Das Dilemma mit der Organisationsform der Kirche

Vortrag von Armin Nassehi zum Zukunftsforum 2020

Kann Kirche Kirche bleiben, wenn sie sich wirklich auf die Gesellschaft einstellt, wenn sie das religiöse Bedürfnis der Gesellschaft, das immer weniger an organisierte Kirchlichkeit gebunden ist, bedient? Wäre dieser Erfolg das Ende ihrer Organisierbarkeit? 

©Foto:

Ihre Cookie-Einstellungen verbieten das Laden dieses Videos

In seinem Vortrag beim Zukunftsforum 2020 erinnert Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität München, an die starke Volatilität von Lebensformen, die unsere Gesellschaft heute prägt. Die Kirchen sind Kontinuitätsgeneratoren von Lebensformen gewesen.

Nassehi sieht die 11 Leitsätze der EKD als Reaktion auf diese Nicht-Passung zwischen Kirche und Gesellschaft. Sie zeigen, für Nassehi auf eine erwartbare Form, wie Gesellschaft von Kirche imaginiert wird. Der stärkste Veränderungsdruck, den es in Organisationen gibt, besteht darin, dass von außen gewissermaßen die wichtigsten Wechselwirkungsprozesse – hier die Mitgliedschaft und das Geld – in Frage gestellt werden.

Die Leitsätze imaginieren wiederum Kirche als eine Organisation, die von Frömmigkeit redet, am Ende aber zunächst sicherstellen muss, überhaupt der „Traditionsspeicher“ dessen zu sein, was die religiöse Form einer christlichen und hier evangelisch geformten Form von Kirchlichkeit und Religiosität ausmacht. Auch rechnen die Leitsätze, so Nassehi, damit, dass man mit der Kirche als missionierender Institution gar nicht mehr rechnet. Auch die Ökumene wird laut Nassehi heute gewissermaßen als eine Art Schutzmaßnahme gegen die Irrelevanz des Kirchlichen überhaupt gesehen.

Nassehi: Kirche kann die Gesellschaft nicht ändern

Nassehis Fazit: Kirche kann zwar zu bestimmten Themen, auch nicht-religiösen Themen in die Gesellschaft hineinwirken, aber sie kann, und hier nimmt Nassehi die Systemtheorie (Niklas Luhmann) zur Hilfe, die Gesellschaft nicht ändern. Das System „Kirche“ kann nur das System „Kirche“ innerhalb der Umwelt „Gesellschaft“ ändern.

Was also, so fragt Nassehi, kann Kirche als Organisation ändern, um das was sie tut, besser zu machen. Das Paradoxe dieser Fragestellung ist allerdings, dass Strukturveränderungen in Organisationen nicht direkt auf das zugreifen können, was sie eigentlich verändern wollen. Wie will die Organisation Kirche z.B. das Glaubensleben der Menschen stärken? Das Besondere an religiöser Kommunikationsform besteht doch darin, dass man mit großer Bestimmtheit auf die Unbestimmtheit des Lebens hinweisen kann.

Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Kirchlichen

Religiöse Kommunikation ist eine Form von Kommunikation, die in der Lage ist, Nicht-Bestimmbarkeit am Ende der wichtigen existenziellen Fragen des Lebens auf den Begriff zu bringen. Die Spannung von Kirchlichkeit bestand nun immer darin, zwischen der Bestimmtheit der Organisation und dem Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in der religiösen Praxis selbst eine Form zu finden, mit der man leben kann. Den meisten Menschen ist heute die Bestimmtheit des Kirchlichen zu groß.

Nur, wie kann die evangelische Kirche evangelische Kirche sein, wenn sie sich nicht in die evangelische Tradition stellen kann? Wenn das nicht mehr gegeben ist, dann hat die Kirche die Situation, dass die Menschen nach wie vor spirituelle Bedürfnisse haben, die Menschen aber nicht mehr auf das Material zurückgreifen können, das eigentlich die Identität der kirchlichen Organisation ausmacht.  Die Unorganisierbarkeit dessen, worum es eigentlich geht, setzt die Kirche in die paradoxe Situation, dass sie einerseits ein Materiallager für bestimmte Formen von Unbestimmtheit ist, gleichzeitig hat sie das Problem, dass sie ihre Identität verliert, wenn sie sich von diesem Material entfernt.