Gelobtes Land?

Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der EKD, der UEK und der VELKD, Gütersloh 2012, ISBN 978-3-579-05966-2, Preis 6,99 Euro. Bestellungen nur über den Buchhandel oder den Verlag.

8. Evangelisches Staatsverständnis und der Staat Israel

Die Frage nach unserem Verhältnis zum Staat Israel betrifft auch das Verständnis vom Staat überhaupt. Daher sind an dieser Stelle einige grundsätzliche Erwägungen zum evangelischen Staatsverständnis unverzichtbar. Ihnen voran geht eine Skizze zu Geschichte und Gegenwart des „Staates Israel“.

8.1 Israel als Staatswesen. Geschichte und Gegenwart

Die der biblischen Überlieferung zufolge mit David und Salomo einsetzende Geschichte Israels als eines Königreiches setzt sich in Gestalt des Nordreiches Israel und des Südreiches Juda fort. Das Nordreich Israel wird 722 v. Chr. durch die Assyrer vernichtet. Die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier setzt dem Königreich Juda im Jahr 586 v. Chr. sein endgültiges Ende. Auch wenn die Rückkehr aus dem babylonischen Exil nicht zur Gründung eines selbstständigen Staates führt, kann das jüdische Gemeinwesen zunächst unter persischer Herrschaft seine religiösen und inneren Angelegenheiten im Wesentlichen selbst regeln. Esra 7,12 und 2. Makk 11,24-25 weisen darauf hin, dass die Tora von nichtjüdischen Souveränen als das für Juden im Land Israel verbindliche Gesetz verstanden wird. Ungeachtet kurzer Phasen politischer Autonomie, beispielsweise zur Zeit der Makkabäer, während der Herrschaft des vom Rom eingesetzten Königs Herodes d.J. (37-4 v. Chr.) oder im Zusammenhang der zwei großen jüdischen Aufstände gegen die römische Fremdherrschaft (66-73 und 132-135 n.Chr.) war die jüdische Gemeinschaft im Land Israel über Jahrhunderte immer neu unterschiedlichen Formen von Fremdherrschaft unterworfen.

Außerhalb des Landes Israel sind in nachchristlicher Zeit nur zwei Beispiele jüdischer Staatsbildung bekannt. Diese beiden „jüdischen Staaten“ wurden von zum Judentum konvertierten Stämmen getragen: das vom 4. bis zum 6. Jahrhundert etwa 150 Jahre bestehende Himjar-Reich in Südarabien, das aus rabbinischer Sicht allerdings wohl der Heterodoxie verdächtig war, und das Khaganat der Chazaren am nördlichen Kaukasus zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, das nach Jehuda Ha-Levi als „jüdischer Staat“ vom 8. Jahrhundert möglicherweise bis in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts bestand.

Auch deshalb sieht sich der Hauptstrang des rabbinischen Judentums seit talmudischer Zeit in einer Exilsituation ohne Aussicht auf Veränderung. Weil das Land Israel als Ort jüdischer Eigenstaatlichkeit auf nicht absehbare Zeit verloren ist, bekommt es für die Rabbinen (wie bereits dargelegt) eine besondere theologische Bedeutung.

Der heutige Staat Israel ist ein säkularer Staat nach westlichem Muster. Er beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und ist als parlamentarische Demokratie organisiert.

Die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 14. Mai 1948 garantiert Bürgerrechte, wie sie in Demokratien üblich sind:

„Der Staat Israel ... wird auf den Grundlagen der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens, im Geiste der Lehren der Propheten Israels aufgebaut werden. Er wird völlige gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung allen seinen Bürgern gewährleisten ohne Unterschied des Glaubens, der Rasse und des Geschlechts. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der Sprache, der Erziehung und der Kultur verbürgen. Er wird die heiligen Stätten aller Religionen schützen und den Grundsätzen der Vereinten Nationen Treue wahren.“

Aus der Unabhängigkeitserklärung leitete der Oberste Gerichtshof (Abb. 10) des Staates Israel Grundrechte für alle Staatsbürger ab, wie das Recht auf Meinungs- und Bewegungsfreiheit oder den Gleichheitsgrundsatz. Der Gerichtshof kann von allen israelischen Staatsbürgern angerufen werden.

Die Besonderheit Israels gegenüber anderen modernen Demokratien liegt darin, dass dieser Staat sich nicht nur als „demokratisch“, sondern auch als „jüdisch“ definiert. Der „jüdische Staat“ garantiert allen Jüdinnen und Juden das Recht auf Einwanderung, der Sabbat ist der wöchentliche Feiertag, in staatlichen Einrichtungen wie der Armee wird eine koschere Küche unterhalten, das Personenstandswesen wird nicht staatlich, sondern alten osmanischen Rechtsprinzipien folgend durch das Rabbinat geregelt. An dieser Selbstdefinition hängt nach Auffassung der Mehrheit der israelischen Juden die Existenz des Staates Israel als Staat des jüdischen Volkes. Diskutiert wird, inwieweit halachische Regelungen etwa zur Frage der Sabbatheiligung neben demokratischen Grundsätzen bestehen können. Auch in solchen Konflikten hat sich der Oberste Gerichtshof als Garant der demokratischen Rechte erwiesen.

Der Begriff „Staat des jüdischen Volkes“ führt zu der Frage, wie der Staat Israel auch der Staat seiner nicht-jüdischen Bürger sein könne, die immerhin ca. 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Palästinensische Israeli beklagen die schlechteren Zugangsmöglichkeiten zu Ausbildung und Beruf, weil sie aus Sicherheitsgründen vom Wehr- und Sicherheitsdienst ausgeschlossen sind.

8.2 Zu Funktion und Legitimität eines Staates nach evangelischem Verständnis

Die theologische Haltung zum Staat ist im Protestantismus traditionell geprägt von der Spannung zwischen Nähe und Distanz. Diese ambivalente Haltung findet sich bereits in den biblischen Quellen, in denen sowohl die Anerkennung von Obrigkeit und Herrschaft, aber gleichzeitig eine Distanzierung vom totalen Herrschaftsanspruch des Staates zum Ausdruck kommt. Um einen Standpunkt zu gewinnen, orientieren wir uns zunächst an den Überlieferungen im Neuen Testament.

Dass Jesus von Nazareth an der Wiederherstellung eines unabhängigen jüdischen Staates interessiert gewesen wäre, lassen die Evangelien nicht erkennen; zu Jesu Haltung zur römischen Herrschaft im Land Israel lässt sich kaum etwas sagen. Jesus lebte und wirkte in Galiläa im Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas, eines weithin autonom regierenden Kleinfürsten, der in den Evangelien gelegentlich als „König“ bezeichnet wird. Lediglich in Lk 13,31-33 gibt es einen Hinweis auf einen Konflikt zwischen Jesus und Herodes; die Szene dient jedoch vor allem dazu, heilsgeschichtlich auf Jesu Tod in Jerusalem (und nicht in Galiläa) zu verweisen. Erst in der Passionsüberlieferung spielt die gegen Jesus gerichtete Behauptung eine Rolle, er beanspruche, „König der Juden“ zu sein; das könnte ein Indiz dafür sein, dass Jesu Rede von der kommenden „Königsherrschaft Gottes“ politisch gedeutet wurde. Vielleicht könnte das auch erklären, warum das Matthäusevangelium fast durchgängig den Begriff „Himmelreich“ verwendet.
In der frühen christlichen Gemeinde ist, soweit die Quellen erkennen lassen, eine direkte Auseinandersetzung mit der römischen Staatsmacht nicht zu erkennen. Paulus setzt in Röm 13 voraus, dass das Handeln der Staatsmacht ethischen Maßstäben gerecht wird und dass deshalb „jedermann“ ihr en Anweisungen nachkommen soll, da sie ja das Gute belohnt und das Böse bestraft. Zugleich wird allerdings in Aussagen wie Phil 3,20 deutlich, dass Paulus das Leben der Christen nicht auf eine staatlich oder gesellschaftlich organisierte Perspektive hin ausgerichtet sieht: „Unser Bürgerrecht ist im Himmel ...“
Im weiteren Verlauf des 1. Jahrhunderts ändert sich das Verhältnis zum „Staat“, wohl auch angesichts der Verfolgungen nach dem Brand Roms 64 n.Chr. Christen leisten nicht offen Widerstand, widersetzen sich aber den zunehmenden religiösen Ansprüchen der Staatsmacht bzw. Herrscher. Aussagen darüber, dass Christus „unser Friede“ ist (Eph 2,14) und dass Jesu Geburt „Friede auf Erden“ bedeutet (Lk 2,14), können als gegen die römische Friedens- und Herrschaftsideologie gerichtet gelesen werden. In der Versuchungsgeschichte heißt es in Lk 4,6, dass der Teufel über „alle Macht und Herrlichkeit gebietet, denn mir ist sie übergeben, und ich gebe sie, wem ich will“.
Offen gegen die römische Macht polemisiert die Johannesoffenbarung, die sich vor allem gegen den Kaiserkult stellt. Die Johannesoffenbarung erwartet das baldige Ende der gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen (Offb 18), aber sie lässt nicht erkennen, dass Christen womöglich anstelle Gottes oder Christi gewaltsam gegen die bestehenden Verhältnisse kämpfen sollen oder wollen.

Es ist wichtig, festzustellen, dass das Christentum nicht notwendig an eine Staatsform gebunden ist. Da der Vielzahl von historischen Ausprägungen des Staates eine Vielfalt religiöser und ideologischer Interpretationen entspricht, gibt es keine einheitliche evangelische Staatsethik, wohl aber grundlegende Beschreibungen der Aufgabe und der Grenzen öffentlicher Machtausübung.

Die in der Reformation lutherischer Prägung entstandene Zwei-Reiche-Lehre unterscheidet bei der Herrschaft Gottes ein geistliches und ein weltliches Regiment. Die Obrigkeit, gebunden an die als Naturrecht verstandenen Gebote Gottes, kann zur Wahrung von Recht und Frieden auch zum Mittel der Gewalt greifen. Christen sind wegen ihrer Verantwortung für den Nächsten gehalten, ihr Gehorsam zu leisten. Das geistliche Regiment ist frei von Gewaltausübung und dient der freien Verkündigung des Evangeliums. Diese Unterscheidung sichert zum einen die Freiheit in Fragen des Glaubens vor staatlichen Eingriffen, zum anderen schützt sie die staatliche Autorität vor klerikaler Bevormundung (CA 28 [14]). Im Laufe der Geschichte ist der bei aller Unterschiedenheit gegebene Zusammenhang der beiden „R eiche“ immer wieder aufgelöst worden, zum Beispiel in die Bereiche einer staatlichen „Eigengesetzlichkeit“ und einer „Religion der Innerlichkeit“ (Friedrich Naumann). So konnte unter Berufung auf die Zwei-Reiche-Lehre auch Unrecht der Obrigkeit hingenommen oder legitimiert und Loyalität gefordert werden, wo Widerspruch erforderlich gewesen wäre.

Zu allen Zeiten hat es in den reformatorischen Kirchen obrigkeits- oder staatskritische Strömungen gegeben. Nach Jahrhunderten der relativen Nähe oder sogar Identifikation der evangelischen Kirche in Deutschland mit der Monarchie wandte sich die Bekennende Kirche zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur mit der 5. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 ausdrücklich gegen einen totalitären Herrschaftsanspruch des Staates.

Aufgrund der Erfahrungen mit den totalitären Systemen des Nationalsozialismus und des Sozialismus in der DDR wird heute in der theologischen Haltung zum Staat die öffentliche Verantwortung der Kirche betont: „Theologische Ethik hat somit eine kritische Funktion gegenüber jeder Idealisierung des Staates und jeder Staatsideologie“ (Martin Honecker).

Das moderne Phänomen des Territorialstaates als Zentralgewalt mit der Kompetenz zur Verwaltung, zur Rechtsetzung und zur Ausübung geordneter Macht und mit der Pflicht zur Fürsorge für seine Bürger ist erst in der frühen Neuzeit entstanden.

Der moderne Staat ist verbunden mit dem in der Aufklärung begonnenen Prozess der Säkularisierung: Die Autorität des Staates wird nicht mehr aus einer göttlichen Ordnung heraus begründet, sondern aus seiner Fähigkeit, seinen Staatszweck angemessen zu erfüllen.

Die Legitimität des Staates ist aus heutiger evangelischer Sicht gebunden daran, dass er sich auf den Erhalt von Gerechtigkeit und Frieden ausrichtet und dass er sich in sein en Gesetzen und Haltungen am biblischen Bild des Menschen auch dann messen lassen kann, wenn das offizielle Selbstverständnis des Staates sich nicht von dieser Grundlage her definiert.

Die reformierte Tradition, die sich zuerst in den von einer starken Bürgerschaft regierten Städten und Kantonen der Schweiz entwickelte, trägt Bürgerethos und demokratische Strukturen in der presbyterial-synodalen Ordnung als Elemente für das Verständnis des Staates bei.

Nach evangelischem Verständnis ist Staatszweck einerseits die Bewahrung des Friedens und andererseits die Aufrichtung von Gerechtigkeit. Die Kriterien Freiheit Gerechtigkeit Frieden gelten für die Ausübung jeglicher politischer Macht und für alle Staatlichkeit. Insofern sind jede staatliche Verfassung und alles staatliche Handeln dann legitim, wenn diese Werte situationsgemäß so weit wie möglich gewährleistet werden.

Auch wenn die Evangelische Kirche in Deutschland das Modell des demokratischen Verfassungs- und Sozialstaates als die gelungenste Gestalt der Organisation öffentlicher Machtausübung ansieht, gelten die genannten Kriterien für jeden Staat und für jegliches politische Handeln.

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