Predigt zu 75 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis am 18. Oktober 2020 in der Markus-Kirche, Stuttgart

„Wir haben in unserer gesamten christlichen Existenz gefehlt“

EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm im Talar

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (Archivbild)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

„wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“ – es sind diese Worte, die es nach der furchtbaren Zeit der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus gebraucht hat. Es ist mehr als ein liturgisches „mea culpa“, es ist Ausdruck der existenziellen Dunkelheit, die die Verfasser des Stuttgarter Schuldbekenntnisses angesichts der Abgründe der Jahre des Dritten Reiches stellvertretend für viele vor nun 75 Jahren zum Ausdruck gebracht haben. Bekennen, Beten, Glauben und Lieben – darin, so erklärten sie, haben wir versagt. Wir haben in unserer gesamten christlichen Existenz gefehlt, umfassend, und nun steht alles auf dem Spiel. Kann es für diese Kirche weitergehen? Wie sieht eine Zukunft für diese Kirche aus? In Psalm 130 klingt diese ans Mark reichende Frage so: „Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir, Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst, Herr, wer wird bestehen?“

Die Frage ist rhetorisch, niemand kann vor Gott bestehen, wenn er die Sünden anrechnen wollte. Ein Neuanfang, wie ihn die Verfasser der Stuttgarter Schulderklärung erhofften, ist möglich allein aus Gnade: „Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit,“ – so formulierten sie – „dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.“

Ein Neuanfang in der Hoffnung, dass Gott die Kirche neu macht, dass Gott ihr vergibt, dass Gott ihr Vollmacht gibt. Woher nahmen die Bekennenden damals, und woher nehmen wir heute die Kühnheit zu dieser Hoffnung? Woher diesen Mut zum Neuanfang? Wie kommen wir darauf, mit in die Worte des Psalmbeters einstimmen zu dürfen: „Hoffe Israel auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm“?

Für mich liegt die Antwort im heutigen Predigttext aus dem Epheserbrief, im 4. Kapitel: „Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

Den alten Menschen ablegen, das bedeutet einen Neuanfang. Aber ganz bestimmt nicht einen Neuanfang, der einfach „hinter sich lassen“ bedeutet. Es gab 1945 viele – und es gibt sie bis heute – die das Vergangene einfach abhaken, endgültig hinter sich lassen wollten. „Es gibt keine deutsche Kollektivschuld“ – hieß es abwehrend damals. „Einmal muss doch Schluss sein, nach 75 Jahren muss es ein Ende haben mit der Rede von der Schuld.“ – heißt es heute.

Ich habe Anfang August dieses Jahres trotz der Corona-Krise eine Reise nach Auschwitz/Birkenau unternehmen dürfen. Gemeinsam mit Irmgard Schwaetzer, Josef Schuster und Romani Rose. Mir war diese Reise schon lange ein Bedürfnis. Ich wollte diesen Ort sehen, der allein schon mit seinem Namen zum Symbol des nationalsozialistischen Schreckens und Grauens geworden ist. Es waren tiefe Eindrücke, die uns allen zugesetzt haben. Denn dort, an diesem Ort des millionenfachen Leidens und Sterbens, scheinen die 75 Jahre erst gestern gewesen. Der Ort überträgt das Unfassbare, was dort geschehen ist - die Tränen, das Flehen, das Rufen, die Verzweiflung, das Blut, das zum Himmel schreit - bis ins Heute. Und zugleich zeugt der ganze Ort von der Unmenschlichkeit der Täter und Täterinnen. Es war eine Geste der Großzügigkeit und Freundschaft, dass Josef Schuster und seine Frau und Romani Rose uns begleiteten. Gemeinsam mit uns an diesem Ort waren, gemeinsam mit uns trauerten und beteten.

Und wir haben alle gespürt: 75 Jahre sind angesichts dieser Vergangenheit, dieser Taten, gar nichts, ein Windhauch nur. Die Frage, ob es noch immer an der Zeit ist, dieses Gedenken aufrechtzuerhalten, stellt sich nicht. Die Erinnerung an die Schuld, die Einsicht in die große Verantwortung, gehört seit 1945 in die DNA der Evangelischen Kirche. Eine Evangelische Kirche ohne Stuttgart 1945 kann es in Deutschland nicht geben. Und eine Erinnerung an das Stuttgarter Schuldbekenntnis kann es nicht geben, ohne seine Defizite zu benennen, allen voran das Fehlen einer expliziten Benennung der Schuld an den Juden.

Dass schon die maßvollen Äußerungen des Stuttgarter Schuldbekenntnisses einen Proteststurm in Deutschland, auch in den Kirchen, hervorriefen, zeigt, wie schwer es den Deutschen fiel, die Schuld wirklich anzuerkennen. Oft genug mit dem Hinweis, auch die anderen müssten ihren Schuldanteil benennen. „Ein Tropfen Schuldbekenntnis von der anderen Seite ist uns lieber als ein Ozean Sympathie.“ Diesen Satz konnte ein hoch respektierter Mann wie der Theologe Helmut Thielicke in seiner kritischen Reaktion auf das Stuttgarter Schuldbekenntnis damals sagen.

„Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel... Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ – sagt der Epheserbrief. Der Weg vom alten Menschen weg führt vom Anerkennen der Schuld über die Erfahrung der Vergebung hin zu einem Neuwerden.

Von den 5 Gegenüberstellungen, die Paulus in seiner Ermahnung nutzt, das finde ich bemerkenswert und so aktuell, geht es in mindestens dreien um Worte, die wir miteinander wechseln. Worte, mit denen wir diffamieren, beleidigen, drohen, unseren Zorn zum Ausdruck bringen, lästern, klein machen, böse Gerüchte in die Welt setzen, Fake News verbreiten, quälen, uns anschreien.

Worte können dem Teufel die Tür öffnen!

„Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen […]. Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Das hat Victor Klemperer formuliert, als er die Sprache des „Dritten Reiches“ analysierte.

Vom Wort zur Tat ist es oft nur noch ein kleiner Schritt. „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“, so hat es der Auschwitz-Überlebende Marian Turski, dem wir in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz digital begegnet sind, gesagt. Es fängt mit Worten an. Mit der Art, wie wir miteinander, übereinander, gegeneinander reden! Deswegen ist es so wichtig, sich heute mit Entschiedenheit denjenigen entgegenzustellen, die Worte wieder salonfähig zu machen versuchen, die vor 75 Jahren in millionenfachen Mord gemündet haben.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, sagt Jesus. An unseren Worten wird man uns erkennen. Dazu gehört zum einen, wie wir selbst untereinander kommunizieren und in Beziehung stehen. Ist die Anrede Schwestern und Brüder, die ich für diese Predigt bewusst gewählt habe, nur eine Formsache, oder steht für uns mehr dahinter? Einander als Schwestern und Brüder zu erkennen und auch so miteinander umzugehen, macht einen Unterschied weit über uns selbst hinaus. „Ändert euren Geist und Sinn“, sagt der Epheserbrief. Es sind nicht nur Verhaltensänderungen. Es ist eine tief in der Seele verwurzelte Haltung. Eine Haltung, die aus der Liebe lebt, die Gott in unsere Seele legt. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

So miteinander umzugehen, ist nicht nur etwas Persönliches. Es ist in hohem Maße auch etwas Politisches. Wann könnte das deutlicher sein als in Zeiten unwürdiger TV-Duelle, in denen die Beleidigung und Herabsetzung zur bewussten Strategie wird. In Zeiten von Kommunikation in den sozialen Medien, in denen man sich an das Ausschütten von Kübeln von Hass fast schon zu gewöhnen droht.

Menschenfreundlichkeit kommunizieren, aufbauen, wahrhaftig sein und gerecht. Versöhnung und Vergebung predigen, die Zivilgesellschaft zusammenbringen, und nicht trennen. Wir brauchen heute so dringend Orte und Gemeinschaften. In denen es zur DNA gehört, anders miteinander umzugehen. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

Liebe Schwestern und Brüder, lasst uns der Welt dieses Zeugnis geben und darin Salz der Erde und Licht der Welt sein! Lasst uns Raum geben für Gottes Geist. Lasst uns dankbar antworten auf die Gnade und Barmherzigkeit, die Gott uns und unserem Volk nach der Kumpanei mit der Barbarei hat widerfahren lassen.

Gott hat sich nicht zurückgezogen. Auschwitz ist das Sinnbild für Barbarei und Unmenschlichkeit, die uns vor Augen stellt, dass es auch heute noachitische Situationen auf der Welt geben kann, die die Sintflut verdient hätten. Doch Gott hat sich festgelegt und den Regenbogen als Zeichen dafür in den Himmel gesetzt. Dem millionenfachen Mord, all dem Schweigen und der Mutlosigkeit, all der Bequemlichkeit und der Ohnmacht zum Trotz, hat er seinen Bund mit der Welt und der Menschheit gehalten. Er hat uns nicht den Rücken gekehrt, er hat seinen Geist nicht von uns genommen – nach 1945 und auch heute nicht. Aus seiner Versöhnung leben wir. 75 Jahre nach der Stuttgarter Schulderklärung ist die Schuld nicht vergessen. Doch es ist etwas Neues geworden. Durch Gottes Gnade. Und durch menschliche Versöhnungsbereitschaft.

„Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“

Gott gebe uns die Kraft dazu!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.