Gelobtes Land?

Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.

In der Bibel

2.1 Wie wir die Bibel lesen

Als evangelische Christinnen und Christen wissen wir uns der reformatorischen Überzeugung verpflichtet, dass die Bibel des Alten und Neuen Testaments Quelle und Richtschnur allen theologischen Nachdenkens und kirchlichen Handelns ist. Wir sind davon überzeugt, dass beide Teile unserer Heiligen Schrift einander „legitimieren“ (Gerhard von Rad). Im Alten und im Neuen Testament handelt derselbe Gott, der sich zugleich als „Gott für Israel“ und „Gott für die Welt“ erweist. Als Christen lesen wir einerseits das Alte Testament im Licht des Christusgeschehens. Wir wissen andererseits auch, dass wir das Neue Testament nur dann verstehen können, wenn wir es im Licht des Alten Testamentes lesen.

Dabei ist uns die Einsicht wichtig, dass das christliche „Alte Testament“ jüdisch gebräuchlich ist die Bezeichnung Tenach (Tora, Propheten, Schriften) zu den Heiligen Schriften des Judentums gehört. Die jüdische Auslegung der biblischen Texte bereichert deren Interpretation durch Christinnen und Christen.

Bei der Auslegung der Bibel lassen wir uns von der historischen Methode leiten, die den geschichtlichen Charakter der dort bezeugten Offenbarung ernst nimmt. Mit ihrer Hilfe kann der historische Sinn einzelner Texte verstanden und in den Zusammenhang eingeordnet werden.

Biblische Texte sind Deutung und Glaubensaussage; sie sind keine historisch objektiven Darstellungen im neuzeitlichen Sinn. Ziel jeder Auslegung biblischer Texte ist nach reformatorischer Überzeugung die Einweisung in die Gottesbegegnung in der Gegenwart.

2.2 Altes Testament

2.2.1 Ein Land viele Konzepte

In den Erzelternerzählungen, die in 1. Mose 12,1f. mit der Berufung Abrahams durch den Gott Israels beginnen, gehören die Segenszusage für die Nachkommenschaft und die Verheißung des Landes unmittelbar zusammen. In 1. Mose 21,27.32 (vgl. 14,13) wird von „Friedensschlüssen“ erzählt, die ein Miteinander der Erzeltern und der „Bewohner des Landes“ beschreiben (vgl. 1. Mose 26,28ff.); hier besteht eine Spannung zu 2. Mose 23,31-33 und 5. Mose 7, wo die Beseitigung der „Völker des Landes“ angekündigt und gefordert wird. In 1. Mose 14 sorgt Abraham für Sicherheit und Eigentum der Kanaanäer, nach 1. Mose 18 leistet er Fürbitte für die sündigen Menschen in der Stadt Sodom.

Für das Verständnis des „Landes“ als einer Gabe Gottes ist es konstitutiv, dass der Boden von den Menschen nicht „erworben“ wird, sondern dass das Volk Israel ihn als „Erbteil“ erhält und er damit Eigentum Gottes bleibt: „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir“ (3. Mose 25,23).

Die vor allem in 5. Buch Mose belegte Vorstellung vom Land als „Gabe Gottes“ verbindet sich dort mit der historischen Konstruktion einer „Landnahme“ (vgl. 5. Mose 7 [2. Mose 23,32] und das Buch Josua), die zur Vertreibung und Ausrottung der ursprünglichen Bewohner geführt habe. Zugleich wird das „Wohlergehen“ des Volkes Israel in dem von Gott gegebenen Land verbunden mit dem Gehorsam des Volkes gegenüber den Geboten Gottes; dementsprechend erklärt die deuteronomistische Theologie den Verlust des Landes mit dem Abweichen vom Weg mit dem Gott Israels (vgl. 2. Kön 17,6ff; 23,26f.). Auch Propheten sprechen davon, dass der Verlust des Landes eine Folge des Ungehorsams des Volkes gegen seinen Gott sei (vgl. Jes 1,7; Jer 5,19; Hes 11,16).

Die Rückführung der in der Diaspora Zerstreuten und das sichere Wohnen des Volkes Israel im Land (vgl. Jer 3,18; Hes 20,41 u.ä.) verbindet sich mit der durch die Propheten angekündigten Zukunft Gottes.

Der Prophet Jesaja (Jes 40-55 Deuterojesaja) spricht von der Rückkehr des Gottes Israels und von der Rückführung des Volkes zum Zion (Jes 40,9-11 u.ä.), der Prophet Hesekiel (Ezechiel) verbindet mit der Ankündigung eines neuen Exodus, also Auszugs, aus Babylonien in das Land den Gerichtsgedanken (u.a. Hes 20,33-44). Der Prophet Sacharja leidet um des Landes willen (Sach 1,12; 7,7), zugleich verheißt er die Heimkehr und die neue Gottesgemeinschaft im Land (Sach 8,7f.).

Die „landlose“ Wüstenzeit verklärt der Prophet Hosea zu einem Ideal, an das er seine Kritik an den ethischen Zuständen seiner Zeit knüpft:

„Ich aber bin der Herr, dein Gott, von Ägyptenland her, und du sollest keinen andern Gott kennen als mich und keinen Heiland als allein mich. Ich nahm mich ja deiner an in der Wüste, im dürren Lande.“ Und dann heißt es: „Aber als sie geweidet wurden, dass sie satt wurden und genug hatten, erhob sich ihr Herz; darum vergessen sie mich“ (Hos 13,4-6).

Manche Landverheißungen reflektieren die Beziehung zwischen Israeliten und den anderen Bewohnern des Landes, die es zu allen Zeiten gab. Einige spiegeln die Auseinandersetzung mit den übermächtigen Nachbarn, andere geben den Wunsch wieder, das Land zu beherrschen. Daneben gibt es auch die Vorstellung einer gewaltsamen Landnahme, in deren Zusammenhang die kanaanäischen Bewohner zu vertreiben oder mit dem Bann zu belegen sind, wie oben bereits erwähnt. In den spät entstandenen Chronik-Büchern wird das Bild einer ununterbrochenen Besiedelung des Landes seit den Tagen der Erzeltern entworfen.

Nach dem Tenach (s.o.) hat das Volk Israel das Land, in dem es wohnt, von Gott erhalten, um die Tora dort erfüllen zu können. Die Verschleppung des Volkes nach Babylon wird als (zeitweilige) Strafe Gottes verstanden, die mit der Rückkehr in das Land ihr Ende findet. Die in den alttestamentlichen Schriften ausgesprochenen (eschatologischen) Zukunftshoffnungen verbinden das endgültige Wohnen des Volks im Land und die Wiederherstellung Jerusalems mit der Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde (Jes 65,17). Daneben steht die Vorstellung, dass am Ende aller Zeit auch „die Völker“ „zum Zion“ wallfahren und zur Erkenntnis des Gottes Israels und zur Anerkennung seiner Tora kommen werden (Jes 2,1-5).

2.2.2 Das Land und seine Begrenzungen

Die Grenzen und Begrenzungen des Landes, das im Tenach mit ganz verschiedenen Begriffen bezeichnet wird, werden in der Bibel unterschiedlich bestimmt: Nach 5. Mose 1,7 liegt die Nordgrenze am Euphrat; für Jos 15,4.47; 1. Kön 8,65 ist die Südgrenze der „Bach Ägyptens“, oft als der Nil verstanden (wahrscheinlich aber das Wadi el-Arisch). Damit werden aber nicht historische Gegebenheiten genannt, sondern es wird ein Ideal beschrieben.

Die Formel „von Dan bis Beerscheba“ (Ri 20,1 u.ö.) beschreibt nach heutigem Stand der Forschung in etwa das israelitische Siedlungsgebiet der frühen Königszeit, ohne dass sich aber aus der Benennung eines nördlichen und eines südlichen Grenzpunktes ein konkret zu fassendes und abgegrenztes „Staatsgebiet“ ableiten ließe.

Manche Texte sprechen von der Zugehörigkeit auch östlich des Jordan gelegener Gebiete zu Israel (2. Sam 8,2.12; 1. Kön 4,13f.; Jos 1,12-14; 14,3); andere Texte dagegen sehen im Jordanfluss selbst und im Toten Meer die Ostgrenze (4. Mose 34,12 u.a.).

Wir sehen, dass die in der Bibel beschriebenen Grenzen nicht eindeutig sind; auch sind Gebiete, die heute zum Staatsgebiet Israels gehören, wie der südliche Negev und die Arawa-Ebene, nicht eingeschlossen. Und wir sehen, wie in der literarischen Tradition die Größe des Herrschaftsgebietes Davids stetig gesteigert worden ist. Die deuteronomistische Literatur hat den Umfang so umschrieben: „Von der Wüste bis zum Libanon und vom großen Euphratstrom bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang“ (Jos 1,4). Diese Ausdehnung hat zwar kein israelitisches Königtum auch nur annähernd erreicht, doch der hymnische Hofstil in Jerusalem rezitierte, je weiter vom Ereignis entfernt, desto überschwänglicher: „Und er [der König] wird herrschen von einem Meer zum anderen, vom Strom bis an die Enden der Erde“ (Ps 72,8).

2.3 Neues Testament

Der Gebrauch des Wortes „Erde, Land“ (griechisch: g) im Neuen Testament entspricht dem Gebrauch von erez, „Erde, Land“, im Alten Testament. Die Frage, ob g allgemein die „Erde“ oder aber spezifisch das „Land (Israel)“ bezeichnet, stellt sich vor allem angesichts von zwei Texten in der Bergpredigt der Seligpreisung in Mt 5,5 und der Vaterunser-Bitte in Mt 6,10.

Die Seligpreisung in Mt 5,5 wird in der Zürcher Bibel so übersetzt: „Selig die Gewaltlosen sie werden das Land erben“, während die Übersetzung der Luther-Bibel lautet: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Im Hintergrund von Mt 5,5 steht vermutlich die griechische Übersetzung (in der Septuaginta) von Ps 37,11: „Aber die Sanftmütigen werden das Land erben und sich an der Fülle des Friedens erfreuen.“

Sollte sich g hier auf „das Land (Israel)“ beziehen, ließe diese Seligpreisung das Interesse Jesu und vielleicht auch des Matthäusevangeliums am „Land Israel“ erkennen; im Taufbefehl Mt 28,18-20 spricht der auferstandene Christus aber von seiner Vollmacht über „Himmel und Erde (g)“, ohne dass „das Land“ in besonderer Weise im Blick ist.

Die zweite der Vaterunser-Bitten (Mt 6,10: „... wie im Himmel, so auf Erden“ ) ist ohne Parallele in Lk 11,2; sie wird also wohl nicht auf den irdischen Jesus zurückgehen. Ist gemeint, dass der Wille Gottes geschehen soll „im Himmel und im Land (Israel)“? Oder soll er geschehen „im Himmel und auf der Erde“, also in der überirdischen und in der irdischen Welt? Im Fall von Mt 6,10 spricht das Gegenüber von „Himmel“ und „Erde“ für die Annahme, dass g hier nicht ein bestimmtes „Land“ meint, sondern die von Gott geschaffene Erde.

In Joh 3,22 ist vom „Land Judäa“ die Rede, im Judasbrief vom „Land Ägypten“ (Jud 1,5); dabei wird dem Begriff „Land“ jedoch keine besondere theologische bzw. religiöse Bedeutung zugesprochen.

Der Hebräerbrief spricht in 11,8-10 von Kanaan als dem „Land der Verheißung“, aber das eigentliche Ziel ist für ihn die (himmlische) Stadt Jerusalem (vgl. 12,22).

Die Bezeichnung „Land Israel“ ist im Neuen Testament nur in Mt 2,19-21 belegt: Der „Engel des Herrn“ gibt dem mit seiner Familie nach Ägypten geflohenen Josef die Weisung, ins „Land Israel“ zu ziehen (2,20), und sie kommen ins „Land Israel“, nach Galiläa (V. 21). Hier geht es nicht vordergründig um „Geographie“: Das Volk Israel war beim Exodus aus Ägypten ins „gelobte Land“ gezogen, entsprechend wird nun Jesus als der Sohn Gottes aus Ägypten herausgerufen und kommt so in das „Land Israel“ (vgl. das „Erfüllungszitat“ aus Hos 11,1 in Mt 2,15b).

Im lukanischen Doppelwerk (Lukasevangelium und Apostelgeschichte) kommt der Stadt Jerusalem eine besondere, vor allem auch theologische Bedeutung zu. Das belegen die Kindheitsgeschichten Jesu, die sich ebenso wie die Ostererzählungen des Lukas auf Jerusalem konzentrieren. Die Apostelgeschichte insgesamt rückt Jerusalem in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Die Nennung des Begriffs „Land“ spielt zwar bei Lukas keine hervorgehobene Rolle, doch bettet er seine Erzählungen selbstverständlich in die „biblische Geographie“ ein. In Jerusalem wird Zacharias die Geburt seines Sohnes Johannes angekündigt; Maria und Josef machen sich zur Geburt Jesu eigens auf nach Bethlehem, der „Stadt Davids“ (Lk 2,4). Durchgängig nimmt Lukas auf Jerusalem als Ort des Tempels und Zentrum jüdischen Lebens Bezug (z.B. 2,22ff.; 2,41ff.; 13,33ff.; 19,41ff.; 21,20ff. u.ö.).

Hinter der Erzählung von den Emmausjüngern steht offensichtlich die Hoffnung auf eine messianische Befreiung von Volk und Land („Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ Lk 24,21a), wie sie auch in den Lobgesängen der Maria (Lk 1,46ff.) und des Zacharias (Lk 1,67ff.) erklingt.

Wie das lukanische Doppelwerk ist auch die Johannesoffenbarung nach der Zerstörung Jerusalems verfasst worden. Sie spricht in Offb 21,1 unter Aufnahme der prophetischen Ansage der kommenden Herrlichkeit Zions (Jes 60) und der neuen Schöpfung (Jes 65,17-25) von „dem neuen Himmel und der neuen Erde“, die am Ende aller Zeit erscheinen werden, und sie spricht vom „neuen Jerusalem“, das vom Himmel herabkommen wird (21,2.10). Dieses Jerusalem wird in 21,11-27 sehr konkret, zugleich aber ideal als ein glanzvoller Bau (etwas Überirdisches, ein „Würfel“ aus durchsichtigem Gold) beschrieben. Man kann fragen, ob hier der in manchen Texten der jüdischen Apokalyptik belegte Gedanke vorliegt, dass in der Endzeit das irdische Jerusalem wiederhergestellt werden wird.

Anders als in den Schriften des Alten Testaments haben also das Land, Landverheißung und „Landnahme“ im Neuen Testament keine herausragende theologische Bedeutung. Die jungen christlichen Gemeinden lebten in Ländern, die dem römischen Weltreich eingegliedert waren. Sie hatten andere Fragen. Sie versuchten Leben, Tod und Auferweckung Jesu zu erfassen und zu begreifen; sie waren mit den Problemen bei der Gründung der ersten Gemeinden beschäftigt und sie lebten in der Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Endes der Welt.

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