Ökumene im 21. Jahrhundert

Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven

2. Gegenwärtige Herausforderungen für Kirchen und Ökumene

2.1. Globalisierung und Ökumene: Drei Beobachtungen

2.1.1 Globale Lokalität – lokale Globalität

Die Erfahrung der Einen Welt ist nicht allein Christen vorbehalten, die in weltweiten ökumenischen Beziehungen stehen. Globalisierungsprozessen ist jeder ausgesetzt. Globalkolorit ist zu einer zentralen Signatur unserer Welt geworden und Globalisierung ist deshalb ein zentraler Begriff jeder Gegenwartsdiagnose. Die Menschen siedeln heute überall, Migrantenströme gehen in alle Richtungen, Kommunikation kennt so gut wie keine Distanz mehr, das Wissen über Naturzusammenhänge explodiert, technische Möglichkeiten lassen sich realisieren, von denen vor wenigen Jahrzehnten noch niemand geträumt hat. Es ist aber auch festzustellen, dass die Konflikte und Kriege nicht weniger geworden sind. Die Opfer dieser Konflikte sowie diejenigen von Naturkatastrophen aufgrund der Klimaveränderung, aber auch diejenigen globaler Epidemien wie HIV/AIDS sowie von Armut und Verelendung nehmen proportional zum dramatischen Bevölkerungswachstum in weiten Teilen der Welt zu. Die Teilnahme an den Katastrophen in allen Teilen der Welt in Echtzeit hat unser Bewusstsein nicht nur von Raum, sondern auch von Zeit und Geschichte geprägt. Die Globalisierung in Ökonomie, Technik und Medien stellt regionale Institutionen, Nationalstaaten, Volksreligionen oder regionale Kirchen infrage und verschiebt die Machtverhältnisse von partikularen Kräften hin zu global wirksamen Mächten in Wirtschaft, Politik und Kultur.

Die Globalisierungsprozesse, denen wir alle ausgesetzt sind, fördern aber auch eine Besinnung auf die eigene Kultur und Tradition. Globalisierung ist immer auch Lokalisierung. Der Kontext, in dem Menschen leben, ist global geprägt und lokal zugleich. Christinnen und Christen sind herausgefordert, in dieser Spannung zu denken und zu handeln. Europäische Christen müssen aber auch die Kritik, die vor allem Christen aus der südlichen Hemisphäre dem impliziten Anspruch des europäischen Denkens und der europäischen Theologie auf universelle Geltung entgegenbringen, hören und ernst nehmen. Globalisierung darf nicht länger den Export europäischer Denktraditionen in alle Welt bedeuten. Auch im gegenwärtigen globalen Kontext von Multikulturalität und kommunikativen Netzwerken kann der Kolonialismus nicht einfach als überwunden abgetan und ausgeblendet werden. Die transkulturellen Verflechtungen und die ineinander verwobenen Geschichten von Völkern, Nationen, Gesellschaften und auch von religiösen Gruppen sind Ausdruck von Prozessen, die sich nicht auf einen Anfang oder Ursprung oder gar auf eine einlinige Tradition zurückführen lassen. Handel, Reisen, Pilgerfahrten, Migrationsbewegungen, Eroberungen, Flüchtlingsbewegungen u. a. haben zu solchen transkulturellen Verflechtungen geführt. Es ist nicht möglich, die weltweit ineinander verwobenen Geschichten moderner Menschen, Nationen und Kulturräume zu entflechten.

2.1.2 Globalisierung und Zivilgesellschaft: vernetzte Lebensperspektiven – auseinander fallende Lebenswirklichkeiten

Manche meinen, mit Multikulturalität sei längst ein passendes Konzept gefunden, das der Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen innerhalb ein und derselben Gesellschaft gerecht werden kann. Das Konzept der Multikulturalität scheint dem Dilemma der Homogenisierung von Kulturen in der Moderne nicht mehr so stark ausgesetzt zu sein wie die traditionellen Konzepte von Einzelkulturen, die als homogen und abgegrenzt voneinander verstanden wurden. Gerade die Anerkennung des Nebeneinanders von Kulturen in einer Gesellschaft birgt aber die Gefahr, in Fragen der Toleranz, der Akzeptanz und der Konfliktvermeidung allenfalls ein Stillhalten, nicht aber eine wirkliche Verständigung oder eine Überschreitung der Schranken erreichen zu können. Globalisierung ist also nicht mit kultureller Homogenisierung gleichzusetzen. Vielmehr ist von dem Bild neuer kultureller »Landschaften« (scapes) auszugehen, die durch »globale Flüsse« (global flows) geformt werden. Um eine derartige Sicht der Globalisierung vertreten zu können, muss man allerdings die Annahme aufgeben, dass Kulturen fest an bestimmten Orten verankert seien. Es sind gerade die Prozesse von Migration, Flucht, Auswanderung, Vertreibung, die diese flows deutlich werden lassen. In dem Maße, wie immer mehr einzelne Menschen und auch größere Gruppen ihre angestammten Orte verlassen, lösen sich traditionelle Vorstellungen von nationaler, kultureller und auch religiöser Zugehörigkeit auf. Neue Netzwerke der Technik, der Wirtschaft, der Finanzmärkte und auch der Kommunikation entstehen, die den Menschen immer komplexere Repertoires von Weltvorstellung und Weltgestaltung zur Verfügung stellen. Die Zirkulationen von Waren, Geld oder Technik kennen keine lokalen oder nationalen Grenzen mehr. Ebenso entgrenzen mediale Netzwerke das Denken und Handeln von Menschen in der Gegenwart

Der sich durch die Globalisierung verschärfende Wettbewerb der Staaten untereinander birgt die Gefahr in sich, zu einem Abbau des Wohlfahrtsstaates und einer geringeren Akzeptanz des Nationalstaates durch den Bürger zu führen. Soziale, aber vor allem ökologische und ökonomische Probleme werden als globale Probleme angesehen und die Beziehung der Gesellschaft zur Politik löst sich zunehmend auf. Im sozialen Bereich wird dies deutlich, wenn es Nationalstaaten immer weniger gelingt, die Bedürfnisse der Bürger abzudecken. Die Tendenz, diese Aufgaben des Staates an andere, übergeordnete Institutionen abzugeben, ist beispielsweise in der Europäischen Union zu beobachten. Dadurch findet eine Machtverschiebung zwischen Nationalstaat und Wirtschaft statt, die auch zivilgesellschaftliche Interventionen schwieriger werden lässt.

Wenn Kultur und soziale Beziehungen aus dem nationalstaatlichen Gefüge ausgekoppelt werden und sich Gesellschaft und Staat auseinander entwickeln, dann spielen aber auch neue, grenzüberschreitende Beziehungen in der Weltgesellschaft (Ulrich Beck) zunehmend eine Rolle. Allerdings können solche Beziehungen in der Weltgesellschaft wie die christliche Ökumene kaum als Legitimation für ein positiv/normatives Verständnis von Globalisierung herhalten: Zwar rufen sie zur Überwindung von Armut und Entwicklungsrückstand auf, die die wirtschaftliche Globalisierung verspricht. Sobald aber nationalstaatliche Regelungen nicht mehr greifen und Staaten ihre Bürger vor den Folgen der Globalisierung nicht schützen können, werden diese Aufrufe verhallen. Weltverantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wird nur möglich sein, wenn die Staaten auch im Rahmen der Globalisierung wesentliche Steuerungsfunktionen innehaben und Bezugspunkt für alle gesellschaftlichen Akteure bleiben.

Die Kirchen können diese komplexen Prozesse der Globalisierung als Chance begreifen und die in den letzten Jahrhunderten gewachsenen ökumenischen Erfahrungen, Beziehungen und sogar Partnerschaften nicht nur theologisch reflektieren, sondern auch praktisch werden lassen. Sie können dadurch eine starke prophetische Stimme im öffentlichen Raum bekommen, zumal das gesellschaftliche Interesse an Religion, wie ambivalent auch immer es sein mag, gegenwärtig so groß ist wie schon lange nicht mehr.

Lange wurde Religion in kulturwissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Diskursen nur am Rande wahrgenommen. Das lag daran, dass diese von Denkformationen und Traditionen geprägt waren, die in der Vitalität von Religion einen Rückfall in vormoderne Zeiten sehen. Zunehmend setzt sich allerdings die Einsicht durch, dass Säkularisierung nicht darin besteht, dass Religion durch Politik ersetzt worden ist. Unsere Gegenwart ist nicht rein profan. Gerade ein breites, kulturwissenschaftliches Konzept von Religion lässt die Rituale unseres Alltags und die Mythen unserer Symbolsysteme – ebenso wie die kritische Funktion der Religion im Dialog mit der modernen Rationalität – erkennen. Es wird heute deutlicher als früher gesehen, dass Religion nicht nur die Sache der anderen, sondern mitten in der Moderne angesiedelt ist.

Wenn nun von der »Wiederkehr der Götter« [10] oder der »Rückkehr der Religionen« [11] geredet wird, so ist an diesen Bildern denn auch zutreffend, dass es in vielen Ländern der Welt, insbesondere Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ein statistisch messbares Wachstum christlicher Gemeinschaften gibt und sich vor allem die pentekostalen Kirchen überall auf der Welt mit großer Geschwindigkeit ausbreiten. Andererseits stellen Begriffe wie »Wiederkehr« oder »Rückkehr« nicht die Länder, in denen sich der Wandel hauptsächlich vollzieht, sondern Europa als den vermeintlichen Ausgangs- und Zielpunkt des Christentums in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Außerdem ist offensichtlich, dass das Christentum anders »zurückkehrt«, als es Europa »verlassen« hat. Aus diesem Grund profitieren die Kirchen nicht automatisch von der »Rückkehr der Religion«. Dies gilt trotz der hohen Anzahl von Christen und den Migranten und der Vielfalt ihrer Gemeinden und Gruppen, in der sich die Vielfalt des Weltchristentums abbildet. Das »zurückkehrende« Christentum hat sich verändert. Es kann durchaus als reformatorischer Impuls aus der Einen Welt nach Deutschland kommen, kann aber auch eine kritische Aufnahme finden: Im gegenwärtigen Europa wird Religion zwar einerseits vielfach in der Form östlich und anders gearteter Spiritualität gesucht [12], zugleich wird aber eine kritische Debatte zur öffentlichen Rolle der institutionellen Kirchen und zur Religion im öffentlichen Raum geführt. Unter dieser Perspektive wird die »Wiederkehr der Religion« in Europa und auch in Nordamerika mit Fundamentalismus, Kampf der Kulturen, religiöser Gewalt, Fanatismus in Verbindung gebracht und als ein Angriff auf plural verfasste Gesellschaften im Westen und die Aufkündigung von Dialog und interkultureller Verständigung gesehen.

2.1.3 Dem Frieden nachjagen und der Gewalt entgegentreten – zur Rolle von Religion(en) in Konflikten

Die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Gewalt ist seit einiger Zeit auf drastische Weise erneut zum Thema geworden. Die Gräueltaten des so genannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak und von Boko Haram in Nigeria erschrecken und lösen Fragen aus, die weit über die aktuellen Ereignisse hinaus die Rolle von Religion(en) in Konflikten betreffen. Zwar fragen seit den unter Berufung auf den Islam begangenen Terrorakten von New York und Washington (2001), London (2004), Madrid (2005) und Paris (2014) viele Menschen, ob etwa dem Islam ein besonderes Gewaltpotenzial innewohnt, doch lassen sich mit dem Jugoslawienkrieg [13], den Gräueltaten der Lord Resistance Army oder dem Nordirlandkonflikt auch vergleichbare Beispiele aus christlichen Kontexten nennen.

In der öffentlichen Meinung wie in wissenschaftlichen Diskursen wurde in den vergangenen Jahren für die monotheistischen Religionen ein besonderes, ihnen innewohnendes Konfliktpotenzial angenommen. Jedoch sind Gewalt legitimierende Texte und Traditionen auch im Buddhismus und im Hinduismus nachweisbar [14].

Weil es aber immer wieder dazu kommt, dass diejenigen, die Gewalt praktizieren, Rückhalt in den heiligen Schriften ihrer Religion suchen, gilt es für alle Religionen, sich mit den jeweils eigenen Texten und Traditionen kritisch auseinanderzusetzen, die gewaltlegitimierend oder sogar gewaltfördernd wirken können. Innerhalb der eigenen Religion ebenso wie im interreligiösen Dialog ist es dringend notwendig, den Zusammenhang von Religion, Konflikt und Gewalt zu reflektieren und in Verkündigung, Katechese und Bildungsangeboten zu vermitteln, dass Religion keine Rechtfertigung für Gewalt und Terror liefern kann und darf.

Gegenwärtig wird in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem das konfliktverschärfende Potenzial von Religionen beleuchtet, während friedensstiftende Dimensionen noch zu wenig gesehen werden. Diese gilt es, kraftvoll zur Sprache zu bringen und ihnen so weit wie möglich in interreligiöser Kooperation Kraft zu verleihen. Vieles ist bereits entwickelt worden – so ist die ökumenische Bewegung, insbesondere die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 unter dem Wort »Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein« ein verheißungsvolles Zeichen für das gemeinsame Eintreten der Kirchen für den Frieden. Diesen ökumenischen Impulsen folgten zahlreiche Initiativen der unterschiedlichen Kirchen, von denen hier exemplarisch nur das »Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden« [15] (1980) des BEK auf konfessioneller Ebene und die »Bosporos-Erklärung« des Ökumenischen Patriarchen, römisch-katholischer, jüdischer und islamischer Religionsführer (1994) [16] auf interkonfessioneller und zugleich interreligiöser Ebene genannt seien.

Darüber hinaus gibt es viele weitere Initiativen: In Verkündigung, Katechese und im praktischen Handeln hat die Verheißung des Friedens ihren Ort. In Friedensarbeit und Friedensdiensten, in Seminaren und in der Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung und in internationaler Lobbyarbeit für Frieden und Abrüstung, wie im Ecumenical Peace Advocacy Network des ÖRK, wird sie spürbar. Im ökumenischen Gespräch über Friedensethik und in interreligiösen Begegnungen kann die Sehnsucht nach Frieden Kulturen und Religionen verbinden. In der Wahrnehmung politischer Verantwortung sind Religionen gefragt, sich entschieden für gewaltfreie Konfliktlösungsmöglichkeiten einzusetzen. In Konflikten sollen sie, wo immer es möglich ist, Orte der Verständigung schaffen oder Moderatoren und Schlichter zur Verfügung stellen. In Freiwilligendiensten stärken sie vor allem jüngere Menschen im Friedensdienst, in internationalen Begegnungen helfen sie, Vorurteile zu überwinden und Verständnis für »die Anderen« zu entwickeln.

Diese vielfältigen Möglichkeiten des Friedenszeugnisses sind unverzichtbar. Denn jedes Wort, jede Predigt, jede Unterrichtsstunde, jedes Seminar, jede Lobbyarbeit für Abrüstung, jede Begegnung, in deren Mittelpunkt die Überzeugung steht, dass es um Gottes Willen zum Frieden geht, bringt diesen Frieden zur Geltung und hilft, gerade religiös motivierter Gewalt zu widerstehen.

2.2. Veränderter Rahmen für ökumenische Beziehungen

2.2.1 Eine neue Landkarte des Christentums entsteht weltweit

Auf der Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, den Globus innerhalb einer Generation zu »christianisieren«. Tatsächlich gibt es mehr als 100 Jahre später in vielen Regionen der Welt mehr Christen als damals. Jedoch ist der Anteil der Christen an der Weltbevölkerung im Vergleich in etwa stabil geblieben: Waren es 1910 600 Millionen Christen, so sind es 2011 2,18 Milliarden, doch auch die Weltbevölkerung nahm in diesem Zeitraum von 1,8 Milliarden auf 6,9 Milliarden Menschen zu. Neu ist die Verteilung der Christen auf die Kontinente. 1910 lebten 93% der Christen in Europa, Nord- und Südamerika, 2011 sind es noch 63%. Die Zahl der Christen hat am meisten zugenommen in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in der Asien-Pazifik-Region.

Doch die Landkarte des Christentums weltweit verändert sich nicht nur hinsichtlich der Zahlen und der Verteilung der Christen. Der Anteil der Pfingstler (279 Millionen – mit Schwerpunkt in Afrika) und der charismatisch geprägten Christen (305 Millionen – mit Schwerpunkt im asiatisch-pazifischen Raum) ist rasant gestiegen. Darüber hinaus sind ca. 285 Millionen Evangelikale zu erwähnen, die teils diesen Gruppierungen angehören, sich aber auch in Kirchen wiederfinden, in denen sie lediglich einen Teil der Mitglieder ausmachen.

Zur Veränderung der ökumenischen Landkarte gehört auch, dass vor allem orthodoxe Kirchen in Europa, allen voran die Russisch-Orthodoxe Kirche, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ihre Identität wieder verstärkt national definieren und sich zum Teil als Gegenbild zu den vermeintlich »wertevergessenen« Kirchen »des Westens« verstehen. Partiell haben sich orthodoxe Kirchen aus ökumenischen Beziehungen und Organisationen zurückgezogen, während vor allem das Ökumenische Patriarchat weiterhin ein wichtiger Impulsgeber ist.

Diese hier nur grob umrissenen Veränderungen haben große Auswirkungen für die ökumenische Bewegung und für ökumenische Beziehungen im 21. Jahrhundert [17]. Der Einfluss der bekenntnisorientierten, der akademischen Theologie verpflichteten und oft aufgeklärten, liberalen evangelischen Kirchen geht weltweit zurück. Für viele Menschen in unserem Land spielt das Bekenntnis zu einer bestimmten konfessionellen Tradition kaum noch eine Rolle. Auch Kirchen, die in Afrika oder Asien einst aus der Mission von lutherischen und reformierten Kirchen hervorgingen, stehen heute in teilweise intensiven Auseinandersetzungen mit Gruppierungen und großen Gemeinden (Mega-Churches), die in Konkurrenz zu ihnen treten. Manche von ihnen werden dadurch angeregt oder sehen sich genötigt, in ihren Gottesdiensten und ihrem Reden und Handeln insgesamt Elemente aus pfingstlerischen oder charismatischen Strömungen aufzunehmen und zu praktizieren. Dies wiederum kann den Kontakt zu Partnerkirchen in Europa, auch in Deutschland schwieriger machen und löst Fragen aus: Wo in diesen Entwicklungen liegen Anregungen für uns? Wie und wo werden die notwendigen theologischen Auseinandersetzungen geführt?

2.2.2 Die ökumenische Landkarte in Deutschland

Innerhalb Deutschlands stellen evangelische und römisch-katholische Christen den allergrößten Anteil der Christen und der Bevölkerung. Die meisten Protestanten gehören einer der Gliedkirchen der EKD an, jedoch haben Aktivitäten unterschiedlicher Freikirchen, pfingstlerisch und charismatisch geprägter Gruppierungen in den letzten Jahren zugenommen. Sie heben sich teilweise deutlich von den in Deutschland seit Langem einheimischen Pietisten und Evangelikalen ab [18].

Gleichzeitig steigt der Anteil der Christen »anderer Sprache und Herkunft« in Deutschland. Unter den Migranten, die Deutschland erreichen, ist ein (für viele überraschend) hoher Anteil Christen (Hessischer Religionsmonitor 2010: 63%, weltweit 49%). Die EKD und ihre Gliedkirchen haben sich seit Langem zuverlässig und mit großem Engagement für die Rechte von Flüchtlingen und Asylbewerbern sowie für eine Kultur der Gastfreundschaft gegenüber Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft eingesetzt. Nun muss die Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden, inwieweit die EKD und ihre Gliedkirchen mit ihren evangelischen Schwestern und Brüdern aus anderen Ländern und Kulturen »gemeinsam evangelisch« sein können und wollen. Es gibt bereits gute Ansätze und gelingendes Zusammenleben von einheimischen Gemeinden und den Christen, die vor längerer Zeit oder erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen sind. Dringlicher denn je stellt sich aber die Frage, ob sich die Evangelischen in Deutschland an die Seite ihrer Geschwister stellen und damit auch selbst verändern wollen.

Zur Vielfalt christlichen Lebens in Europa (und auch in Deutschland) gehört schließlich die seit mehreren Jahrzehnten zunehmende Präsenz von Christen und Kirchen anderer Konfessionsfamilien wie der Anglikaner oder der Orthodoxen. Mit ihnen besteht in vielen Fällen ein guter, oft sogar freundschaftlicher Kontakt, der umso wichtiger ist, da es in vielen Heimatkirchen orthodoxer Christen eine große Skepsis gegenüber Westeuropa und gegenüber der Ökumenischen Bewegung gibt. In Deutschland ist die zwischen 1960 und 1973 durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer entstandene orthodoxe »Neo-Diaspora« seit den 1990er-Jahren zur drittgrößten Konfessionsgruppe herangewachsen und umfasst derzeit etwa 1,5 Millionen Gläubige. Eine kirchenrechtliche (und zugleich ekklesiologische) Herausforderung für diese Diaspora besteht darin, dass die Migrationsgemeinden von ihrem Prinzip des »kanonischen Territoriums« abweichen und sich nach einem Ethnizitätsprinzip organisieren müssen. Die durch den kulturellen Kontext des Gastlandes erfolgende Einebnung ihrer hierarchischen Kirchenstrukturen stellt traditionelle Muster kirchlicher Autorität infrage. Die Gemeinden benötigen Priester, die sowohl die eigene Tradition kennen als auch im kulturellen Kontext des Gastlandes beheimatet sind. Dies führte seit den 1980er-Jahren zur Etablierung einer orthodoxen Theologenausbildung in Deutschland. Diese Entwicklung macht die orthodoxen Diasporagemeinden zu wichtigen Vermittlern zwischen Ost und West und zu Motoren der Modernisierung der Orthodoxie.

Die Veränderung der ökumenischen Landkarte in Deutschland geht zugleich mit einem Mentalitätswechsel einher: Viele junge Christen nehmen die konfessionellen Unterschiede nicht mehr zwingend als trennend wahr. Dadurch rückt das die ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts prägende Thema der »Einheit der Kirche« für junge Menschen zunehmend in den Hintergrund des Interesses. Eine wichtigere Rolle nimmt für junge Christen dagegen die Frage nach interreligiöser Zusammenarbeit und dem Dialog der Religionen ein. Auch sind ökumenische Lernerfahrungen für die Gruppe junger Erwachsener heute nicht auf die Angebote ökumenischer Institutionen beschränkt, sondern werden überall dort gemacht, wo es die Möglichkeit gibt, Menschen anderer Kulturen, Konfessionen und Religionen zu begegnen [19].

2.2.3 Ökumenische Institutionen und Organisationen in einem sich verändernden Umfeld

Ökumenische Organisationen und Institutionen wie die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (im Folgenden: ACK), die KEK und der ÖRK haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Weit über ihre unmittelbare Funktion im Blick auf Zeugnis und Dienst, auf Dialog und Begegnung hinaus stehen sie für die Vision eines gelingenden Miteinanders unterschiedlicher Kirchen, in dem gegenseitiges Verständnis und Gemeinschaft wachsen können und in dem damit (trotz weiterhin bestehender Verschiedenheit) die Eine Kirche Jesu Christi erkennbar wird. Für viele sind sie nach wie vor die verlässlichsten Partner in einem von großer Vielfalt, aber auch von offenen und verdeckten Kontroversen geprägten Verhältnis zwischen den großen Konfessionsfamilien. Gleichzeitig scheinen sie viele der Hoffnungen und Erwartungen, die mit ihnen verbunden waren (und sind), nicht einlösen zu können. Die eingangs (siehe: Kapitel 1) beschriebenen Anfragen und Krisen treffen und erschüttern die ökumenischen Institutionen und Organisationen in besonderer Weise. Denn sie sind die Orte, in denen (konfessionelle und kulturelle) Identitäten aufeinanderprallen, notwendige Gespräche über kontroverse Themen geführt oder verweigert werden und sich die Bereitschaft zu verbindlichen ökumenischen Beziehungen auch an der personellen und finanziellen Unterstützung der Organisationen entscheidet. Es gehört zu den schwierigen Erfahrungen im ökumenischen Kontext, dass mehr Dialog, mehr gegenseitiges Wissen voneinander und mehr Begegnung in vielen Fällen nicht zu einem vertieften Verständnis und wachsender Gemeinschaft geführt haben.

Die konfessionellen Weltbünde, also der Lutherische Weltbund und die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, sind wichtige Instrumente der Gemeinschaft, der Pflege und Weiterentwicklung der theologischen und bekenntnisorientierten Identität sowie der Vernetzung lutherischer und reformierter Kirchen aus unterschiedlichen Kontexten und Kulturen. Auch wenn es in den vergangenen Jahren einige Bestrebungen gegeben hat, die Arbeit der Weltbünde stärker mit der anderer ökumenischer Organisationen (insbesondere des ÖRK) zu verknüpfen, werden weiterhin viele Themen und Projekte nebeneinander bearbeitet. Eine der wichtigen Zukunftsfragen für Kirchen, Weltbünde und ökumenische Organisationen ist, wie es gelingen kann, theologische Kompetenz und konfessionelle Traditionen (Bewusstsein) in deren reguläre Beratungen und Entscheidungsprozesse einzutragen. Fortschritte in dieser Hinsicht sind dringend erforderlich, da andernfalls die Gefahr besteht, dass die ökumenischen Organisationen insgesamt weiter geschwächt werden.

Eine Sonderstellung nimmt die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (im Folgenden: GEKE) ein, weil sie auf der Grundlage einer fundamentalen theologischen Verständigung durch die Leuenberger Konkordie evangelische Kirchen in Europa in einer Kirchengemeinschaft zusammenführt. Für sie steht insbesondere die Frage nach Vertiefung der Kirchengemeinschaft, nach Verbindlichkeit und nach dem Miteinander von kleinen und großen, Mehrheits- und Minderheitskirchen auf der Tagesordnung. Jenseits des ÖRK begegnen sich Kirchen aus dem evangelikalen, pflingstlerischen und charismatischen Spektrum in der Lausanner Bewegung oder in der Weltweiten Evangelischen Allianz (Worldwide Evangelical Alliance).

Der ÖRK selbst macht mit dem »Global Christian Forum« den Versuch, eine Kommunikationsplattform mit solchen Kirchen zu schaffen und, so weit als möglich, in ein verbindliches Gespräch mit ihnen einzutreten. Mit dem für die Vollversammlung in Busan/Korea 2013 vorbereiteten Missionsdokument liegt das Ergebnis eines breiter angelegten Dialogs vor. Auch im Bereich der EKD wird der Dialog mit Freikirchen, pfingstlerisch und charismatisch geprägten Gruppierungen gesucht.

Ob die bislang für den Kontakt und die Auseinandersetzung mit neuen christlichen Bewegungen aus dem pflingstlerischen und charismatischen Spektrum entwickelten Instrumente in Deutschland und auch auf Weltebene wirklich weiter führen werden, ist zur Zeit offen. Es bedarf dazu weiterer Erfahrungen und Klärungen, auch innerhalb der EKD.

2.2.4 Ökumenische Orientierung im 21. Jahrhundert?

Die hier geschilderten Entwicklungen stellen die ökumenische Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen insgesamt in einen neuen Rahmen. Die Selbstverständlichkeit der Dominanz theologischer Ansätze aus Europa (auch aus Deutschland!), der Mission ausgehend vom »nördlichen« Teil des Globus, der bekenntnismäßigen Orientierung der Kirchen der Welt an den »mainline-churches«, der gemeinsamen Beratung und der Willensbildung in theologischen, sozialethischen Fragen auf großen Konferenzen scheint vorüber zu sein. Die Kirchen Europas und Nordamerikas sehen sich mit Kirchen und christlichen Strömungen konfrontiert, die sich nicht an den großen Traditionen ausrichten, die nicht nach ihrer Meinung fragen und die häufig gar keinen Impuls verspüren, sich mit anderen Kirchen in Beziehung zu setzen. »Ökumene« ist für viele von ihnen kein erstrebenswertes Ziel. Sie sehen für sich keinen Platz in der Ökumenischen Bewegung und auch keine Notwendigkeit, einen solchen zu gewinnen.

Für die EKD und ihre Gliedkirchen stellen die aktuellen Fragen und die häufig damit verbundenen Krisen und Auseinandersetzungen eine große Herausforderung dar. Sie muss sich als Vertreterin eines wichtigen Teils der evangelischen Christen in Europa und der Welt auf Rahmenbedingungen einstellen, in denen ihre Stellung nicht per se anerkannt und geschätzt wird. Sie muss klären, in welcher Weise sie selbst weiterhin kraftvoll für ökumenische Beziehungen eintreten will, auch wenn diese von innen und außen angefragt werden. Als große und reiche Kirche(n) in Europa tragen die EKD und ihre Gliedkirchen besondere Verantwortung. Es hängt nicht nur, aber doch entscheidend auch von ihnen ab, wie ökumenische Beziehungen in der Zukunft gestaltet werden. In dieser Situation ist es zunächst wichtig, danach zu fragen, wie die evangelischen Kirchen in Deutschland Ökumene im Blick auf ihr eigenes Kirchesein verstehen.

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