Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung

3. Das Ökologieproblem als ethische Herausforderung

  1. Da die tiefgreifende Umweltkrise nicht ein blindes Geschick, nicht eine Naturkatastrophe wie einst die Eiszeiten ist, sondern am Versagen des Menschen liegt, ist die Frage unausweichlich: An welchen Normen muß sich der Mensch orientieren, um sich der Verantwortung für das Leben und Überleben der Menschheit und für die Wahrung seines natürlichen Lebensraumes Erde in allem Ernst zu stellen? Diese dringliche Frage der heutigen Menschheit, inbesondere der Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, richtet sich an die Adresse der Ethik. Seit alters her sehen es Christentum und Kirche als ihre ureigene Pflicht an, ethische Normen mit zu erschließen, die nicht allein gläubigen Christen, vielmehr jedem Menschen in ihrer Plausibilität einleuchten können und so einen breiten Konsens über die Grenzen der Weltanschauungen hinweg ermöglichen.

3.1 Die ethischen Schlüsselfragen nach verantwortlichem Handeln

3.1.1 Wer ist verantwortlich?

  1. Die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung, dem Verantwortungsträger, ist eine Schlüsselfrage für die Erhaltung der Erde und des Lebens. Zumeist haben wir es mit komplexen Entwicklungen und schwer durchschaubaren Ursachenzusammenhängen zu tun, mit einer Vielzahl von verursachenden Faktoren, die noch dazu nicht allesamt in der Gegenwart zu suchen sind. Die Schwierigkeiten, den jeweiligen Verantwortungsträger eindeutig zu identifizieren, sind meist groß. Verantwortung trägt jeder, der Verursacher bzw. Mitverursacher von Wirkungen und Schäden ist. Er hat die Verpflichtung, für vernünftige Eraltung, Sachwaltung und Fürsorge einzutreten.
  2. Die Frage nach der Verantwortlichkeit geht über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung hinaus. Verantwortung ist stets personale Verantwortung des mündigen Subjekts. Sie bedeutet die Pflicht zu einem richtigen Handeln, für das Rechenschaft abzulegen ist. Obwohl es eine Verflochtenheit der Verantwortungszusammenhänge gibt und durchaus auch ein gemeinsames Schuldigwerden, nimmt die Verantortung dennoch immer den einzelnen in die Pflicht und fordert von ihm Rechenschaft. Sie betrifft den Amtsträger und Einflußreichen in besonderem Maße. Sie betrifft den mündigen Bürger in seinem privaten Lebensbereich ebenso wie in seinen Möglichkeiten politischer Beeiligung. Verantwortung ist deshalb mehr als nur Zuständigkeit oder "Haftung". Ihr Anspruch betrifft den einzelnen in seinem Gewissen und seiner Lebensführung.

3.1.2 Wofür sind wir verantwortlich?

  1. Der heutigen Menschheit ist eine ungleich größere Verantwortung aufgetragen als früheren Generationen. Dies ist schon an der Bilanz der aufgetretenen und der drohenden Schäden für unsere Lebenswelt abzulesen. Das neue Wort Ökologie bezeichnet die umfassende Aufgabe: Wie kann die Erde ein "Haus" (das griechische Wort oikos bedeutet Haus) bleiben und werden, in dem alle heute und morgen lebenden Menschen ihrer Würde entsprechend wohnen können? Mehr noch: Dieser Auftrag schließt. auch die Sorge um die Tier- und Pflanzenwelt sowie die anorganische Natur ein, die es nicht nur in ihrem unmittelbaren Nutzen für Leben und Gesundheit des Menschen zu erhalten gilt, sondern auch in ihrem Artenreichtum und ihrer Schönheit.
  2. Dieser umfassenden Sorge muß sich die heutige Menschheit stellen. Das beinhaltet eine neue Qualität von Verantwortung, die alles Bisherige übersteigt. Weil allein der Mensch inmitten aller Weltwesen in der Lage ist, für die Sicherung der Zukunft Sorge zu tragen, hat er auch die Pflicht dazu. Die Menschheit muß ihr Tun, das tiefer und langfristiger als früher in das Naturgeschehen eingreift, wie auch ihr Unterlassen, das folgenschwerere Versäumnisse als früher nach sich zieht, verantworten. Gewisse Belastungen und Belastungsrisiken werden sich zwar nie völlig vermeiden lassen; sie müssen auch weiterhin in Kauf genommen und verantwortet werden. Es verbietet sich jedoch die Selbstüberforderung mit einem Übermaß an Verantwortung, das heißt die allzu rasche Bereitschaft Verantwortung für Wirkungen zu übernehmen, die die Erde über iahrtausende hin belasten können.

3.1.3 Wofür sind wir verantwortlich?

  1. Wem schuldet der Mensch Verantwortung? Vor welcher Instanz hat er sich zu rechtfertigen? Wo diese Frage ausgeblendet wird, versteht sich der Mensch als auf sich gestelltes Subjekt, das niemandem Rechenschaft schuldig ist und seine Interessen gegen die Mitmenschen, die Nachwelt und die Umwelt selbstsüchtig durchsetzen darf Nicht selten werden ökologische Schicksalsfragen (Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre) lediglich an der Zumutbarkeit der Folgen von Umweltbelastungen für den Verursacher gemessen und die Frage einer Verantwortung vor einer übergeordneten Instanz außer acht gelassen. Wo der Mensch jedoch allein auf seinen kurzfristigen Vorteil bedacht ist, handelt er unverantwortlich und deshalb unmenschlich.
  2. Wenn wir Christen davon sprechen, daß der Mensch nicht nur für Natur und Umwelt verantwortlich ist, sondern für die Schöpfung und vor dem Schöpfer, so treffen wir hier eine Glaubensaussage, die zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen unterscheidet. Der Mensch ist selbst Teil der Schöpfung, seine Verfügungsgewalt ist begrenzt, die Schöpfung ist ihm nicht zur beliebigen Verwertung, Ausbeutung und Ausnutzung überlassen. Er trägt vielmehr Verantwortung für die Mitgeschöpfe, für Tiere, Pflanzen und die leblose Natur in einem Leben, das er vor Gott führt.

3.2 Ethische Orientierung für ökologisches Handeln

  1. Beim Wahrnehmen der Verantwortung für Natur und Umwelt darf sich der Mensch nicht allein an seinen eigenen Interessen orientieren, auch nicht allein an dem, was er technisch machen kann. Er muß sich vielmehr darauf besinnen, was er als sittliches Subjekt tun darf und tun soll. Die heutigen ungeheuren Möglichkeiten, die Reichweite menschlichen Handelns und damit menschlicher Verantwortung ins Unfaßbare zu erweitern, legen dem Menschen neue Pflichten und neue Verantwortung auf. Welche grundlegenden ethischen Orientierungen lassen sich für eine ökologische Ethik gewinnen und benennen?

3.2.1 Ehrfurcht vor dem Leben

  1. Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die Ehrfurcht vor dem Leben setzt voraus, daß Leben ein Wert ist und daß es darum eine sittliche Aufgabe ist, diesen Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt zu tragen. Dies erfordert Rücksicht, Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle. Der Maßstab "Ehrfurcht vor dem Leben" enthält ein Moment unbedingter Beanspruhung und Verpflichtung, ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs der Macht, das den Menschen zurückhalten soll, diese Macht zur Selbstvernichtung zu mißbrauchen. Die Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschen und das Schaudern und Zurückschrecken vor dem, was aus dem Menschen und seiner Umwelt werden könnte und was uns als denkbare Möglichkeit der Zukunft vor Augen steht, enthüllt uns das Leben als etwas "Heiliges", das zu achten und vor Verletzungen zu schützen ist.
  2. Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine "Ehrfurcht vor dem Gegebenen" mit ein, sie weckt Wertebewußtsein und Schadenseinsicht. Diese Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlichkeit der Schöpfung und Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinn auf die "unbelebte" Natur mit ihren Lebenselementen (Wasser, Boden, Luft) und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum. Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hirten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten.

3.2.2 Vorausschauende Gefahrenabschätzung

  1. Die Tugend der Klugheit im Sinne der klassischen „Besonnenheit" (lat. prudentia) gebrauchte die Menschheit, um die Folgen ihres Tuns abzuschätzen und in Konfliktfällen das geringere Übel zu wählen. Weil wir heute Folgen besser voraussehen können als frühere Generationen, ist unsere Verantwortung gewachsen. Unsere Klugheit muß weitsichtiger sein. Dies gilt besonders für langfristige und unumkehrbare Wirkungen. Weil die heute möglichen und erforderlichen Eingriffe aber tiefer in das Gefüge der Umwelt eingreifen, sind Neben- und Folgewirkungen weniger absehbar als zu früheren Zeiten. Unsere Klugheit muß deshalb auch vorsichtiger sein. Ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs seiner Macht müßte den Menschen die Furcht lehren, in naiver Unvorsichtigkeit zerstörerische Folgen seines Handelns zu übersehen. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf jegliches Risiko, wohl aber die Einschränkung und Verteilung möglicher Risiken. Im Zweifelsfall ist daher eher nach der Überlegung zu handeln, ein gewagtes Unternehmen könne mißlingen, als nach der gegenteiligen Überlegung, es werde schon alles gut gehen.
  2. Konkret bedeutet dies: Eingriffe in den Haushalt der Natur sind möglichst sparsam und begrenzt vorzunehmen, selbst wenn unmittelbare Nachteile nicht voraussehbar sind. Dieses Verhalten ist auch deswegen vernünftig, weil es der Natur möglichst viel Spielraum für selbstheilende Eigenkräfte läßt. Die Eigengesetzlichkeiten der Natur haben sich als flexibler und erfinderischer erwiesen als die Fremdsteuerung durch Mechanismen, die menschliche Erfindungskraft und Technik hervorgebracht haben.

3.2.3 Abwägungen von Schaden und Nutzen

  1. Kurzfristige ökonomische und technische Interessen und langfristige Interessen der Erhaltung von Natur und Umwelt sowie Belange des Überlebens der Menschheit können in Kollision geraten. In diesem Fall ist das langfristige Interesse gerade dann einer besonderen ethischen und gesellschaftlichen Unterstützung bedürftig, wenn kurzfristiger Nutzen langfristige Schäden verursacht. In solchen Konfliktlagen bewährt sich ethische Verantwortung. Eine Abwägung zwischen kurzfristigen und langfristigen Schäden, zwischen Schäden und Nutzen sowie Wertvorzugsüberlegungen (Prioritätensetzungen) sind möglich und notwendig. Fragen der Umkehrbarkeit und der Regenerierbarkeit von Naturgütern sind ebenso mit zu bedenken wie die Interessen der heutigen und der künftigen Generationen.
  2. Drei Vorzugsregeln lassen sich formulieren, die eine allgemeine Evidenz unabhängig vom christlichen Glauben beanspruchen:
    • Es ist sittlich verwerflich, die Umwelt so zu verändern, daß dadurch heute oder zukünftig lebende Menschen klar voraussehbar Schäden erleiden. Wenn freilich nur die Wahl zwischen zwei Übeln besteht, muß das geringere Übel dem größeren Übel vorgezogen werden. Schäden können nur dann in Kauf genommen werden, wenn dies das einzige Mittel ist, um von heute oder zukünftig lebenden Menschen noch größeren Schaden abzuwenden.
    • Die Umwelt darf zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse herangezogen werden, solange Nachteile und Schäden für Mensch und Natur nicht größer sind als der Nutzen aus dem Gebrauch der Naturgüter und solange dabei der Fortbestand der Menschheit garantiert bleibt.
    • Die Umwelt ist mit aktiven und notfalls einschneidenden Maßnahmen zu erhalten und zu schützen, solange dadurch nicht gegenwärtig oder zukünftig lebenden Menschen schwerer Schaden zugefügt wird.
  3. Im konkreten Einzelfall wird ethisches Abwägen des Für und Wider durchaus strittig sein. Schwierigkeiten zeigten sich auch bei der Festlegung der Grenzen des Zumutbaren und bei der Frage, welche Rücksichten jeweils auf die Belastbarkeit der Umwelt zu nehmen sind. Entscheidend freilich ist, daß die Ansprüche derer, die sich nicht zu Wort melden können, weitsichtig und gerecht berücksichtigt werden.
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