Predigt zur Eröffnung der 40. Interkulturellen Woche im Hohen Dom zu Mainz

EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Schwestern und Brüder,

erinnern Sie sich, welcher Bibelvers als Jahreslosung über diesem nun bald zehn Monate alten Jahr steht? Das ist ja eine gute ökumenische Tradition, dass die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen Jahr für Jahr ein gemeinsames Wort aus der Heiligen Schrift auswählt, das uns dann ein ganzes Jahr hindurch als eine Art Leitwort begleitet. Es ist in diesem Jahr der Satz aus dem Brief des Paulus an die christliche Gemeinde in Rom im 15. Kapitel (Vers 7), der auch über der Einladung zu diesem Gottesdienst steht: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Ich bin mir ziemlich sicher: Weder vor vier Jahren, als die Jahreslosung ausgewählt wurde, noch zu Beginn des Jahres, als wir sie ganz bewusst als geistliches Wort für das Jahr wahrgenommen haben –hätte irgendjemand gedacht, wie aktuell dieser Satz werden würde! „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“

Ursprünglich hat Paulus das nach Rom geschrieben, an die Mitglieder der dortigen christlichen Gemeinde, in der sich ja Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen zusammengefunden haben, zum Teil mit jüdischem und zum Teil mit hellenistischem Hintergrund. „Nehmt einander an“, das ist der Appell, als lebendige Gemeinschaft einander gegenseitig zu akzeptieren in der ganzen Unterschiedlichkeit der jeweiligen Herkunft und der jeweiligen kulturellen Prägung. Verbunden in dem Vertrauen in Jesus von Nazareth, den Gottessohn. Verbunden in dem Glauben, dass mit seinem gewaltsamen Tod am Kreuz nicht das letzte Wort gesprochen war, dass der Gekreuzigte auferstanden war!

Wir heute hören dieses Wort in einer ganz anderen Situation. Und doch spricht es gerade in dieser Situation zu uns ganz unmittelbar. Deutschland nimmt derzeit in großen Zahlen Flüchtlinge auf. Bewegend waren die Bilder von ankommenden Menschen, die nach einer wahren Odyssee durch Europa mit offenen Armen und Applaus begrüßt wurden. Ich selbst war ja zusammen mit Kardinal Marx am Münchener Hauptbahnhof und wir haben ein helles Deutschland erlebt, das nicht gefragt hat, woher einer kam, welche Sprache er sprach oder welcher Religion er angehörte, auch nicht, ob er würde bleiben können. Sondern wir haben ein Deutschland erlebt, das die, die kamen, einfach angenommen hat, sie willkommen geheißen hat und sie als das behandelt hat, was sie zuallererst waren: als Menschen!

Viele dieser Menschen, die da ankamen und die auch jetzt noch ankommen, haben Schreckliches erlebt. Ob in Syrien oder Eritrea, im Nordirak, Somalia, Libyen oder auf der Flucht. Ihre Gründe sind so zahlreich wie die Konflikte, aus denen sie geflohen sind. „Nehmt einander an“ – das kann man in dieser Situation nicht anders hören als wie einen biblischen Appell zur humanitären Hilfe.

Diejenigen, die in diesen Tagen viel Kraft aufwenden, um Flüchtlinge würdig zu empfangen und dann zu begleiten, wissen genau, warum sie das tun. Die Kusshand, die das kleine Mädchen, das am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug steigt, den Umstehenden zuwirft, ist die stärkste Vergewisserung. Aber auch das Bild eines strahlenden Jungen mit einer Polizeimütze auf dem Kopf und daneben der junge Polizist, der sie ihm aufgesetzt hat und genauso strahlt. Die Uniform - in dem Herkunftsland vielleicht Symbol für staatlichen Terror und Unterdrückung. Im Ankunftsland - Ausdruck der Verpflichtung der staatlichen Gewalt auf die Humanität. Einer Humanität, für die sich niemand entschuldigen muss, sondern die die besten moralischen Traditionen repräsentiert, die ein Land haben kann.

Dass Menschen in Not jetzt bei ihrer Ankunft die deutsche Polizei tatsächlich als ersten „Freund und Helfer“ erleben, könnte unser Land auch im Inneren verändern und so manches vorschnelle Urteil überwinden. In diesen Tagen geht eine Kinderzeichnung aus einer Halle in Passau, in der Flüchtlinge auf ihre Registrierung warteten, durch die sozialen Netzwerke. Ein Junge mit Namen Mohammed zeichnet auf der linken Seite des Bildes den Krieg: die syrische Flagge, blutige Menschen und abgetrennte Körperteile. Auf der rechten Seite sind Menschen mit Reisetaschen zu sehen, die auf ein Haus zugehen. Und drei Herzen. In ein Herz ist die deutsche Fahne gemalt. Und in die beiden anderen nur ein Wort: „Polizi“. Polizei. Einen schöneren Dank kann es nicht geben für die Polizisten und Einsatzkräfte, die wie die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer mitgeholfen haben, dass wir bisher mit den großen Flüchtlingszahlen am Ende doch zurecht gekommen sind.

„Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat“ – das ist nicht nur Orientierung für die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen, sondern das kann auch zum Signum einer Sozialkultur und zum Kennzeichen einer staatlichen Aufgabenbestimmung werden, die sich ganz an der Würde des Menschen orientiert.

Denn die Menschenwürde verbindet uns alle. Ob als Einheimische oder Zugewanderte, Menschen mit Migrationsgeschichte oder Alteingesessene, Neuzugezogene und Flüchtlinge auf der Durchreise – uns alle verbindet: dass wir Menschen sind mit einer Würde, die niemand uns nehmen kann.

Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat – dieser Satz bekommt seine ganze Kraft durch ein Charakteristikum unseres christlichen Glaubens, das wir manchmal viel zu schnell als dogmatische Wahrheit einfach so hersagen, das aber in Wirklichkeit ein revolutionäre Bedeutung hat, ja, alles anders macht: Gott ist in Christus Mensch geworden. Das ist eben nicht zuallererst eine dogmatische Wahrheit. Sondern es ist eine Revolution für unser Zusammenleben! Wenn es wirklich stimmt, dass unser Herr und Heiland, der, von dem unsere ganze Lebenskraft kommt, uns im anderen Menschen begegnet, uns in dem Geringsten begegnet, wenn das wirklich stimmt, dann kann niemand sich auf eine christliche Kultur, auf ein christliches Europa berufen, der nicht zugleich mit Empathie den Menschen begegnet, die Christi Antlitz tragen. Und auch politische Regeln, so schwierig sie in der gegenwärtigen Situation zu finden sind, müssen sich diesem Maßstab stellen.

Und noch etwas: unsere Glaubwürdigkeit als Christen, und man kann ruhig auch sagen: unsere missionarische Ausstrahlung, hängt daran, dass wir Menschen in Not begegnen, ohne sie nach ihrer Religionszugehörigkeit zu beurteilen. Die gottgegebene unveräußerliche Menschenwürde gilt allen. Es ist keine spezielle Christenwürde, sondern die Würde aller Menschen, die uns aus der Bibel als kostbares Gut entgegenstrahlt und die es zu bewahren gilt – bei allen Herausforderungen, die sich derzeit stellen.

„Nehmt einander an“, dieser Appell ist nicht vereinbar mit religiöser oder anderer Intoleranz. Er wird umso dringlicher in einer Zeit, in der die Zahl von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte ständig steigt und in der sich Manche Sorgen machen, dass die überwältigende Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung kippen könnte. Wir müssen als Christinnen und Christen Flagge zeigen, wenn Rechtspopulisten oder Rechtsradikale Stimmung machen und die Ängste der Menschen nicht konstruktiv aufnehmen, sondern bewusst weiter schüren, wenn sie menschliche Kälte, ja Menschenfeindlichkeit verbreiten und daraus politisches Kapital zu schlagen versuchen. Da müssen wir Flagge zeigen! Genau das tun wir mit der interkulturellen Woche! Nicht Ausgrenzung und Abschottung ist das Ziel, sondern Integration. Das Einüben eines Zusammenlebens, das auf der Basis klarer menschenrechtlicher Grundorientierungen die Verschiedenheit jedenfalls aushält, vielleicht sogar als Reichtum erkennt.

Das haben EKD, Deutsche Bischofskonferenz und die Griechisch-orthodoxe Metropolie in Deutschland schon vor langer Zeit als Zielmarke vor Augen gehabt. So wird bereits seit 40 Jahren in Deutschland die Interkulturelle Woche begangen und seit 1986 auch der „Tag des Flüchtlings“ in diesem Rahmen besonders gewürdigt. Angesichts der aktuellen Entwicklungen wird diese Initiative vermutlich immer wichtiger werden. Denn mit ihren über 5.000 Veranstaltungen und unzähligen Ehrenamtlichen leistet die interkulturelle Woche einen enormen Beitrag zur Integration von Menschen.

Vielleicht ist das Motto der diesjährigen Woche so etwas wie die Zusammenfassung der 40- jährigen Erfahrungen: Vielfalt ist tatsächlich das Beste gegen Einfalt. Und diese Vielfalt kann man wahrlich erleben in der Interkulturellen Woche: Ob bei Kochkursen oder Leseabenden, Gottesdiensten und interreligiösen Feiern, Ausflügen, Vorträgen oder bei Fußballturnieren. „Alles wahre Leben ist Begegnung“ hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber in seinem berühmten Werk „Ich und du“ geschrieben. Begegnung von Menschen, die mehr voneinander erfahren, unmittelbar und nicht allein durch Medien, Vorurteile und Ressentiments. Wer sich wirklich begegnet und sich in die Augen schaut, wird feststellen, dass das fremde Gegenüber vielleicht gar nicht so fremd ist, sondern ähnliche Bedürfnisse, Sorgen und Hoffnungen hegt. Nicht selten sind durch solche Begegnungen Freundschaften fürs Leben entstanden.

Nach 40 Jahren können wir auch als Trägerkirchen nur glücklich sein über die Entwicklung der Interkulturellen Woche. Sie ist ein wichtiges Instrument und wirkt tief hinein in die Einwanderungsgesellschaft. Dass diese Initiative 1975 einmal durch einen Akt ökumenischer Freundschaft von der evangelischen, der römisch-katholischen und der griechisch- orthodoxen Kirche ins Leben gerufen wurde, ist für ihre Bedeutung heute nicht mehr ganz so wichtig - und das ist ein gutes Zeichen. Denn sie erreicht wirklich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und kultureller Prägung.

Die Herausforderungen für diese Arbeit sind heute größer denn je: Denn in Zeiten, in denen islamische Fundamentalisten junge Leute zu menschenfeindlichen und manchmal sogar mörderischen Aktivitäten zu verführen suchen, muss klar sein: Integration kann nur auf der Basis der menschenrechtlichen Grundorientierungen gelingen, für die unsere Verfassung steht. Was wir nicht annehmen können, sind die Unterdrückung oder Entwürdigung von Frauen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, religiöser Fanatismus oder totalitäre Gemeinschaftsstrukturen, die das Individuum missachten. Genau darin sind sich Rechtsradikale und Islamisten ja einig: die Würde des Menschen soll nur für einige gelten. „Nehmt einander an!“ Wie anders ist da dieser Ruf! Einander annehmen, mit allen Unterschieden und auch Differenzen, gerade weil wir alle Menschen sind, mit Nöten und Hoffnungen und dem wohl universalen Bedürfnis nach Geborgenheit. Nehmt einander an, ja seht einander in die Augen, mit offenem Visier – ganz so wie Christus auf Menschen zugegangen ist. Egal ob jüdisch oder griechisch, egal ob Frau oder Mann, verheiratet oder alleinstehend, ob anerkannter Schriftgelehrter oder korrupter Behördenvertreter. Christus hat sie angenommen. Und die Begegnung mit ihm hat viele nachhaltig verändert.

Diese Christusenergie, die Menschen so nachhaltig verändert, die Menschen neu macht, die Menschen zu Menschen macht, auf die wollen wir hoffen. Und wo es uns gegeben ist, wollen wir sie ausstrahlen. Mach’s wie Gott, werde Mensch! Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat! Auf diesen Ruf wollen wir hören.

Die religiösen Überzeugungen, die die Menschen bei der interkulturellen Woche zusammenführen werden, sind unterschiedlich. Wir Christen jedenfalls wissen, wozu wir gerufen sind. Andere lassen sich von ihren Überzeugungen her zu Toleranz und Empathie rufen. Zusammen sind wir viele. Lasst uns alle miteinander zusammenhelfen, dass Integration gelingt!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN