Predigt in St. Marien zu Berlin (Lukas 19, 1-10)

Wolfgang Huber

Jesus kam “nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war eine Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muß heute in deinem Haus einkehren.

Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.”
(Lukas 19,1-10)

I.

Jericho ist der Ort des Geschehens. Was schwingt nicht alles mit bei diesem Namen! Von den Posaunen von Jericho spannt sich der Bogen bis zur Autonomiebehörde des Herrn Arafat! Von der Heimkehr des Volkes aus Ägypten, als die Israeliten nach dem Tod des Mose unter Josuas Führung ihren Fuß auf den Boden des gelobten Landes setzten, bis zum heutigen Tag, an dem auch Jericho ein Symbol ist für den Frieden, der so schmerzlich fehlt. Von jenen Musikinstrumenten, die bei der Heimkehr der Israeliten, durch Kriegsgeschrei verstärkt, die Mauern der Stadt zum Einsturz brachten, bis zu den dramatischen Entwicklungen unserer eigenen Gegenwart also spannt sich der Bogen, der die Geschichte dieser Stadt umschließt. Jericho, diese fruchtbare Oase im Jordantal, 260 Meter unter dem Meeresspiegel gelegen, ist der Ausgangspunkt der Straße, die hinauf nach Jerusalem führt. Zwischen Jericho und Jerusalem war es, wo ein Reisender unter die Räuber fiel; und ein ungläubiger Samaritaner war der einzige, der zur Hilfe bereit war. Auf dem Weg nach Jericho verhalf einem Blinden wieder zum Augenlicht. Jericho, von tausend Meter hohen Bergen umgeben, die noch höher erscheinen als sie sind – liegt die Stadt doch unter dem Meeresspiegel. Und nach Südosten hin wird es noch tiefer – zum Toten Meer, das zum Glück so salzig ist, dass man in ihm nicht ertrinken kann.

Die Fruchtbarkeit der Oase von Jericho spürt und riecht man unmittelbar, wenn man sich der Stadt nähert. Im Altertum wuchsen dort vor allem Balsamsträucher, von denen die Legende berichtete, die Königin von Saba habe sie dem König Salomo als Geschenk mitgebracht. Noch tausend Jahre später hatte die sagenumwobene Königin Kleopatra von Ägypten die Balsamhaine von Jericho zugewiesen erhalten. Nach ihrem sagenhaften Doppelselbstmord mit dem römischen Kaiser Marc Anton war die Stadt wieder an Herodes den Großen, den jüdischen Potentaten, zurückgegeben worden. Im Winter nahm er in der Stadt selbst Wohnung, wo es milder war. Mit vielen öffentlichen Gebäuden verschönte er die Stadt. Doch nach seinem Tod wurde Jericho römische Provinz. Aber attraktiv blieb der Ort, ein Umschlagsplatz für Handel und Wandel. Ein idealer Platz für einen Steuereintreiber. Zwar war Jericho jetzt ein profitliches Provinznest – aber eben ein profitliches. Verdient wurde noch in Jericho; ein Steuereintreiber hatte zu tun und konnte, wenn er gerissen war, zu Reichtümern kommen. Nötig war nur Gleichgültigkeit gegenüber dem Eigentum anderer.

II.

Zachäus gehörte zu denen, die zu klein geraten sind. Unterschiedlich reagieren Menschen darauf, dass sie zu anderen hochschauen müssen. “Mädchen, leg eine Zeitung unter” – riefen die Mitschülerinnen meiner Mutter hier in Berlin schon als kleiner Schülerin zu, wenn sie sich an der Tafel streckte und doch nicht hochkam. Das Hänseln in der Kindheit kann prägend sein für ein ganzes Leben.

So stelle ich mir Zachäus vor: ein kurzer, ein zu kurz gekommener Mensch. Das Leben lang damit beschäftigt, auszugleichen, was ihm an Länge fehlt. Er will immerzu übersehen und von anderen verspottet werden. Sie sollen lernen, ihn ernst zu nehmen. Dieser Wunsch bestimmt seine Berufswahl. Er wird Zöllner, Steuereintreiber. Er macht sogar Karriere, wird für die ganze Region von Jericho zuständig. Er arbeitet viel, aber nicht nur aus Freude am Beruf. Getrieben wird er von der Sehnsucht nach Größe, vom Wunsch nach Respekt, vom Willen zur Macht über andere. Er will nicht länger unten sein, sondern oben. Nicht nur IM wird er dadurch, sondern offen kooperiert er mit der römischen Besatzungsmacht. Sein Name Zachäus, Gerechter, wird zum blanken Hohn.

Beliebt macht man sich auf diese Weise nicht. Freiwillig lässt ihn niemand mehr in die erste Reihe. Bei jedem Volksauflauf zieht er den Kürzeren und sieht nur den Rücken derer, die sich rechtzeitig die besten Plätze gesichert haben. Auch bei uns in Berlin hätte er keine Chance – Karneval der Kulturen oder Love Parade: er bekäme nichts zu sehen von den Attraktionen des Umzugs. Irgendwann lassen wir es die kleingeratenen Wichtigtuer gerne spüren. Wir machen dann den Rücken besonders breit; die sollen sehen, wo sie bleiben.

Manche freilich sind pfiffig und steigen auf Laternenmasten oder eben auf Maulbeerbäume. So auch der kleine Zachäus. Wieder hat er denen ein Schnippchen geschlagen, die meinen, sie könnten ihn hänseln. Wieder ist er höher als die, die ihn um Haupteslänge überragen. Anstrengung lohnt sich. Den Schweiß wischt er sich von der Stirn. Er sitzt im Baum und guckt auf die Straße. Die bösen Blicke lässt er von sich abprallen; er versucht es wenigstens.

III.

Was treibt Zachäus auf die Palme – oder genauer auf den Maulbeerbaum? Kein Karneval der Kulturen, keine Love Parade. Der Einzug eines einzelnen Menschen in die Stadt, mit dem armseligen Gefolge von zwölf hageren, schlicht gekleideten Gestalten. Aber ein Ruf geht diesem Wanderprediger und seinen Jüngern voraus. Er befreit Menschen aus ihrer Verlorenheit. Das wird von ihm gesagt. Er holt sie in Gottes Nähe – und sei es um den Preis, dass sich ihr Leben ganz verwandelt. Wenigstens gesehen haben muss man so einen doch. Man braucht sich ja nicht nach ihm zu richten; aber man will doch wenigstens mitreden. So will auch Zachäus wissen, wer Jesus ist – oder zumindest, wie er aussieht.

Doch dadurch, dass einer auf dem Baum sitzt und herunterschaut, erfährt er nicht, wer Jesus ist. Er erfährt es erst dadurch, dass Jesus ihn anspricht. “Zachäus, steig eilend herunter.” Jesus wendet sich dem zu, der so offenkundig an den Rand geraten ist. Dass er reich ist, nützt ihm ja offensichtlich nichts. Dass er die anderen kujonieren kann, macht ihn nicht glücklich. Dass andere sich vor ihm fürchten, verhilft ihm nicht zu einem angstfreien Leben. Ziemlich isoliert sitzt er da oben auf dem Baum und hört plötzlich: “Zachäus, steig eilend herunter.” Komm herunter von deiner merkwürdigen Art von hohem Ross.

Jesus stellt häufig diejenigen in die Mitte, die an den Rand geraten sind, die von den anderen übersehen und verachtet werden. Oft sind es Kinder, deren Lebensrecht übersehen, Frauen, denen ihre Würde vorenthalten, Ausländer, deren Gleichberechtigung bestritten, Arme, deren Lebensbedürfnisse vernachlässigt, Kranke, die als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden. Hier aber ist es ein Reicher, der sich durch seinen Beruf und seine Geldgier bei den anderen in Misskredit gebracht hat. Ausgerechnet ihm wendet Jesus sich zu, ausgerechnet in seinem Haus lädt er sich ein. Ausgerechnet ihn nennt er beim Namen.

Das bringt die Maßstäbe der Umstehenden durcheinander. Murrend denken sie: Der Messias kommt doch zu den Frommen – oder etwa nicht? Deshalb kann man doch von ihm erwarten, dass er die Sünder links liegen lässt. Mancher wird auch denken: Jesus kommt doch zu den Armen – die Reichen schließt er von der Gemeinschaft der Gottesherrschaft aus. Jesus enttäuscht diese Erwartung. Vor ihm sind alle Menschen gleich. Die Einladung in Gottes Nähe gilt allen, ohne Unterschied. Um das zu demonstrieren, wendet er sich dem reichgewordenen Parvenü zu und stellt ihn, der an den Rand geraten war, in die Mitte.

Jesus lädt sich bei ihm ein. So bringt er ihm die Einladung Gottes zur Umkehr und zum Neubeginn nahe. So überwältigend ist Gottes Gnade, dass auch der Reiche durchs Nadelöhr kommt, weil der Ruf zur Umkehr und zum Neubeginn ihn erreicht. So überwältigend ist Gottes Gnade, dass jedes Schema ihr gegenüber versagt. Wer meint, alle Reichen seien vom Reich Gottes ausgeschlossen, sieht sich enttäuscht; offenbar hat er Gottes Gnade zu gering eingeschätzt. Wer umgekehrt denkt, die Reichen hätten nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel einen bevorzugten Platz, der verkennt Gottes unbeugsame Parteinahme für die Armen und schwach Gemachten.

Das eine wie das andere Schema wird hier aus den Angeln gehoben. Jesus befreit Menschen aus ihrer Verlorenheit. Das gilt auch für die, die sich an ihren Reichtum, ihre Besitzgier, ihre Verschlagenheit verloren haben. Es gilt auch denen, die sich an die Verhältnisse angepasst haben, damals wie heute. Aber wie bewegen wir uns dann in der Freiheit? Welche Folgen hat es, wenn unsere Verlorenheit hinter uns liegt?

Zachäus zieht Folgerungen eigener Art. Er wundert sich über sich selbst, wie er sich rufen hört: Die Hälfte meines Besitzes geben ich den Armen; und wenn ich jemanden betrogen habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Ein armer Mann wird Zachäus auch auf diese Weise nicht. Aber verwunderlich ist es schon. Zachäus teilt etwas mit, was er sich selbst niemals zugetraut hätte. Er tut etwas, womit er selbst am allerwenigsten gerechnet hätte. An sich selbst erlebt er das Wunder der Versöhnung: “Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.

Zachäus merkt plötzlich, dass er nicht nur zu kurz geraten, sondern tatsächlich bisher zu kurz gekommen war. Was ihm gefehlt hatte, waren freilich nicht einige Zentimeter Körperlänge oder einige Talente Gold. Was ihm gefehlt hatte, war Gottes Nähe. Kein Geld konnte das ersetzen. Nun aber begegnete ihm Jesus, der von sich sagte: “Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.”

IV.

Das Verständlichste an dieser Geschichte ist die Wut der Menge. “Das ist nicht mehr mein Jesus” rufen sie empört – sie alle, die sie schon bei diesem Oberzöllner oder seinen Helfershelfern bezahlt haben. Wenn schon Geld die Welt regiert, wenn schon die Macht das Recht bricht, wenn schon nur das zählt, was sich rechnet – dann sollen die wenigstens Verachtung spüren, die sich daran gütlich tun; dann sollen die wenigstens ausgeschlossen sein aus dem Reich Gottes, die blind waren für die Tränen der Armen. Rache ist Blutwurst; wenigstens dieser Satz muss doch noch gelten.

Nein, er gilt nicht mehr. Da hat einer seinen Namen gehört und ist herabgestiegen. Da ist jemand Jesus begegnet und dadurch von den Toten auferstanden. Da hat einer die Tischgemeinschaft Jesu erlebt und zu teilen begonnen. Da springt einer über die ganze Lebenserfahrung hinweg und wird wieder jung, teilt und verteilt.

Freunde wird er sich auch damit nicht gemacht haben. Ich nehme jedenfalls nicht an, dass Zachäus es besonders leicht hatte in Jericho, als Jesus wieder weitergezogen war. Die einen werden ihn hänseln, die anderen werden ihn anbetteln. Alle miteinander werden sich wundern, wie ein so erfolgreicher Mensch so weltfremd sein kann. Nur weil Gott gütig ist, nur weil Jesus das Verlorene sucht und uns aus unserer Verlorenheit befreit.

Mit den Wiedergutmachungszahlungen, die Zachäus leistet, ändert sich die Welt nicht. Auch nun verdient er seinen Namen nicht: Zachäus, der Gerechte. Er versucht, die Freiheit zu gebrauchen, die er plötzlich gewonnen hat. Aber in der Welt bleibt vieles im Argen, das muss er spüren. Und trotzdem ist es besser, einige gebrauchen die Freiheit, zu der Jesus sie befreit hat.

In Deutschland kommen gerade wieder einmal Entschädigungszahlungen in Gang, Wiedergutmachungen eigener Art. Vertreter unserer Kirche sind in diesen Tagen in der Ukraine, um die ersten Zwangsarbeiter aufzusuchen, die aufgefunden wurden – Zwangsarbeiter, die vor nahezu sechzig Jahren auf dem kircheneigenen Zwangsarbeiterlager an der Hermannstraße untergebracht waren. Ein wenig Geld aus den Gemeinden, die von dieser Arbeit profitierten, bringen sie auch mit, ein kleines Zeichen später Umkehr. Aber wir wissen auch: Was geschehen ist, können wir nicht aufwiegen, nicht mit Geld, nicht mit Besuchen, auch nicht mit einer Einladung nach Berlin, die hoffentlich am Buß- und Bettag verwirklicht wird, auch mit einem Gottesdienst hier in St. Marien. Aber wir bleiben dabei, die Menschen zu suchen, sie dem Vergessen zu entreißen, sie um Verzeihung zu bitten. Wir bleiben dabei, auch wenn die Welt um uns her sich wundert und fragt, wie man nur so weltfremd sein kann. Wir bleiben dabei: nur weil Gott so gütig ist, nur weil Jesus das Verlorene sucht. Nur weil Jesus uns aus unserer Verlorenheit befreit. Amen.