Landwirtschaft im Spannungsfeld, zwischen Wachsen und Weichen

Kirchliche Arbeit auf dem Lande

7.1 Mitverantwortung und Dienst der Kirche im Strukturwandel des Dorfes

(152) Die Kirche kann nicht unberührt von den gesellschaftlichen Spannungsfeldern und den wirtschaftlichen, ökologischen und entwicklungspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart ihre Aufgabe auf dem Lande erfüllen. Sie hat das auch in der Vergangenheit nicht getan. Wenn die Kirchengebäude mitten im Dorf errichtet wurden, war das ein Zeichen dafür, daß die Kirche die alltäglichen Freuden, Sorgen und Nöte der Menschen teilt.

(153) In der Vergangenheit erleichterten ihr die Überschaubarkeit der landwirtschaftlich geprägten Lebensverhältnisse die Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus und seine Botschaft von der Versöhnung, Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit in die konkreten Probleme der Menschen umzusetzen. Dieses geschah auf vielfältige Weise in der Verkündigung, in der Seelsorge, im Unterricht, in der Diakonie aber auch in gesellschaftspolitischen Initiativen von Christen; man denke an Friedrich Wilhelm Raiffeisens Beitrag für die Bildung von Genossenschaften oder an die Mitwirkung des Predigers Christoph Blumhardt bei ähnlichen Kooperationsformen. Die Freiheit und Bindung eines Christenmenschen konnte sich in vielfältiger Weise auswirken: Im Miteinander der Familie, bei Gebet und Andacht, in der Freiheit zur Versöhnung bei Generations- und Nachbarschaftskonflikten, in der Freiheit vom alleinigen Gewinn- und Besitzstreben, in der Freiheit zur Zusammenarbeit mit anderen und zum Dienst an der Dorfgemeinschaft. Vielleicht war die Prägekraft, die vom Pfarrer und vom Pfarrhaus früher ausging, größer. Aber auch die Mitarbeit der Gemeinde spielte eine wichtige Rolle, wenn man an die vielen Dienste von Laienseelsorge, Diakonie und Nachbarschaftshilfe nicht nur in Krankheitsfällen und an die Mitarbeit in den zahlreichen kirchlichen Vereinen und Organisationen denkt.

(154) Die Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse ist heute in den meisten Landgemeinden nicht mehr so gegeben wir früher. Nur noch wenige Menschen verdienen im Dorf ihren Lebensunterhalt. Die Mehrheit sind Pendler und in den unterschiedlichsten Berufen tätig. In größeren Dörfern entstehen neue Siedlungen. Die Eingliederung von Neubürgern ist schwierig. Städtische Wochenendpendler in ländliche Erholungsgebiete bringen zusätzliche Probleme mit sich. In dünn besiedelten ländlichen Regionen wandern junge Menschen ständig ab, häufig auch die qualifizierten Mitarbeiter der Kirchengemeinden. Die Folge ist in solchen Regionen nicht nur Oberalterung, sondern oft auch das Gefühl, abgeschrieben zu sein. Die Gebiets-, Schul- und Krankenhausreform hat in kleineren Orten die Abwanderung von dörflichen Führungskräften mit entsprechendem Bildungsstand und Ansehen beschleunigt (Lehrer, Apotheker usw.). Bewußt macht die Kirche diese Entwicklung nicht mit. Sie will die seelsorgerliche Nähe zu den Menschen nicht aufgeben. Der größere Pfarrernachwuchs macht das möglich.

(155) Trotz der Erschwerung der kirchlichen Arbeit durch solche Probleme sollten nicht nur die negativen Folgen dieser Entwicklung aufgezeigt und beklagt werden. Zum einen war die alte Dorfwirklichkeit nicht immer so gut, wie sie rückblickend dargestellt wird. Zum anderen kann man nicht die Vorzüge des Lebens der Großstadt und ländlicher Umgebung gleichzeitig fordern. Vielmehr gilt es, neue Chancen zu nutzen. Die Kirche genießt trotz aller Kritik immer noch einen Vertrauensvorschuß. Das ist bei dem oft gestörten Dialog zwischen Landwirten, Verbrauchern, Umweltorganisationen und entwicklungspolitisch engagierten Gruppen von Vorteil.

(156) Die Kirche kann ein Ort der Begegnungen für die unterschiedlichsten Gruppen im Dorf sein. Verständnis für die Sorgen und Probleme anderer kann geweckt werden. Vorurteile können abgebaut und gemeinsame Anliegen entdeckt werden. Aktionsgemeinschaften können über alle Gruppen und Grenzen hinweg ins Leben gerufen werden. Der Gottesdienst spielt dabei eine wichtige Rolle, kann diese Begegnungsaufgaben aber nicht allein erfüllen. Er muß durch andere Formen gemeindlicher Begegnung ergänzt werden. Neue Formen der Begegnung haben sich bewährt: Dorfabende, Gesprächsabende, Seminare, Dorfwochen, Evangelische Wochen, ökumenische Veranstaltungen, gemeinsame Feste, Erntedanktage und Schöpfungsfeiern - oft in enger Zusammenarbeit mit den dörflichen Vereinen und Organisationen vorbereitet. Häufig reicht bei Begegnungen die Gemeindeebene nicht aus, zumal oft nur noch wenige Landwirte dort beheimatet sind. Um so wichtiger sind dann Angebote im Dekanat oder im Kirchenkreis, die von Beauftragten für Landwirtschafts-, Umwelt und Entwicklungsdienstfragen angeregt werden können. Regionale kirchliche Bildungsstätten, kirchliche Landvolkshochschulen, Landjugendzentren und die Evangelische Landjugendakademie bieten darüber hinaus mehrtägige Veranstaltungen an. Außerhalb der Zwänge des Alltags können Menschen hier neu miteinander über mancherlei Fragen ins Gespräch kommen wie man z. B. Generationen- und Partnerschaftskonflikte bewältigt, welche Perspektiven sich im Strukturwandel für die betroffenen Familienmitglieder ergeben, worin der Sinn der Arbeit besteht, wie Alt- und Neubürger mehr Verständnis füreinander aufbringen können, welche Erwartungen die Natur-, Landschafts und Tierschützer haben, welchen Zwängen die Landwirtschaft ausgesetzt ist und welche neuen Möglichkeiten sich ergeben, welche Rückwirkungen unsere Agrar- und Wirtschaftspolitik auf die Entwicklungsländer hat usw. Am Rande solcher Tagungen kann aus der gleichen Betroffenheit der Teilnehmer Seelsorge untereinander erwachsen.

7.2 Gottesdienst, Seelsorge und gesellschaftspolitisches Engagement

(157) Solche wichtigen Begegnungen auf unterschiedlichen Ebenen können den Gottesdienst als Zentrum aller Gemeindeaktivitäten nicht ersetzen. Gemeinde lebt auf dem Lande wie in der Stadt von der Verkündigung des Evangeliums. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem die Gemeinde mit all ihren Gruppierungen zu gemeinsamem Lob und Dank, zur Fürbitte und zum Hören auf Gottes Wort sich versammelt, wo sie sich zurüsten läßt für den Alltag. Vom Gottesdienst sollen ermutigende und befreiende Wirkungen ausgehen. Hier sollen Menschen in den Stand gesetzt werden, im Dialog mit anderen angesichts der gegenwärtigen Konfliktfelder nach evangeliumsgemäßen Lösungen zu suchen.

(158) Nun ist gerade der Gottesdienst nicht selten ein Grund für tiefgreifende, neue Auseinandersetzungen in der Gemeinde. Sollen in der Predigt konkrete Probleme der Umwelt- und der Entwicklungspolitik angesprochen werden? Jeder Prediger bemüht sich darum, die Wahrheit des Wortes Gottes in unsere aktuellen Probleme hineinzusprechen. Dabei sollte er durchaus Sünde und gesellschaftliche Schuld beim Namen nennen und Partei für die Schwachen ergreifen, ohne parteipolitisch zu werden.
Dennoch ist in der Regel bei politisch kontrovers diskutierten Themen, die viel Einzelwissen erfordern, nicht die Kanzel der geeignete Ort der Auseinandersetzung. Der Gottesdienst bietet nicht die Möglichkeit der Gegenrede. Gemeindeveranstaltungen eignen sich im allgemeinen für die Behandlung aktueller kontroverser Probleme besser. Es gibt jedoch die Möglichkeit, gelegentlich Gottesdienste von betroffenen Gruppen selbst vorbereiten zu lassen. Dann können sie sich mit ihren Anliegen im Gottesdienst einbringen.
Die Beteiligung von Gemeindegliedern bei der Vorbereitung und Durchführung von Gottesdiensten kann eine Verlebendigung darstellen und der besseren Konkretisierung des Wortes Gottes in die Alltagsprobleme hinein dienen. Sollten aber Teile der Gemeinde über einen Gottesdienst oder eine Predigt (z. B. beim Erntedankfest) verärgert sein, ist es wichtig, das Gespräch zu suchen und Mitarbeit bei Gesprächsabenden in der Gemeinde zum besseren gegenseitigen Verstehen anzubieten. Das gilt auch für das Gespräch mit engagierten kirchlichen Umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen.

(159) Immer schwieriger wird es für den Pfarrer, über alle Lebensbereiche seiner Gemeindemitglieder informiert zu sein. Die Kirchenleitungen versuchen durch Landpraktika für Theologiestudenten und -studentinnen und durch Fortbildungsveranstaltungen für Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter die Probleme der heutigen Dorfwirklichkeit zur Sprache zu bringen. Das Fach »Sozialethik« bzw. »Umweltethik« in den theologischen Fakultäten, an den evangelischen Fachhochschulen und an den Ausbildungsstätten für Diakone, Gemeindehelfer/ -innen und Erzieher/-innen vermag nur einige Grundkenntnisse zu vermitteln. Wichtiger ist daher die zweite Ausbildungsphase mit Predigerseminaren, Kursen usw. Hier sollten die Möglichkeiten der Gemeindearbeit auf dem Lande besonders berücksichtigt werden. Es empfiehlt sich, auch vermehrt Fortbildungsveranstaltungen anzubieten, weil sehr viele Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter später in Landgemeinden Dienst tun. Aber kein Pfarrer und kirchlicher Mitarbeiter kann Sachexperte für alle Lebensbereiche sein. Um so wichtiger ist es, daß in jedem Dekanat oder Kirchenkreis Beauftragte für Fragen der Landwirtschaft, des Umweltschutzes und der Entwicklungspolitik auf die Probleme der heute im Dorf lebenden Menscheneingehen, indem sie sehr stark auch Gemeindeglieder mit heranziehen, die Sachexperten oder Betroffene sind.

(16o) Hausbesuche sind nach wie vor eine gute Möglichkeit, durch intensives Zuhören ein Stück Lebenswirklichkeit einzufangen, auch wenn die ganze Familie nur noch selten anzutreffen ist. Intensiver Besuchsdienst wird nicht nur der Seelsorge, sondern auch der Predigt und dem Unterricht zugute kommen. Der Pfarrer kann auch bei so schwierigen Fragen wie der Hofumstellung oder der Hofaufgabe seelsorgerlich tätig werden, indem er gerade nicht nur die ökonomischen Gesichtspunkte mit bedenkt, sondern die ganzheitlichen Belange der einzelnen Familienmitglieder stärker einbezieht. Für die Klärung der Sachfragen sollte auf die Hilfe von Fachberatern nicht verzichtet werden, damit keine falschen Weichenstellungen vorgenommen werden, die später kaum wieder rückgängig zu machen sind. In ländlichen Regionen werden gegenwärtig vermehrt Ehe- und Erziehungsberatungsstellen eingerichtet. Auch hier empfiehlt sich die enge Kooperation mit den Gemeindepfarrämtern. Kontakt sollte ferner zu den Mitarbeitern der Sozialstationen, den Betriebshelfern und Dorfhelferinnen gesucht werden. Sie tun nicht nur einen wichtigen sozial-diakonischen, sondern oft auch seelsorgerlichen Dienst.

(161) Für den Schutz von Natur und Umwelt bietet sich neben überregionalen Veranstaltungen der überschaubare Einzugsbereich der Kirchengemeinde als Übungsfeld ökologischen Lernens und Handelns an. Ein erster, wichtiger Schritt besteht darin, die verschiedenen Gruppen mit ihren Anliegen, Hoffnungen und Ängsten so zusammenzubringen, daß man miteinander und nicht nur übereinander redet. Auch die Verbindung mit außerkirchlichen Umweltgruppen sollte gesucht werden, um gemeinsam verantwortungsvolles Handeln für die Schöpfung zu betreiben.

(162) Die kirchliche Verantwortung für die Umwelt wäre jedoch verkürzt beschrieben, wenn es nur um Einrichtung und Organisation des Dialogs der verschiedenen Gruppen ginge. Die Kirchengemeinde wird über alle Gruppeninteressen hinweg deutlich machen müssen, was es heißt, Gottes Schöpfung zu bewahren und zu bebauen. Dafür muß sie, wenn es notwendig ist, Position beziehen und darf etwa aufkommende Konflikte nicht scheuen.

(163) Über entwicklungspolitische Fragen beginnt man auch in Landgemeinden in den letzten Jahren verstärkt nachzudenken. Man stellt die Grundfrage nach der Gerechtigkeit in einer Welt, in der Lebens- und Überlebenschancen ungleich verteilt sind. Man erkennt, daß es um das Problem des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in einer durch gegenseitige Abhängigkeiten kleiner gewordenen Welt geht. Viele Schwierigkeiten und Widerstände, Mißtrauen und Angst, sind in dieser bewußtseinsbildenden Arbeit zu überwinden. Gute Erfahrungen sind mit entwicklungspolitischen Arbeitskreisen, mit Veranstaltungen und Aktionen zu entwicklungspolitischen Problemen und gelegentlich bereits schon beim Besucheraustausch mit einer Partnerkirche in der Dritten Welt gemacht worden.

(164) In den Massenmedien werden die in dieser Denkschrift behandelten Probleme nicht selten journalistisch zugespitzt angesprochen. Bei manchen Menschen entsteht dadurch der Eindruck, daß die Probleme erst durch die Massenmedien gemacht und dadurch leichtfertig Ängste erzeugt werden. Daher sollte sich gerade die kirchliche Pressearbeit darum bemühen, auf die Ernsthaftigkeit der aufgezeigten Probleme hinzuweisen und den Dialog zwischen den einzelnen Interessengruppen und den Betroffenen aufrechtzuerhalten. Wo es gelingt, eine sachliche Atmosphäre zu schaffen, lassen sich drängende Fragen leichter gemeinsam bearbeiten und lösen. In die Überlegungen der evangelischen Pressearbeit zu diesem Themenkreis sollten die Publikationsorgane des ländlichen Raumes (»Bauernbrief«, »Kirche im ländlichen Raum«, »Evangelischer Informationsdienst für Jugend- und Erwachsenenbildung auf dem Lande«) sowie die vielfältigen Sonntags- und Gemeindeblätter verstärkt einbezogen werden.

(165) Diese Denkschrift kann natürlich die angesprochenen Probleme nicht lösen. Sie will vielmehr Anregungen zum Nachdenken und Umdenken geben. Sie will nicht nur die verantwortlichen Politiker ansprechen, sondern alle, die sich um die Zukunft der Menschen auf dem Lande, um die Erhaltung von Natur und Landschaft und um die in Armut und Hunger lebenden Völker Sorge machen. Angesichts der Größe dieser Probleme und der oft wenigen, sichtbaren Erfolge bei der Lösung dieser Fragen liegt die Gefahr nahe, ganz zu resignieren und den Politikern allein die Verantwortung zu überlassen. Aber gerade die Arbeit vieler ökologischer und entwicklungspolitischer Gruppen in den letzten Jahren hat gezeigt, wie sehr alle mithelfen können, Umdenkungsprozesse einzuleiten. Resignation ist mit christlichem Glauben und christlicher Hoffnung unvereinbar. Der dreieinige Gott selbst ermutigt immer wieder zur Hoffnung. Nur aus dieser Hoffnung heraus kann die verantwortliche Haushalterschaft für diese Erde und ihre Menschen wahrgenommen werden.

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