigen Verflechtungen in der Weltwirtschaft. Die Auswirkungen der schon erwähnten Agrarimporte aus Entwicklungsländern bei uns und in diesen Ländern selbst ist nur ein Beispiel dafür. Folgendes erscheint notwendig:

  • der gezielte, unbürokratische und effektive Einsatz einer direkten Nahrungsmittelhilfe für die ärmsten Länder in Not- und Katastrophenfällen, wenngleich dies nicht die Grundprobleme des Hungers in diesen Ländern zu lösen vermag;
          
         
  • langfristig gesehen die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung der breiten Bevölkerungsmassen in den unterentwickelten Regionen dieser Erde;
          
         
  • die Forcierung der integrierten ländlichen Entwicklung (verbunden mit Agrarreformen) in den von hoher Unterentwicklung und Armut heimgesuchten Regionen;
          
         
  • die Befähigung der Ärmsten der Armen zur Selbsthilfe;
          
         
  • die Förderung der Eigenversorgung mit angepaßter Technologie;
          
         
  • die Mitberücksichtigung der Auswirkungen von Maßnahmen der »Grünen Revolution« und von Agrarimporten aus Entwicklungsländern auf die soziale Situation vieler Kleinbauern;
          
         
  • die Verteilung entstehender Gewinne nicht nur an eine kleine Schicht, sondern vor allem an die ärmere Bevölkerung.
          
         
  • Alle Entwicklungshilfeaktionen sind daran zu messen, ob wirklich Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird und wieweit auch die ärmsten Zielgruppen mit erreicht werden.

(149) Die Lösung der in der Denkschrift angesprochenen Probleme ist nur in einer großen solidarischen Anstrengung von Landwirten und Verbrauchern, Produzenten und Natur-, Landschafts- und Tierschützern, entwickelten und unterentwickelten Ländern zu bewältigen. Gerade in den entwikkelten Ländern werden wir lernen müssen, daß nicht immer mehr Konsum und Wohlstand Garanten für ein gelingendes und zufriedenes Leben sind, vor allem dann nicht, wenn dabei unsere natürlichen Lebensgrundlagen immer mehr gefährdet werden und Millionen von Menschen in Hunger und Armut leben.

(150) Verstärktes solidarisches Verhalten sollten auch die europäischen Kirchen über ihre nationalen Grenzen hinweg und im ökumenischen Geiste praktizieren. Wenn z. B. die Lösung großer ökologischer Probleme wie etwa die Luftreinhaltung und der Gewässerschutz nur noch durch einschneidende internationale Maßnahmen sicherzustellen sind, dann könnten gerade die Kirchen in ihren eigenen Ländern auf die Verantwortungsträger in diesem Sinne einwirken. Nationale Egoismen dürfen die Politik nicht so stark wie bisher beherrschen. Das gilt auch für die Durchsetzung EG-einheitlicher Regelungen der Massentierhaltung (z.B. der Käfighaltung). So wie die europäischen Kirchen bei der Wahrnehmung der Friedensverantwortung gezeigt haben, welch einen wichtigen Beitrag zum Umdenken sie sogar in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zu leisten in der Lage sind, sollten sie entsprechend die gemeinsame ökologische und entwicklungspolitische Verantwortung erkennen.

(151) Eine glaubwürdige Entwicklungspolitik muß sich bereits innerhalb der europäischen Gemeinschaft selbst bewähren: Der Abstand zwischen den ärmeren Regionen zu den reicheren Regionen der EG ist in den letzten 15 Jahren deutlich größer geworden. Mit der EG-Erweiterung verschärft sich dieses Problem noch. Noch sind wir weit davon entfernt, uns als eine große Solidargemeinschaft zu verstehen. Eine solche Gemeinschaft könnte jedoch durch eine engere Zusammenarbeit der protestantischen und der orthodoxen Kirchen sowie der katholischen Kirche in Westeuropa gefördert werden. Dabei ist auch eine finanzielle Unterstützung durch zwischenkirchliche »Lastenausgleiche« denkbar. In allen Gesellschaftssystemen sollten die europäischen Kirchen alle Möglichkeiten ausschöpfen, das weltweite entwicklungspolitische Engagement zu verstärken. Die kirchlichen Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene sollten in ihren Bemühungen um die Wahrnehmung der gemeinsamen ökologischen und entwicklungspolitischen Verantwortung nicht nachlassen. Auch internationale Begegnungstagungen in der kirchlichen Jugend und Erwachsenenbildungsarbeit können das gemeinsame solidarische Verantwortungsbewußtsein stärken.

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