Ökumene im 21. Jahrhundert

Bedingungen – theologische Grundlegungen – Perspektiven

4. Evangelische Theologie der Ökumene

4.1. Zur Bedeutung konfessioneller Grenzen

Begriff und Sache von Konfessionen bzw. Konfessionskirchen sind infolge der Religionsstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts eng mit der Reformation verbunden. Waren sie damals noch sachlich bezogen auf den lateinischen Begriff »confessio« im Sinne von »Bekenntnis«, so sind sie seit dem 19. Jahrhundert schließlich zu »gebräuchlichen Allgemeinbegriffen für sämtliche christlichen Kirchen und Gemeinschaften« geworden [[21]. Konfession meint nun: Teil einer bestimmten Kirchenfamilie und insofern evangelisch, römisch-katholisch oder orthodox, inzwischen wohl auch pfingstlerisch-charismatisch zu sein.

Nach reformatorischem Verständnis gehört die Konfession zum Bereich der »sichtbaren Kirche«, die wiederum eingebettet gedacht wird in die Versammlung der durch den Heiligen Geist zum Glauben Gekommenen. Diese so genannte »unsichtbare«, »geglaubte« Kirche ist dem analysierenden »weltlichen« Blick »verborgen«, jedoch mit der sichtbaren »erfahrenen« Kirche/Konfession verbunden, aber nicht einfach verrechenbar gedacht. Diese vorsichtige Unterscheidung will der Gefahr einer Bemächtigung Gottes durch die erfahrbare Kirche wehren. Zugleich wirkt sie sich in einer Zurückhaltung gegenüber dem Ideal einer »sichtbaren« Einheit der Kirchen aus.

Allerdings muss man sagen, dass diese Sicht eine vornehmlich protestantische Perspektive darstellt, denn sowohl die Orthodoxie als auch die römisch-katholische Kirche würden sich selbst kaum als Konfessionskirchen sehen, weil sie im Bewusstsein Kirche sind, bereits in sich selbst das Ganze der »Einen, Heiligen, Apostolischen und Katholischen Kirche« zu repräsentieren. Die Differenzierung von sichtbarer und verborgener Kirche ist diesem Gedanken eher fremd. In einem protestantischen Kirchenverständnis hingegen ist das anders: Hier »fühlt« sich die geschichtliche partikulare Ausprägung von Christentümern auch unterschiedlicher Gestalt nicht schon per se negativ und »un-wahr« an. Im Gegenteil: Sie gehört in den Bereich der sichtbaren, erfahrenen Kirche. Man hat sie in der Geschichte seit der Reformation sogar für unvermeidlich zu halten gelernt, weil sich nämlich schon in der Bibel die Heilsbotschaft Jesu in »variabler Konkretisierung«, also in einer Vielfalt von Perspektiven zeige [22]. Somit steht schließlich die Realität von Konfessionen bzw. Konfessionskirchen geradezu für konkrete Lebendigkeit christlicher Kirchen schlechthin [23]. Freilich darf man sich die Lebendigkeit auch nicht zu romantisch vorstellen: In den aus der Mission entstandenen Kirchen in Afrika und Asien spiegelt sich aufgrund der Kolonialgeschichte sowie wegen ihrer kontextuellen und individuellen kulturellen Prägung eine Pluralität von konfessioneller Tradition auch in einer einzelnen Kirche. So hat die indische Mar-Thoma-Kirche zum Beispiel orientalisch-orthodoxe, römisch-katholische und evangelisch-reformierte Wurzeln und kann zudem auf eine komplizierte Geschichte von Spaltungen und Neugründungen mit konfessionellem und politisch-nationalem Hintergrund zurückblicken. Nicht selten wurde den Kirchen des Südens die Konfession aufgenötigt. Begriff und Geschichte von Konfessionen haben also in der Missionsgeschichte ein anderes Gesicht als in der europäischen Kirchengeschichte. Nicht wenige Kirchen in der globalisierten Welt werden zutreffend als »post-denominational« bezeichnet und sind darin von einer gewissen Ortsunabhängigkeit geprägt. Auch bezüglich der Kriterien für Konfessionalität zeigt sich eine Bandbreite: So haben sich in pfingstlerisch-charismatischen Kirchen eher praktische Bewährungskriterien wie z. B. Heilung herausgebildet als ein Konsens in Lehrfragen.

Für das Ökumene-Verständnis darf dennoch gesagt werden, dass in der protestantischen Konfessionsfamilie die Einheit der Kirchen nicht als eine Aufhebung der Pluralität von (Konfessions- oder Postkonfessions-)Kirchen verstanden wird – daher die hier bevorzugten Einheitsmodelle der »versöhnten Verschiedenheit« oder der Gemeinschaft der Kirchen (z. B. in der Leuenberger Kirchengemeinschaft), die deutlich von der Struktur der Kirchen im Plural getragen sind. In der klassischen Dialogökumene freilich wird darum gerungen, ob ein solches Verständnis von Einheit theologisch akzeptabel sei. Es gibt Vorstellungen, die sich »Ein«heit der Kirche deutlicher als eine sichtbarere Analogie zum Eins-Sein Gottes und dem einen Leib Christi wünschen und fragen: Müsste die Einheit der Kirchen nicht auch in irgendeiner Form als Einheit erkennbar sein, z. B. strukturell durch einen »ökumenischen Papst« oder eine vergleichbare bischöfliche Hierarchie? [24]

Allerdings wird das Modell einer organischen Union heute von keiner Kirche mehr angestrebt: Ihm zufolge wäre die Pluralität der Kirchen sozusagen in eine einzige Kirche zusammengeschmolzen. Als ein deutliches Alternativmodell dazu haben sich alle Kirchen inzwischen auf ein trinitarisch begründetes Einheitsmodell besonnen.

Die theologischen Überlegungen zur Trinität wurden im ökumenischen Dialog u. a. angeregt durch die von Metropolit Ioannis Zizioulas von Pergamon artikulierte orthodoxe Theologie der Gegenwart [25]. Zizioulas bestimmt das Wesen der Kirche aus der Beziehungsgestalt Gottes als Einheit unterschiedlicher »Personen«. Dieses trinitarische Modell von »Einheit in Verschiedenheit« wird im ökumenischen Kontext zur Folie für ein Verständnis von universaler und partikularer Kirche bzw. für die Gemeinschaft zwischen den Kirchen Die Theologie der Trinität hält auch fest, dass sich Gottes Liebe in seiner Schöpfung entfaltet und Gott auf die Gemeinschaft mit den Menschen zielt. Trinitarische Theologie sieht in dieser Beschreibung des Wirkens Gottes ein Muster für die Bestimmung des Wirkens der Christen in der Welt, was im ökumenischen Dialog ebenfalls als ein gemeinsames Merkmal der Kirchen betont wird [26]. Gemeinsam ist den Kirchen dann auch, dass der Glaube öffentlich und nicht ohne die Beziehung zu anderen (Kirchen) gelebt wird.

Auf diese multilaterale ökumenische Grundeinsicht zur Einheit der Kirche(n) verweisen Protestanten, wenn sie den Eindruck haben, dass Orthodoxie und Katholische Kirche trotz der Verabschiedung des Modells der »Rückkehrökumene« möglicherweise doch noch einer Vorstellung von Kircheneinheit folgen, die sich in der Form vereinheitlichter Kirchenstrukturen zeigt.

Aber auch Protestanten und die von ihnen stark mitangestoßene ökumenische Bewegung wissen, dass das Drängen auf sichtbare »Ein«heit nicht nur ein ästhetisches oder machtorganisatorisches Projekt darstellt: Vor allem in Fragen von Ethik und Sozialethik wird schnell deutlich, dass sich die Kirchen nicht hinter ihrer Pluralität verstecken und einem ernsthaften Diskurs über das Grundverständnis christlicher Lebensgestaltung ausweichen dürfen. Inwieweit weiß sich denn die Auslegung des Evangeliums in Wort, Schrift und Leben, die eine grundsätzliche Pluralität von Partikularen betont, überhaupt noch gebunden an Hoffnung, Weisung und vor allem auch Herausforderung Gottes? Wird Konfession überhaupt noch im Sinne von »grundlegendem Bekenntnis« verstanden? Ist das Evangelium noch erkennbar in der Vielfalt der Perspektiven? Wird es hörbar auch im möglichen Unterschied, ja auch im kritischen Gegenwind zu Kultur und Zeitgeist? Oder wird hier die Entscheidung nicht letztlich auch zu einer Machtfrage, wenn sich eben die mächtigste Stimme der Auslegung durchsetzt? Um dieses Problem wird zur Zeit heftig gerungen, in der weltweiten interkonfessionellen Ökumene ebenso wie in den evangelischen Weltbünden, wenn es um Fragen der Sexualethik, der Verantwortung für weltweite Gerechtigkeit, um Rassismus und Genderfragen oder um die Solidarität mit den Opfern von Globalisierung und Bankenkrise geht. Haben Kirchen das Recht, in diesen Fragen eine beliebig wirkende Vielfalt zu pflegen? Können sie diesem Problem durch (inner-)kirchliche Macht- und Entscheidungsstrukturen entkommen, also (überregionale?) Gremien schaffen bzw. nutzen, die über diese Fragen einfach entscheiden? Oder wird man nicht umhin können, den mühsamen Weg des – unbedingt auch theologischen – Ausdiskutierens zu gehen und auf diesem Weg auch unterschiedliche (Zwischen-)Lösungen in verschiedenen Kontexten zu akzeptieren? [27]

Diese Fragen deuten auf wichtige Probleme mit der Pluralität für die protestantischen Kirchen hin. Das von ihnen geschätzte Modell der »versöhnten Verschiedenheit« muss daher auch als Einheitsmodell, also als »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« verwirklicht werden können, etwa indem zwischenkirchliche Diskursstrukturen geschaffen und gepflegt werden. Das zeigt nicht zuletzt die Geschichte des ökumenischen Zusammenwachsens der reformatorischen Konfessionen, die sich nach der Leuenberger Konkordie 1973 zu einer Kirchengemeinschaft zusammengeschlossen haben. Es zeigt sich weiterhin an den Konfliktlösungsstrategien, die im Lutherischen Weltbund zur Lösung von Differenzen entwickelt wurden, die sich innerhalb der Lutherischen Kirchengemeinschaft auf Weltebene in Fragen von Ehe, Familie und GenderFragen, also im Bereich der Ethik, aber auch im Amtsverständnis, nämlich in Bezug auf die Ordination von Frauen, seit der Reformationszeit »hinzu«entwickelt haben.

4.1.1 Von versöhnter Verschiedenheit zur Einheit in versöhnter Gemeinschaft: die Leuenberger Kirchengemeinschaft als Inspiration für die gesamte Ökumene

Nicht mehr vielen Menschen steht heute noch vor Augen, dass Lutheraner und Reformierte erst seit 1973 in Deutschland und in Europa gemeinsam Abendmahl feiern können. Das war das Ergebnis der Leuenberger Konkordie, also der Einigungserklärung »reformatorischer Kirchen in Europa«, zu der man 1973 auf dem Leuenberg bei Basel gefunden hatte. Form und Entwicklung dieser Kircheneinheit ist für die Ökumene in evangelischer Sicht auf europäischer Ebene wegweisend geworden. Sie beruht darauf, dass für die gegenseitige Anerkennung als Kirche Jesu Christi und die Entdeckung der »wahren« Einheit der Kirche nicht mehr notwendig und ausreichend ist als die Übereinstimmung in der »rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente« (Leuenberger Konkordie 2). Die Konkordie greift damit auf reformatorische Einsichten zurück, wie sie etwa in der Confessio Augustana (im Folgenden: CA) (Artikel VII) oder im Heidelberger Katechismus (Fragen 54 f; 75 f) formuliert wurden. Wo immer eine Kirche diese Kennzeichen der wahren Kirche aufweist, ist sie als Teil der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche anzuerkennen. Hier muss keine Übereinstimmung in der Gestalt dieser Kirchen, etwa in ihren Amtsstrukturen, vorliegen. Vielmehr ist die gegenseitige Anerkennung als Kirche die Voraussetzung dafür, dass sich die so gegenseitig anerkennenden (»versöhnten«) verschiedenen Kirchen miteinander auf den Weg machen, ihre Einheit je konkret zu realisieren und zu verstetigen. Das geschieht in der Leuenberger Kirchengemeinschaft in einem Prozess der ständigen Prüfung noch bestehender Differenzen in Lehre und Gottesdienstgestaltung, wobei gleichzeitig Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, gegenseitige Anerkennung der Ämter und möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt (Leuenberger Konkordie 29) ermöglicht werden sollen. Es musste also 1973 z. B. keine gemeinsame Formulierung der unterschiedlichen Denkformen der Realpräsenz in reformierter und lutherischer Tradition gefunden werden, um gemeinsam Abendmahl zu feiern. Sogar die entsprechenden gegenseitigen Verwerfungen in den reformatorischen Bekenntnisschriften wurden nicht gestrichen. Aber man bekräftigte in der Konkordie, dass diese Verwerfungen die heutigen Kirchen nicht mehr träfen und man sich auf das gemeinsame Grundverständnis der Sakramente Taufe und Abendmahl stützen könne (Leuenberger Konkordie Teil 3). Die bleibenden Unterschiede zwischen den Traditionen werden für nicht kirchentrennend gehalten, das heißt: Sie stehen einer gegenseitigen Anerkennung als Kirche Jesu Christi nicht im Wege. Dennoch soll in der Kirchengemeinschaft in einem stetigen Prozess ein Dialog über diese Fragen in regelmäßig stattfindenden Lehrgesprächen weiter geführt werden.

Die durch die Leuenberger Konkordie begründete Kirchengemeinschaft beruht auf dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums. Dies reicht für eine Kirchengemeinschaft aus. Damit soll vor allem betont werden, dass die Kirchengemeinschaft nicht notwendig auf gemeinsamer Lehrformulierung basiert. Noch bleibende Differenzen werden entweder ausgeglichen, weiter bearbeitet oder als nicht-kirchentrennend beibehalten [28]. Das hier begründete Verständnis von Kirche fußt auf der reformatorischen Rechtfertigungslehre, der zufolge Gottesbeziehung und Zusprechung der Gerechtigkeit Christi allein auf die Initiative Gottes in Jesus Christus und dem Heiligen Geist zurückzuführen ist. Die so zum authentischen Leben befreiten Christenmenschen dürfen sich daher zu Zeugnis und Dienst für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, also für ein freudiges menschenwürdiges Leben, in die Welt entsendet fühlen (vgl. Leuenberger Konkordie Teil 2). Für das Selbstverständnis der Kirchen bedeutet das, dass sie sich selbst ausdrücklich zurücknehmen hinter die Initiative Gottes. Kirchengemeinschaft nach diesem evangelischen Verständnis ist somit ein dynamisches Konzept, das von ständiger Erweiterung und Vertiefung ausgeht. Diese Dynamik schließt Bußfertigkeit und Erneuerungsbereitschaft der Kirchen ein (ecclesia semper reformanda). Sie lässt Kirchen in der Verbindlichkeit der Gemeinschaft wachsen und immer deutlichere Ausdrucksformen der Einheit finden. So sind die Kirchen der Kirchengemeinschaft miteinander unterwegs unter der Zielperspektive einer »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« [29], wie es erstmals der Lutherische Weltbund 1977 in Dar-es-Salam formulierte. Der Leuenberger Kirchengemeinschaft haben sich inzwischen auch die methodistischen Kirchen sowie die Herrnhuter Brüdergemeine Europas angeschlossen. Die einzelnen Kirchen werden durch eigene Unterzeichnung Mitglied der GEKE. Die Leuenberger Konkordie wurde inzwischen von insgesamt 105 Kirchen in ganz Europa und einigen Kirchen europäischen Ursprungs in Südamerika unterschrieben. Die Zahl der heutigen Mitglieder hat sich allerdings durch Kirchenfusionen auf 94 reduziert. Das zeigt, dass es im Einzelfall nicht bei der Feststellung von Kirchengemeinschaft bleiben muss, sondern dass es aufgrund regionaler Entwicklungen zu Fusionen zwischen in Kirchengemeinschaft stehenden Kirchen kommen kann. Mittlerweile lässt sich innerhalb der GEKE eine Tendenz beobachten, anstatt der Verschiedenheit die Vielfalt zu erwähnen und von »Einheit in versöhnter Gemeinschaft« zu sprechen.

Dieses evangelische Modell der Kircheneinheit als Kirchengemeinschaft besteht somit aus drei Konstituenten:

  1. aus einer Differenzierung von grundlegendem Verständnis von Evangelium und Sakramenten und weiteren, nicht-kirchentrennenden Differenzen;
  2. aus der Reihenfolge von a) Kirchen-Anerkennung nebst Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und dann b) stetigem Dialog;
  3. aus einem eschatologischen Verständnis von voller Kircheneinheit, die mit dem Evangelium bereits gegeben ist, aber zugleich im Miteinander gestaltet und geformt werden muss [30].

Diesem Einheitsverständnis liegt also ein eschatologisch-dynamisches Verständnis von Eph 4,3-6 zugrunde (»Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung, eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen«). Es geht nicht darum, die gegebene Einheit als historisch ursprünglich zu sehen, also die »vor-konfessionelle«, »apostolische« Zeit der frühen Kirche als einheitlichen Idealzustand zu behaupten, der dann im Laufe der Kirchengeschichte »zerfallen« sei. Dann wäre auch in der Folge von Eph 4,3ff die Pluralität der Konfessionen ein Zeichen der Sünde, der Zerstörung der gottgegebenen Einheit. In der Sicht der Kirchen der Reformation ist vielmehr von Anfang an die Pluralität der Kirchen ein Kennzeichen ihrer Lebendigkeit, in der sie stets unterwegs sind, die von Gott gegebene implizite Einheit des Christusglaubens verschiedener Gemeinden/Kirchen in die je kontextuell mögliche Gemeinschaftsform, in eine explizite Einheit also, zu realisieren. In dieser Position ist eine gegenseitige Anerkennung als »wahre« Kirche Jesu Christi ohne einen breiten Lehrkonsens möglich, und es ist ausreichend, in der anderen Kirche wahrzunehmen, dass hier »das Evangelium recht gepredigt und die Sakramente recht verwaltet« (CA VII) werden.

Seit der Leuenberger Konkordie wird nun diskutiert, ob diese Art von Kirchengemeinschaft übertragbar sein könnte auf die gesamte ökumenische Bewegung [31]. In »versöhnter Verschiedenheit« könne volle kirchliche Gemeinschaft auch zwischen rechtlich selbstständigen Kirchen bestehen, die weiterhin ihrem Bekenntnis, ihrer Ordnung und ihren gottesdienstlichen Traditionen verpflichtet bleiben. Eine Einigung in der Mitte mache Kirchengemeinschaft möglich, die im Peripheren durchaus Unterschiedliches zulässt. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, wie sehr dieses Modell des »gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums« geprägt von der Konstellation des Diskurses zur Reformationszeit und in ausdrücklicher Abgrenzung von der römisch-katholischen Ekklesiologie entstanden ist. Wenn es also so klingt, als könne man geradezu außerhalb des Wirkungsbereichs von Kirche zum »Verständnis des Evangeliums« gelangen, so muss man eigentlich mithören, welche Form von Kirche hier ausgeschlossen werden soll.

Diese Position wird bestärkt durch weitere Beispiele gelebter Kirchengemeinschaft nach dem Leuenberger Modell wie z. B. der United Church of Christ (im Folgenden: UCC) und der früheren Evangelischen Kirche der Union (im Folgenden: EKU) und der jetzigen UEK. Die UCC, eine nordamerikanische Einwandererkirche mit mehreren Wurzeln, von denen eine in der Kirche der Altpreußischen Union, der späteren EKU, liegt, hatte aus ihrer Geschichte begründet schon immer ein besonderes Interesse an ökumenischen Beziehungen nach Deutschland. So stellten die EKU und die UCC 1980/81 volle Kirchengemeinschaft zwischen beiden Kirchen in Deutschland und Nordamerika fest. 2011 wurde dieser Beschluss für die UEK erneuert. Diese Beziehung ist seitdem kontinuierlich gewachsen und vertieft worden. Diese Gemeinschaft wird lebendig gehalten durch gemeinsame Pastoralkollegs, Sondervikariate und Pfarreraustausch, durch Jugendaustausch und Partnerschaften auf der Ebene von Kirchengemeinden und Kirchenkreisen, durch gemeinsame Projekte zu nachhaltiger Entwicklung in Kirchengemeinden sowie durch gegenseitige Besuche auf der Ebene der geistlichen Leitung und zu Synoden. So hat sich das Modell der Kirchengemeinschaft zu einem Instrument weiterentwickelt, interkontinentale ökumenische Beziehungen zu gestalten und zu vertiefen.

Der GEKE vergleichbar ist die Gemeinschaft protestantischer US-amerikanischer Kirchen, die sich in der »Formula of Agreement« zusammengeschlossen haben: Presbyterian Church (USA), Reformed Church in America, ELCA und die UCC. Auch auf andere weltumspannende Kirchengemeinschaften kann verwiesen werden, wie sie in der Regel zwischen bekenntnisgleichen Kirchen, wie den lutherischen Kirchen durch ihre Mitgliedschaft im Lutherischen Weltbund, und den Kirchen innerhalb der anglikanischen Weltgemeinschaft bestehen [32]. Innerhalb bekenntnisverschiedener Kirchen wurde 1992 Kirchengemeinschaft erklärt zwischen skandinavischen und baltischen lutherischen Kirchen einerseits und den anglikanischen Kirchen der Britischen Inseln andererseits. Zusätzlich zu den innerevangelisch relevanten Themen für die Erklärung von Kirchengemeinschaft tritt bei diesen der so genannten Porvoo-Gemeinschaft [33] zugehörigen Kirchen das Interesse am Bischofsamt, das als Amt der geistlichen Leitung und Einheit als konstitutiv für das Kirchesein angesehen wird.

Eine Kirchengemeinschaft hat an der einen Kirche Jesu Christi Teil und ist selbst Kirche. Als eine Gemeinschaft von Kirchen, die im Verständnis des Evangeliums übereinstimmen und die eine gemeinsam verantwortete Praxis der Sakramentsverwaltung haben, ist die EKD ebenfalls Kirche [34]. Das gilt in gleicher Weise auch für die UEK. Es kann kein Zweifel sein, dass das Leuenberger Modell auch in Bezug auf die gesamte Ökumene interessant sein könnte. In einem eschatologisch geprägten Einheitsverständnis erlaubt es vor allem, die Möglichkeit von Zwischenstadien der Einheit (»gestufter Einheit«) ernsthaft zu würdigen. Auf jeden Fall will das Leuenberger Modell einem Verdacht von Rückkehrökumene oder uniformierter Einheit deutlich entgegenwirken. Für einen ökumenischen Modellcharakter der Leuenberger Kirchengemeinschaft spricht nicht zuletzt die wachsende Pluralisierung der Traditionen und Kontexte in der weltweiten Ökumene. Aber auch die zunehmende Binnendifferenzierung der Konfessionen, in denen sich mehr und mehr die ehemals konfessionstypischen Differenz-Merkmale auch innerhalb der Konfessionen finden, können als Grund für ein Ökumene-Modell der Kirchengemeinschaft in »versöhnter Verschiedenheit« genannt werden. Mindestens aber wäre das Modell Rahmen für eine hypothetische Zielorientierung für das ökumenische Gespräch und ein gemeinsam gelebtes Zeugnis in der Welt aller Kirchen, also einschließlich derer, die nicht zur reformatorischen Tradition im engeren Sinn gehören.

So lassen sich auch Äußerungen von Papst Franziskus verstehen. Noch in seiner Zeit als Bischof in Argentinien schien ihm eine Ökumene zwischen Evangelischen und Katholiken in versöhnter Verschiedenheit offenbar bedenkenswert: »Wir fühlen uns als Katholiken und Protestanten heute einander näher, wir leben miteinander, mit den Unterschieden. Man sucht nach einer versöhnten Verschiedenheit […] Ich halte nichts davon, dass man heute in den Kategorien der Einheitlichkeit oder der vollständigen Einheit denkt; vielmehr geht es um eine versöhnte Verschiedenheit, zu der gehört, dass man gemeinsam unterwegs ist, gemeinsam betet und arbeitet und miteinander die Begegnung mit der Wahrheit sucht.« [35] Es wäre also durchaus zu fragen, ob nicht die ökumenische Annäherung im 20. Jahrhundert und die darin implizit erfahrene gemeinsame Christusbezogenheit eine grundsätzlich konstruktive Perspektive auch auf die Differenzen zwischen nicht bekenntnisgleichen Kirchen erlaubte, wie sie nicht zuletzt in den Erfahrungen mit der Methode des differenzierten Konsenses in der »Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung« zwischen Lutheranern und Katholiken vorliegen. Auch hier wird eine Alternative geboten zum Prinzip des umfassenden Konsenses, und es bleibt Aufgabe der beteiligten Kirchen, die ekklesiologischen Konsequenzen dieser kirchlich rezipierten Einigung auszuarbeiten. Möglicherweise müssten dafür Modelle von gestufter oder unsymmetrischer Einheit ausdrücklicher als Modelle auf dem Weg in die Einheit geprüft und realisiert werden.

Aber auch die nicht-reformatorischen Kirchen haben in ihrer Geschichte und Theologie Modelle innerkirchlicher Pluralität ausgebildet, so zum Beispiel Katholizität/Synodalität (russisch: Sobornost) in der Orthodoxie bzw. Konziliarität im Katholizismus. Groß bleibt hier freilich der Wunsch, die Einheit der Christenheit sichtbar in einer Kirche zu leben, die aber sehr wohl in sich selbst eine Pluralität in versöhnter Verschiedenheit aufweisen mag. Ohne der Gefahr der verzerrenden Typologisierung zu erliegen, dürfen wohl orthodoxe und römisch-katholische Tradition/Kirche(n) als von dieser ökumenischen Vision getragen gesehen werden. Die Hoffnung, von der die gegenwärtige multilateral-ökumenische, theologische und praktisch-kirchliche Arbeit getragen wird, ist darauf gerichtet, dass das Ziel der einen versöhnt-verschieden pluralen, sichtbaren Kirche auch schon »unterwegs« in Form und Ausdruck in gegenseitiger Entdeckung, Würdigung und Anerkennung des gemeinsamen Christusbezuges besteht. Auch das wäre eine eschatologische Akzentsetzung, in der das Ziel bereits Gegenwartsrelevanz hat. Wie im (evangelischen) Streben nach Kirchengemeinschaft, so wird man auch im ökumenischen Engagement innerhalb einer Zielperspektive der einen sichtbaren Kirche auf die sich hier entfaltende Hoffnung setzen dürfen, dass sich den Kirchen unterwegs »Zwischenstadien« innerhalb eines »gestuften Verfahrens zur Verwirklichung dieses ökumenischen Zieles« [36] eröffnen mögen. Dabei spielt es eine große Rolle, inwieweit Differenzen innerkirchlich wie zwischenkirchlich auch als eine Chance für ein tieferes Verstehen und eine lebendigere Bezeugung des Evangeliums gesehen werden können.

In der Arbeit im multilateralen ökumenischen Dialog zeigt sich den konkret Beteiligten immer wieder, dass auch in den anderen Kirchen stets nach einem adäquateren Verständnis des Evangeliums gesucht wird. Insofern wären auch für die eigene theologische Reflexion entsprechende Diskurse aus dem innerkatholischen wie auch innerorthodoxen Diskussionsraum interessant. In diesem Sinne entwickelte sich zum Beispiel ab den 1980er-Jahren eine ökumenisch-theologische Debatte zur Trinitätstheologie. Ähnliches wäre denkbar hinsichtlich gegenwärtiger Fragen zum Verständnis der Kreuzestheologie oder der Theodizee. Vor allem aber Fragen zum Verständnis so zentraler christlicher Begriffe wie Glaube und Sünde, die in der gegenwärtigen deutschen gesellschaftlichen Kommunikation nicht mehr selbstverständlich sind, könnten mit Gewinn im ökumenischen Austausch neu erschlossen werden. Für einen solchen ökumenischen Austausch hat sich inzwischen der Begriff »Ökumene der Gaben« herausgebildet, in dem eine grundsätzliche Würdigung der konfessionellen Vielfalt noch vor jeder Kircheneinheit oder -gemeinschaft liegt. Sie ist verbunden mit der Bereitschaft, vom anderen zu lernen und Unterschiede als von Gott nicht nur zugelassen, sondern als gegeben anzuerkennen, aber auch aus den Unterschieden für eine kreative Neu-Erschließung des Glaubensverständnisses Gewinn zu ziehen. In diese Richtung lässt sich zweifellos auch Papst Franziskus in einem Interview im August 2013 verstehen, wenn er sagt: »In den ökumenischen Beziehungen ist dies wichtig: Das, was der Geist in den anderen gesät hat, nicht nur besser zu erkennen, sondern vor allem auch besser anzuerkennen, als ein Geschenk auch an uns. […] Wir müssen vereint in den Unterschieden vorangehen. Es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.« [37]

Allerdings sind Differenzen nicht nur ein Zeichen kontextueller Lebendigkeit. Sie können auch Grund für Auseinandersetzungen werden, die einen status confessionis, einen Bekenntnisnotstand, offenbaren. Dieser wäre dadurch gekennzeichnet, dass sich die Differenzen nicht so einfach als »Adiaphora« vom Verständnis des Evangeliums trennen lassen. Sie werfen also mindestens einen zweifelhaften Schatten auf das Christusbekenntnis im Verständnis des Evangeliums. Noch deutlich im ökumenischen kollektiven Gedächtnis sind entsprechende Auseinandersetzungen im Rahmen der Apartheid in den Kirchen Südafrikas, die von diesen bekanntlich biblisch begründet wurde. 1977 hatte der Lutherische Weltbund Rassismus zum status confessionis erklärt und vier weiße deutschsprachige Kirchen in Südafrika und Namibia aus dem Weltbund ausgeschlossen [38]. Sachlich dasselbe geschah, als der Reformierte Weltbund Apartheid zur Häresie – und damit als nicht vereinbar mit einem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums – erklärte und 1981 die ebenfalls ausschließlich Weißen zugängliche südafrikanische Nederduitse Gereformeerde Kerk als Mitglied des Bundes suspendierte. Im Zeitalter des Postkolonialismus wird heute zunehmend deutlich, wie sehr bis in die Gegenwart hinein mit den Auswirkungen von Rassismus in verschiedenen Teilen der Welt zu rechnen ist.

Als ein weiteres Beispiel aus der weltweiten Ökumene mag dienen, dass die Kirchen aller Konfessionen in Indien bis in die eigenen Reihen hinein mit dem Problem der Integration der so genannten Dalits zu kämpfen haben. Obwohl das traditionelle soziale Kastensystem seit der Konstitution der indischen Demokratie mit der Verfassung aus dem Jahr 1949 offiziell abgeschafft ist, werden bestimmte Gruppen von Menschen nach wie vor als »Kastenlose« behandelt. Quotenregelungen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und sozialen Positionen sind ein Versuch, dagegen zu wirken. Die Kirchen in Nord- und Südindien sind in eigener Weise von dem Problem betroffen. Sie sind entweder traditionell Dalit-frei oder bestehen mehrheitlich aus Dalit-Mitgliedern. Zwei Drittel der knapp 30 Millionen Christen in Indien sind Dalits. Aber selbst wenn sie die Mehrheit in einer Kirche bilden, muss auch hier noch um ihre Gleichwertigkeit gerungen werden. »Wir bekennen unsere Komplizenschaft im Kastendenken«, konstatierten die christlichen Kirchen im Oktober 2010 auf der Nationalen Ökumenischen Konferenz zum Thema Gerechtigkeit für Dalits. Trotz dieses Bekenntnisses ist jedoch seitdem nicht viel passiert, Diskriminierung gehört weiterhin auch zum kirchlichen Alltag. »Ich teile das Abendmahl mit Dalits, aber meine Tochter soll niemals einen Dalit heiraten.« Ein solches Votum ist keine seltene Aussage unter indischen Christen. Dalits werden von Höherkastigen auf Friedhöfen getrennt und bekommen häufig geringere Positionen innerhalb der kirchlichen Hierarchie zugewiesen. Seit Jahren fordern einige Dalit-Christen Richtlinien und Quotenregelungen wie im indischen Staatsdienst auch für die Kirchen, doch bisher ohne Erfolg.

Ein anderes in der Ökumene virulentes Thema sind die Differenzen in der Sexualethik (Homosexualität u. a.) [39]. Innerhalb der evangelischen Kirchen besteht zudem weiterhin nach wie vor keine Einhelligkeit in Bezug auf die Ordination von Frauen [40], wiewohl in Deutschland weitgehend die Meinung besteht, dass dies ein Identitätsmarker für den gesamten Protestantismus sei, der eine direkte Konsequenz des gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums sei [41]. Bezüglich dieser Fragen ist innerhalb der protestantischen Kirchen kein status confessionis erklärt. Allerdings werden diese Differenzen offenbar nicht als grundsätzlich kirchentrennend angesehen und man hofft, sie in zeitnaher Zukunft ausräumen zu können. Das wird durch einen intensiven innerkirchlichen und zwischenkirchlichen Diskursprozess zu erreichen versucht, der theologisch wiederum auf die kriteriologische Funktion der reformatorischen Rechtfertigungslehre setzt.

Die partnerkirchliche Zusammenarbeit der in der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) verbundenen Kirchen aus Afrika, Asien und Deutschland zeigt, wie inner- und zwischenkirchliche Dialogprozesses zur Frage der Zulassung von Frauen zum ordinationsgebundenen Amt zum Erfolg führen können: Auch wenn die Generalsynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania (im Folgenden: ELCT) schon 1990 die Tür zur Ordination von Frauen geöffnet hatte, hielten sich einige Diözesen, u. a. die ansonsten in Süd-Nord-Partnerschaftsarbeit engagierte Nord-West-Diözese (Bukoba), hinsichtlich der Frauenordination auffallend zurück. Der von der Diözesanleitung immer wieder verordnete »zusätzlich notwendige Bildungsprozess« auf Gemeindeebene und in der PfarrerInnenschaft fand, bevor man zu solch einem Schritt kommen könne, betrieben und gestützt von gut ausgebildeten Theologinnen der eigenen Diözese sowie der behutsamen, aber nachdrücklichen Begleitung durch die Gremien und Theologinnen und Theologen der Vereinten Evangelischen Mission (im Folgenden: VEM) über einen langen Zeitraum statt. So kam es erst 2006, 16 Jahre nach dem Grundsatzbeschluss der ELCT, zu einem selbstbewusst und von (nahezu) allen in der Diözese mitgetragenen positiven Beschluss, der aber auch nicht mehr – wie in anderen schneller positiv reagierenden Diözesen – infrage gestellt wurde [42]. Der Umstand, dass entsprechende Auseinandersetzungen bis heute in der GEKE stattfinden, zeigt zugleich, dass die Thematik keineswegs nur eine Herausforderung für die evangelischen Kirchen Afrikas und Asiens darstellt, sondern ebenso auch für die evangelischen Kirchen Europas.

Die lutherische Theologie hat in der Tat mit Konzeptionen der Differenz (zwei Reiche, Gesetz und Evangelium, Ordnung und Heil) versucht, das Problem der Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit von Konsequenzen des Verständnisses des Evangeliums zu bewältigen. Dabei wird unterschieden zwischen »weltlich« und kulturell flexiblen Auslegungsbereichen (weltliches Reich, Gesetz) auf der einen und einer Art »Master-Perspektive« (geistliches Reich, Evangelium) auf der anderen Seite. Diese Master-Perspektive hat insofern eine steuernde Funktion, als sie die je aktuellen »weltlichen« Konstellationen mit der Frage nach dem evangeliumsgemäßen schöpferischen Willen Gottes konfrontiert. Man kann auch sagen: Sie erinnert an die Stimme des Evangeliums, die in der immer kulturgebundenen Lebensgestaltung gehört und zu realisieren versucht werden soll.

Der Rechtfertigungsbotschaft zufolge dürfen sich Menschen in der Gottesbeziehung von Gott bedingungslos angenommen wissen – und auf diese »frohe Botschaft« vertrauend, dies würdigend und daraus Mut schöpfend ihr Leben gestalten. Sie müssen sich also dazu von Gott nicht in staatliche, gesellschaftliche, kulturelle oder eben auch kirchliche Institutionen (»Mächten und Gewalten«) hineingestellt oder gar gezwungen sehen, um ihr Leben schöpfungsgemäß zu gestalten. Das ist gemeint, wenn Protestanten sagen, die Menschen seien von Gott »aus Glauben allein gerechtfertigt«. Deutlich ist, wie sehr durch dieses Verständnis der freien Gottesbeziehung ein normativer, fundamentalistischer Biblizismus ebenso ausgeschlossen werden soll wie eine Ermächtigung der Kirche als derjenigen, die über die Auslegung des Evangeliums dogmatisch-normativ zu befinden habe. Es ist eher ein dem Evangelium verbundener Diskursrahmen der Gläubigen, in dem man sich christliches Leben vorstellt, in dem versucht wird, die Freiheit der Menschen als Geschöpfe Gottes individuell und in ihrem sozialen Leben menschen- bzw. der Gotteskindschaft würdig zu gestalten. Kirche ist dazu da, diesen Diskurs stetig anzuregen und lebendig zu halten, im Kern durch Predigt und Sakramente, Hören und »Schmecken« des Evangeliums, der Gegenwart Gottes [43].

4.1.2 Protestantisches Selbstverständnis in der Pluralität der Perspektiven

Was bedeutet nun dieses Kirchenverständnis für die Ökumene und das Verhältnis der Konfessionen zueinander? Zunächst einmal wäre zu folgern, dass gerade die protestantischen Kirchen in diesem Selbstverständnis für ihre eigene Wahrheitsfindung auf den ökumenischen Diskurs angewiesen sind, und zwar nicht nur innerhalb der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind. So unterstreicht der evangelischerseits gebrauchte Begriff »Ökumene der Profile« (im Unterschied zu dem der »Ökumene der Gaben«, s. o.) das konfessionsspezifische Profil auch als solchermaßen im Diskurs Errungenes – z. B. die Ordination von Frauen in den meisten lutherischen Kirchen –, das auch weiterhin im Diskurs geprüft, eventuell bewahrt oder erneuert oder gar als unverzichtbarer Ausdruck des Evangeliums verteidigt und von anderen Konfessionen ebenfalls eingefordert werden muss. Gern wird in diesem Zusammenhang auch vom »Streit um die Wahrheit« gesprochen. Er wird nicht nur in Fragen der Ethik, sondern auch in Fragen der theologischen Lehre, der Glaubensreflexion geführt, und zwar sowohl innerhalb der protestantischen Kirchen, etwa innerhalb der GEKE, als auch im ökumenischen Dialog mit anderen Kirchen. Gerade in Letzterem, im ökumenischen Dialog mit anderen Kirchen, prüfen und verteidigen die protestantischen Kirchen immer auch ihre Master-Perspektive [44]. Denn wenn gemeinsam mit den anderen Kirchen nach verbindenden Strukturen und erklärender Glaubenssprache gesucht wird, dann in protestantischer Sicht so, dass die Freiheit und Gleichheit aller Gläubigen vor Gott und in der Kirche dabei nicht vernebelt werden darf. Nur wenn das sicher ist, werden sie bleibende Differenzen als nicht kirchentrennend ansehen können. Hierbei spielt die unterschiedliche Wertschätzung von pluralen Strukturen durchaus eine Rolle. Es kann kein Zweifel sein, dass die protestantischen Kirchen im zurückliegenden Jahrhundert der ökumenischen Bewegung in diesem nicht-kirchentrennenden Bereich der Vielfalt bereichert worden ist. Im ökumenischen Dialog wird die Master-Perspektive aber auch getestet, wenn er als ein Gespräch über die Formen der Vergewisserung der Gottesbeziehung erfahren wird, die die verschiedenen Kirchen gefunden haben. Protestanten müssen sich hier fragen lassen, ob sie nicht doch von mehr als nur einer den Dialog regelnden »Perspektive« der Gottesbeziehung ausgehen. Haben sie in ihrer Geschichte nicht auch bestimmte »Realsymbole« entwickelt/ gefunden, die nun zu ihrer Master-Perspektive gehören und an denen sie nicht mehr »rütteln« wollen (Schrift-, Sakraments-, Amts- und Traditionsverständnis)? Ein weiteres Feld der Bewährung des Systems der Selbstwahrnehmung durch eine nicht nur befreiende, sondern auch zur Selbstkritik und Buße auffordernde Perspektive der Rechtfertigungslehre stellen die Prozesse der Aufarbeitung zwischenkirchlicher Verletzungen dar.

Ein jüngeres Beispiel wäre der Prozess des »Healing of Memories« zwischen Lutheranern und Mennoniten auf Weltebene, der 2002 mit der Einsetzung einer internationalen Studienkommission begann und in einer öffentlichen Bitte um Vergebung der lutherischen Kirchen gegenüber Vertretern des Weltrates der Mennoniten während der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Stuttgart 2010 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte [45]. Lutheraner und Mennoniten konnten sich noch nicht auf ein gemeinsames Taufverständnis einigen. Aber sie haben wahrgenommen, wie der Streit um das Taufbekenntnis in seiner Geschichte konkret verbunden ist mit der Erfahrung von zwischenkirchlicher Gewalt.

Der Prozess stellt ein Beispiel dar für einen gemeinsamen Weg zweier Kirchen auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft. Healing of Memories, eine vom Ökumenischen Rat der Kirchen angeregte Methode, bedeutet für die Kirchen in nachreformatorischer, postkolonialer und postsozialistischer Zeit ein wichtiges Feld des ökumenischen Unterwegsseins, in dem die gegenseitige Verletzungsgeschichte, die nicht allein in der isolierten Diskussion der Lehrdifferenzen erfasst werden kann, ernst genommen und anerkannt wird. Darin zeigt sich in besonderer Weise die hermeneutische Herausforderung des ökumenischen Dialogs zwischen bekenntnisverschiedenen Kirchen. Wiewohl es richtig ist, dass Theologie nur perspektivisch geübt werden kann, so sehr lebt die christliche Theologie doch von der Hoffnung, dass eine konfessionelle Perspektive im Dialog auch »gastweise« eingenommen werden kann. Sich dieser Hermeneutik im Vertrauen auf den gemeinsamen Glauben auszusetzen, ist die Grundlage des ökumenischen Miteinanders, die im Prozess des Healing of Memories in besonderer Weise unentbehrlich ist.

4.1.3 Konsequenzen für den ökumenischen Dialog

Die Methodik des ökumenischen Dialogs, sich partiell in die Perspektive der Gesprächspartner hineinzuversetzen, kann zunächst einmal als eine Dialogweisheit im Rahmen einer allgemeinen Hermeneutik des Verstehens Plausibilität erhalten. Theologisch erfährt sie ihre Begründung im Bekenntnis des trinitarischen Wirkens Gottes. Christen und Christinnen orientieren sich an Gottes Sendung in der Menschwerdung, die, so das Credo der Inkarnation, als »Weg des Sohnes in die Fremde« verstanden wird (Karl Barth). Aus dieser Grundbewegung Gottes lebt letztlich auch die die reformatorische Rechtfertigungslehre, als deren Konsequenz die ökumenische Hermeneutik verstanden werden kann. Die Reformatoren verstanden unter Berufung auf Paulus das Versöhnungshandeln Gottes so, dass darin dem Menschen die »fremde« Gerechtigkeit (iustitia aliena) zugesprochen wird. Dem gerechtfertigten Sünder wird durch Gottes Gnade die eigene Existenz in der Gottlosigkeit zur »Fremde«. So stellt das Wort von der Versöhnung die üblichen Zuordnungen von »fremd« und »vertraut«, von »zugehörig« und »nicht zugehörig«, von »drinnen« und »draußen« infrage. Durch die Rechtfertigung wird die selbstgewählte Exklusion aller von Gott selbst durchbrochen. Das versöhnende Handeln Gottes schafft Inklusion: »Ihr seid alle eins in Christus« (Gal 3,28). Dialog setzt somit die Wahrnehmung von Verschiedenheit bzw. Unterschieden, möglicherweise gar die Erfahrung von Fremdem voraus. Aber er lebt von der Fähigkeit, das Eigene aus der Perspektive des Anderen zu sehen. Wie die Erfahrungen dialogbereiter Menschen zeigen, erscheint dabei das Eigene meist in einem neuen, oft bislang unbekannten Licht. Das kann sowohl verunsichernd wie auch bereichernd sein. In jedem Fall braucht der Dialog gegenseitiges Vertrauen, Respekt voreinander und wechselseitige Achtung. Natürlich ist er unvollständig bzw. gar kein Dialog, wenn vom Anderen von Haus aus nur das akzeptiert wird, was mit dem Eigenen kompatibel ist. Dennoch darf, ja muss man für den innerchristlichen ökumenischen Dialog sagen, dass die Partner sich dabei durchaus von der Hoffnung getragen wissen, dass sich im Gespräch die Möglichkeit der Kompatibilität auftut. Denn Kompatibilität entdecken heißt nichts anderes als: verstehen.

Ziel des innerchristlichen ökumenischen Dialogs ist es, sich gegenseitig zur Bezeugung des Evangeliums zu ermutigen und zu befähigen, wie sie je in der jeweiligen Situation gefordert ist. Ein solches Zeugnis ist in seiner Vielfalt aufeinander bezogen und kann auf sich wandelnde Herausforderungen reagieren. Aus evangelischer Perspektive setzt sich dieses Ringen um ein glaubwürdiges Zeugnis mit den Argumenten der Wissenschaft und Vernunft auseinander und lebt von einem produktiven Wechselverhältnis von Glaube und Vernunft. Einheit in Theologie und Lehre sind insofern keine Vorbedingungen für ein gemeinsames christliches Zeugnis. Theologie und Lehre repräsentieren vielmehr die kritische Reflexion und Verantwortung allen christlichen Zeugnisses gegenüber der Schrift.

Dieser Dialog der Glaubenden und ihrer Kirchen untereinander um des gemeinsamen Zeugnisses willen ist auch auf das Gespräch mit Menschen anderer Religionen und Menschen, die sich in keinem Glauben gebunden sehen, angewiesen. Denn Gott ist der Schöpfer aller Menschen. Es kann und muss also gedacht werden, dass er allen Menschen nahe ist und sie auch aus ihm leben und ihn bezeugen (vgl. Apg 17,27-28). Somit ist auch der interreligiöse Dialog eine notwendige Folge eines christlichen Ökumene-Verständnisses, das die Diskursivität des christlichen Dialogs ebenso für diesen Dialog zugrunde legt.

Grundsätzlich ist die Unterscheidung hilfreich, ob der Dialog mit Anderen oder mit Fremden geführt wird. Nicht alles, was anders ist, muss auch fremd sein. Für den ökumenischen Dialog ist die Bereitschaft unverzichtbar, Fremdheit durch gegenseitiges Kennenlernen und das Entdecken von Gemeinsamkeiten zu überwinden zu suchen. Das geschieht auf vielen Ebenen der kirchlichen Partnerschaftsarbeit, der spezifischen Gestaltung von Begegnungen, der gegenteiligen spirituellen Teilhabe. Für die evangelischen Kirchen ist nicht zuletzt die eucharistische Gastfreundschaft auf der Ebene der gegenseitigen Anerkennung der Christusbezogenheit auch ein Weg des Vertrautwerdens. Aus Fremden können Nachbarn werden. Das heißt nicht, dass die Unterschiede verschwinden. Im Gegenteil: Der Andere bleibt in gewisser – dialektischer – Weise mit der eigenen Identität verbunden [46]. In diesem Sinne lässt sich auch der Gedanke der Toleranz für den ökumenischen Dialog verwenden, wenn man ihn so versteht, dass sie eigentlich durch eine dialektische Spannung aus Konsens und Differenz gekennzeichnet ist [47].

Der Dialog ist produktiv

  • wenn er die wahrgenommenen Unterschiede in rechter Weise zuordnet und differenziert zwischen Verschiedenheit, Vielfalt und Gegensätzen. Zwischen den Kirchen ist jeder Unterschied darauf hin zu prüfen, ob ihm eine trennende Funktion zukommt;
  • wenn er im Sinne der »Kohärenz des unaufhebbar Differenten« [48] jene gemeinsame Grundlage beschreibt, auf der die bleibenden Unterschiede nicht als Zeichen der Selbstgenügsamkeit stehen bleiben, sondern einen positiven Anreiz zum Zugeständnis bilden, dass die Dialogpartner einander brauchen, um zur Ganzheit zu kommen.

Auf dieser Grundlage wissen sich die evangelischen Kirchen zum Dialog auf verschiedenen Ebenen und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen befähigt und berufen. Sie stehen im Dialog untereinander in der gelebten Kirchengemeinschaft; in der Ökumene mit den anderen Kirchen; im christlich-jüdischen Gespräch mit dem Judentum; mit dem Islam und anderen Religionen sowie mit säkularen Überzeugungssystemen. Getragen wissen sie sich dabei vom Vertrauen auf Gott, der den Menschen als sein verantwortliches Gegenüber zum Dialog geschaffen hat – oder, um eine Formulierung von Philipp Melanchthon aufzugreifen: »Wir sind zum Gespräch miteinander geboren« [49]

4.2.Konfessionelle Identität

»Ich redete von den beiden Hälften Deutschlands, der katholischen, rheinischen, bayerischen, üppigen, lebensfrohen extrovertierten West- und der protestantischen, preußischen, kargen, lebensstrengen, introvertierten Osthälfte. Die Osthälfte sei genauso Teil meiner geistigen Welt wie die Westhälfte, und ich wolle mich in ihr auch genauso bewegen, in ihr genauso arbeiten, wohnen, lieben, leben können.« [50]

Konfessionelle Mentalitäten und Stereotypen, die Bernhard Schlink hier anspricht, sind kein ausschließlich religiöses Thema. Welche Rolle spielen sie in den gegenwärtigen Herausforderungen für Kirche und Ökumene durch die globalisierte Welt (s. o., Kap. 2), in der sich gewohnte Vorstellungen von nationaler, kultureller und auch religiöser Zugehörigkeit mehr und mehr auflösen (s. o., Kap. 2.2), in der bisher konfessionell-homogene Regionen durch mehrfache Migrationsphasen konfessionell heterogener geworden sind (s. o. 2.3.1) und in der Ökumene nach dem jüngsten Generationenwechsel weitaus interkultureller geworden ist (s. o. 2.3)?

Seitdem der Begriff der Konfession für eine unvermeidbar geschichtlich-realisierte Ausprägung der Kirche Jesu Christi steht, wird über die Relevanz einer Vorstellung von konfessioneller Identität nachgedacht. Der Begriff erinnert an den Ausdruck »Kollektivperson«, den der junge Bonhoeffer als unverzichtbar für die Rede von einer kirchlichen Identität ansah. In der Vergangenheit hatte ein Identitätsmodell Pate gestanden, das auf Abgrenzung vom Anderen/Fremden beruhte. In anderen Ländern sind konfessionelle Profile nicht selten mit ethnischer/nationaler Landesgeschichte oder Kolonialgeschichte verbunden (z. B. Polen, ehemaliges Jugoslawien, Südafrika, Irland). Schon in dieser starken kulturellen Akzentuierung mag Skepsis mindestens gegenüber einem unreflektierten Rückgriff auf diese Kategorie aufkommen.

Eine Vielzahl von Kirchen ist in verschiedenen kulturellen Kontexten durch Missionsbemühungen entstanden. Grob gesprochen haben sie besonders zu ihrer Entstehungszeit zumeist das konfessionelle Profil der Missionsgesellschaft übernommen, durch deren Arbeit ihre Gründung begleitet wurde – lutherisch, reformiert-presbyterianisch, anglikanisch etc. Andererseits haben sie durch Inkulturationsprozesse das Evangelium kontextualisiert. Dazu kommt, dass in den Regionen der Welt weitere vielfältig unterschiedliche Kirchen und christliche Glaubensgemeinschaften entstanden sind wie die so genannten Afrikanischen Unabhängigen Kirchen und vor allen Dingen diejenigen Gemeinschaften und Kirchen, die der weltweit wachsenden Pfingstbewegung zuzurechnen sind. Zwischen ihnen wird die Einheit der Kirche heute verstärkt zu der theologisch-konfessionellen Frage, wer sich gegenseitig als legitimen Ausdruck des einen Evangeliums anerkennen kann – was auch Fragen von Ethik und Lebensführung einbezieht. Andererseits stellt sich die Suche nach der Katholizität des Evangeliums wieder neu, das es nur in vielen verschiedenen kulturellen Prägungen gibt [51].

In Bezug auf Mitteleuropa muss festgestellt werden, dass Prozesse der Enttraditionalisierung und Globalisierung dazu führen, dass die klassischen kirchlichen konfessionellen Profile nicht mehr eindeutig von Mitgliedern getragen und gelebt werden und somit im Bewusstsein der Menschen unscharf werden. Man heiratet kaum noch unter Berücksichtigung der Kirchenzugehörigkeit, konfessionsverschiedene Familien werden – jedenfalls in Mitteleuropa – eher die Regel als die Ausnahme. Noch differenzierter muss man das Bild zeichnen, wenn man ernst nimmt, dass die Gesellschaften mehr und mehr von Migration geprägt sind und weiter sein werden. Vor allem in Bezug auf Jugendliche wird heute ernsthaft von »post-denominational identities« gesprochen (s. o., 2.2.2). Die Kirchen müssen sich selbstkritisch fragen, ob sie nicht in einer Gegenbewegung gegen die als Gefahr befürchtete Entschärfung überkommener konfessioneller Profile auch rekonfessionalisierenden Tendenzen Raum geben. Es ist keine Frage, dass eine Kompetenz aus weltweiter ökumenischer Erfahrung hier weitaus notwendiger ist als gemeinhin angenommen wird. Aber auch die Kulturwissenschaften können die Perspektive weiten. Erfahrungen in der interkulturellen Pädagogik haben hier einen Identitätsbegriff, der sich aus der Abgrenzung heraus definiert, fragwürdig werden lassen. Die Kulturwissenschaften beschreiben Identitätsbildung deshalb nicht nur durch Abgrenzung, sondern als einen komplexen Prozess. Er ist geprägt von diskursiver Auseinandersetzung, in der die Subjekte mit sozialer Außenzuschreibung oder vorgegebenen Denk- und Lebensformen in ihrem kulturellen und kirchlichen Nahbereich ringen. Nicht selten spielen Stereotypen eine Rolle. Entsprechend vielfältig ist das Feld der Identitätsmodelle gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Von diskursiver, gebrochener oder multipler Identität ist die Rede [52]. Nicht zuletzt die jungen aus der Mission hervorgegangenen Kirchen werden sich in einem komplexeren Identitätsverständnis eher wiederfinden können.

In den Kirchen jedoch scheint noch immer die Vorstellung verbreitet, es werde im Prozess der religiösen Sozialisation zuerst eine konfessionelle Identität ausgeprägt, die dann in den Diskurs mit anderen Identitäten (Konfessionen oder Religionen) eintreten könne. Implizit wird dabei freilich eine Homogenität religiöser Sozialisationsprozesse vorausgesetzt, wie sie auch in Deutschland kaum noch anzutreffen ist. In einer pluralistischen Gesellschaft mit multikonfessionellen, multireligiösen, konfessionslosen und areligiösen Familien und Lebensformen kann davon nicht mehr ausgegangen werden [53]. Bei der Wahl der Lebenspartner /-partnerinnen spielt die Konfessionszugehörigkeit in der Regel keine Rolle mehr. Immer mehr – wiewohl auch noch in geringerem Ausmaß – gilt das auch für die Religionszugehörigkeit. Stattdessen scheint es plausibler, die Einsichten in den Zusammenhang von Identität und Dialog ernst zu nehmen, der zufolge Menschen in pluralen Gesellschaften ihre religiöse Identität in ihrer jeweiligen Lebenswelt in Auseinandersetzung und Begegnung formen. Mindestens also hat sich konfessionelle Identität permanent einem Dialog zu stellen und auszusetzen. Der Dialog mit dem Anderen/Fremden hat freilich eine äußerst persönlichkeitsbildende Relevanz. Die Kirchen haben gerade mit der Ökumene und der interreligiösen Begegnung die Chance, sich in diesen Prozess der Persönlichkeitsbildung sinnvoll einzubringen. Sie haben aus der innerchristlichen Ökumene eine reiche Erfahrung einzubringen, in der sie eine Kompetenz der Selbstverortung im Gegenüber unterschiedlicher christlicher Prägungen ausbilden konnten. Der Dialog mit dem Ziel des gemeinsamen Zeugnisses spielt dafür eine wesentliche Rolle. Es gilt nun, in der Reaktion auf die gegenwärtigen Herausforderungen auf diese Erfahrungen und Kompetenzen in der kirchlichen Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bewusst zurückzugreifen.

Für die ökumenische Diskussion ist das Verhältnis von vorgestellter konfessioneller Identität und einer transkonfessionellen/universalen christlichen Verbundenheit ausschlaggebend. Daher ist es unverzichtbar, dies in den Praktiken zu leben, die die Einheit sichtbar machen, nämlich in gemeinsamem Gebet, gemeinsamer Schriftauslegung, gemeinsamem Gottesdienst und nicht zuletzt in der einen Taufe. Man kann sagen, dass der Sinn von Ökumene darin liegt, eine solche transkonfessionelle christliche Verbundenheit zu entwickeln und zu pflegen.

In evangelischer Perspektive leben Christen und Christinnen diese Gemeinschaft aus der Kraft der in Christus gestifteten Sakramente, in denen er selbst die Kirche in die von ihm geschenkte Einheit ruft. Darum sind Schritte der gegenseitigen Anerkennung der Taufe, die in den letzten Jahren – etwa mit der Magdeburger Erklärung, wiewohl leider ohne die Freikirchen – gegangen worden sind, von grundlegender Bedeutung für die sichtbare Einheit der Kirche. In gleicher Weise kann die eucharistische Gastbereitschaft gegenüber allen Getauften in der Evangelischen Kirche als signifikantes Grundmerkmal ökumenischer Beziehung verstanden werden. Dieses Verständnis von der in der Verschiedenheit versöhnenden Kraft der Sakramente gilt es, einladend und werbend in den ökumenischen Diskurs und das ökumenische gottesdienstliche Leben einzubringen.

Das apostolische Glaubensbekenntnis spricht davon, wenn es heißt: »Ich glaube an (…) die heilige, christliche (=katholische) Kirche«, das nizänokonstantinopolitanische Glaubensbekenntnis spricht an dieser Stelle sogar von der »einen heiligen christlichen/katholischen apostolischen Kirche« [54]. Hier wird von einer transkonfessionellen Kirche im Singular gesprochen. In protestantischer Tradition hat sich dafür der Ausdruck »unsichtbare Kirche« herausgebildet. Er ist verständlich in der Tendenz, die partikulare Kirche unverwechselbar als die empirisch erfahrbare Kirche zu würdigen. Er ist aber zweifellos auch missverständlich, weil er so gehört werden kann, als werde die Verbundenheit mit anderen christlichen Konfessionen nicht als zur eigenen kirchlichen Identität zugehörig betrachtet. Damit aber entstünde ein exklusivistisch-konfessionalistisches, im Grunde häretisches Selbstverständnis. Man kann sagen, dass die Kirchen im ökumenischen Dialog versuchen, sich gegenseitig vor dieser Häresie zu bewahren. Die ökumenische Bewegung hat die Verbundenheit/Einheit der Kirchen untereinander zudem immer auch als Basis einer gemeinsamen Perspektive verstanden, sich für eine »Einheit der Menschheit« zu engagieren. Auch das darf man mithören, wenn im Glaubensbekenntnis von der »einen christlichen (katholischen) Kirche« die Rede ist.

Was aber bedeutet das für die Frage der konfessionellen Identität? Der internationale ökumenische Arbeitskreis Groupe des Dombes [55] hat 1994 in einer Studie für die »Umkehr der Kirchen« geworben, in der sich die Konfessionen ihrer gemeinsamen christlichen und ebenso ihrer kirchlichen Identität versicherten. In der Umkehr sollten sie Abstand nehmen – Buße tun – von einem exklusivistischen Habitus [56]. Im Nachdenken um konfessionelle Identität geht es also um nicht weniger als darum, die Grenzlinie zum häretischen Exklusivismus zu bestimmen. Die Studie unterscheidet drei Typen von Identität: christliche, konfessionelle und kirchliche Identität. Diese drei Typen werden in bestimmter Weise miteinander ins Verhältnis gesetzt, wodurch ein ökumenisches Kirchenverständnis entwickelt wird: Kirche erweist sich als eine Gemeinschaft von Kirchen, die sich gerade in ihrem Selbstverständnis als Teil einer Gemeinschaft von Kirchen ständiger Reformbereitschaft und Neuausrichtung aussetzt (ecclesia semper reformanda). Eine konfessionelle Identität, die sich nicht verankert sieht in einer allgemein christlichen und einer spezifisch kirchlichen Identität, entspräche einer konfessionalistischen Sekte. Anders gesagt: Wer kein ökumenisches Interesse hat, bewegt sich am Rande der christlichen Identität, die von einem Ineinander von Partikularität und Universalität geprägt ist (vgl. Kap. 2). Dieser Vorschlag regt ein Verständnis von Konfession an, das in der Pluralität von Kirchen nicht schon an sich ein zu büßendes Unglück sieht, sehr wohl jedoch in der Ausbildung konfessionell-exklusivistischer Selbstverständnisse, damit verbundener konkreter gegenseitiger Verletzungen oder selbstgenügsamer Gleichgültigkeit.

4.3.Konfessionelle »Binnendifferenzierung«

Jedoch gilt es, das Problem der konfessionellen Identität auch innerkirchlich/innerkonfessionell ins Auge zu fassen. Weitgehend unbeachtet in der akademischen und auch in der kirchlichen ökumenischen Diskussion bleibt nach wie vor die Tatsache, dass sich in der globalisierten Welt, vor allem aber in Mitteleuropa, die klassischen konfessionellen Grenzen in eine konfessionelle »Binnendifferenzierung« auflösen [57]. Für Deutschland z. B. kann man sagen, dass sich in den meisten Konfessionen all die Positionen schon innerhalb ihrer eigenen Kirche finden, die in den theologischen Lehrbüchern als konfessionstypische Differenzen der Kirchen untereinander beschrieben werden. In der klassischen Dialogökumene wird das – in der Regel aus methodischen Gründen – ausgeklammert und jede Kirche also mehr oder weniger »typisiert« behandelt. Darum bezieht man sich hier auf grundlegende Texte der jeweiligen konfessionellen Tradition, wofür ein Gremium von Spezialistinnen und Spezialisten vonnöten ist. Diese ökumenische Arbeit ist unverzichtbar. Sie dient dem immer wieder neu einzuholenden gegenseitigen Verstehen ebenso wie der theologischen Prüfung, ob ehemals Kirchentrennendes auch gegenwärtig noch in derselben Weise zwischen den Kirchen steht. Zwischenkirchliche Dialogarbeit ist weiterhin unerlässlich für die gemeinsame Reflexion über die dem Evangelium adäquate Kirchenstruktur. Die ökumenische Auseinandersetzung über den Amtsbegriff zum Beispiel, als Beseitigung von Missverständnissen, gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Gestalten, aber auch als Ringen um notwendig erscheinende Veränderungen ist – bei allem notwendigen Spezialistentum und aller methodischen Typisierung – für jede Kirche unverzichtbar. Allerdings muss man fragen, ob diese Arbeit nicht sehr viel stärker in eine breitere Diskussion um die (Wieder-)Gewinnung der Deutekraft des Evangeliums in der gegenwärtigen Lebenswelt eingespeist werden könnte/müsste.

Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn man die Binnendifferenz der Konfessionen ernst nimmt und sich klarmacht, dass die Themen der ökumenischen Dialoge auch hier als Gegenstände neuer glaubenserschließender Suchbewegungen (wieder) erschlossen werden müssen: Was ist Glaube? Geschenk des Heiligen Geistes und darum nicht an eine Willensentscheidung gebunden? [58] Wie können wir in der heutigen Welt von Sünde sprechen? Sollen wir Nicht-Christen als ungetaufte »Ungläubige« für sündig halten, gar für unverzeihlich wider den Heiligen Geist sündigend? [59] Was meinen Protestanten eigentlich genau, wenn ihnen die Rede von der »sündigen Kirche« so leicht über die Lippen geht? Diese und viele andere Themen klassischer ökumenischer Dialoge sind in der theologischen Selbstvergewisserung allen Kirchen auf breiter Ebene neu zu reflektieren: In der Fortbildung kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, in ökumenischen Arbeitskreisen und Bibelkreisen auf Gemeindeebene, mit Eltern von Jugendlichen in Taufkatechese-, Konfirmations- und Firmgruppen – um nur einige Beispiele zu nennen. Im Bereich des Religionsunterrichtes sowohl auf konfessioneller wie auf konfessionell-kooperativer Ebene ist die EKD bereits mit der Denkschrift »Identität und Verständigung« (1994) und zuletzt mit dem EKD-Text »Religiöse Orientierung gewinnen« (2014) [60] wegweisende Schritte gegangen.

In diesem Sinne ist ernsthaft zu fragen, ob die klassische Dialogökumene die einzige Weise des ökumenischen Gesprächs bleiben darf. Für die Menschen nämlich, die in der innerchristlichen Binnendifferenzierung und Pluralität von konfessionellen Prägungen leben, wird ein interkonfessionelles Gespräch »an der Basis« in neuer Weise wichtig: Sie brauchen es für ihren eigenen theologischen Klärungsprozess. Das interkonfessionelle Gespräch auf breiter Ebene wird dabei – durchaus mit einem vertrauensbildenden Effekt unter den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern – die innere Pluralität, die Binnendifferenzierung der Konfessionen aufdecken. Es wird aber zum anderen auch eine neues Interesse daran wecken, den Sinn der traditionellen Glaubensformen zu entdecken, nachzuvollziehen und möglicherweise neu anzueignen. Dafür wird es nicht nur notwendiger, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes spannender.

Das interkonfessionelle Gespräch muss also nicht das Ziel haben, das eine konfessionelle Profil an dem anderen zu messen. Es kann vielmehr den theologisch-existenziellen Gründen für unterschiedliche Glaubenssprache und Glaubensformen nachspüren und für die Ausbildung einer eigenen theologischen Perspektive nutzen. Die Bedingungen dafür sind freilich kontextuell sehr unterschiedlich. Weltweit muss man wohl einen eher rekonfessionalisierenden Trend ausmachen, der der Sicherung des kirchlichen Fortbestandes dienen soll. Weil diese Profilbildung schon Mühen kostet, wird der interkonfessionelle Dialog oft gescheut. Hier sind weitere Anstrengungen in der ökumenisch-theologischen Ausbildung nötig, denn ohne die Bildungsmöglichkeiten des ökumenischen Dialogs über Fragen der Lebensgestaltung kann auch keine Kraft entwickelt werden, die wachsenden Fundamentalisierungstendenzen entgegenstehen kann. Nicht zuletzt aber müssen in komplexer werdenden Gesellschaften bei ausbleibendem Dialog seelsorgerliche Defizite gefürchtet werden. Eine »Ökumene der Gaben« hingegen, wie sie in der Charta Oecumenica der Konferenz der Europäischen Kirchen vorgeschlagen worden ist, versucht durch Erfahrungen gemeinsamer Gestaltung der Lebenswelt und daraus erwachsende Gespräche zu einer lebendigen christlichen Lebensorientierung beizutragen. In diesem Sinne gehört ökumenische, interkonfessionelle Bildung gerade in Zeiten des Traditionsverlustes als theologische Suchbewegung in jede Kirchengemeinde, jeden Religionsunterricht und ganz besonders in die universitäre theologische Ausbildung.

Zu einer ernsthaften Ökumene des interkonfessionellen Gesprächs gehört auch eine Würdigung ökumenischer Spiritualität. In diesem Sinne hat die katholische Kirche eine »Ökumene des Lebens« vorgeschlagen, die in Zeiten der noch bestehenden zwischenkirchlichen Differenz vom gemeinsamen Gebet für die Einheit getragen sein solle [61]. Gemeinsames Beten spielt auch in der konkreten ökumenischen Dialogarbeit eine wichtige Grundlage, was sich zumeist auch im sprachlichen und konzeptionellen Stil der Texte widerspiegelt. Es kann weiterhin keine Frage sein, dass zu einer ernsthaften Würdigung ökumenischer Spiritualität auch gehören muss, nicht nachzulassen im Bemühen um gemeinsame ökumenische Gottesdienste.

4.3.1 Ekklesiologische Konsequenzen: die Kirchen auf gemeinsamer Pilgerschaft

»Die Kirche existiert nach dem Willen Gottes nicht für sich selbst, sondern soll dem göttlichen Plan zur Verwandlung der Welt dienen.« [62]

Wenn es stimmt, dass in christlichem Verständnis Kirche nicht Selbstzweck ihrer Mitglieder, sondern im Heiligen Geiste gegründetes wirksames Zeugnis des Heilswillens Gottes für die ganze Menschheit ist, dann wird sie sich besonders im Zeitalter der Globalisierung den weltweiten Dimensionen ihrer Existenz nicht verschließen können. Dieser Gedanke spielte eine steuernde Rolle bei dem Versuch der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung im Ökumenischen Rat der Kirchen, die Gemeinsamkeiten im Kirchenverständnis aller beteiligter Kirchen zusammenzustellen [63]. Die tragende Gemeinsamkeit wird hier in der Dynamik der Kirche gesehen, Gottes Willen und Plan der »Verwandlung« der Welt zu dienen. In diesem Selbstverständnis, das mit den Worten Dienst und Zeugnis charakterisiert wird, steht die Einheit der Kirchen als von Gott geschenkte Gabe für nicht weniger denn als Gabe eines authentischen Lebens durch Gott. Um dieses authentischen Lebens in Gottes schöpferischer und erneuernder Gegenwart willen wissen sich die Kirchen in aller konkreten Partikularität in die universale Einheit ihrer Gemeinschaft gerufen. Denn dieses Leben hat seinen Ursprung in Gottes trinitarischem Wesen als lebendiger Gemeinschaft, das nicht für sich sein will, sondern in die Welt drängt und an seiner Lebendigkeit Anteil geben will und gibt. Die Kirchen sind sich noch nicht einig darüber, wie diese Anteilgabe durch den trinitarischen Gott in ihrer Gemeinschaft in Form und Ausdruck sichtbar wird.

Die evangelischen Kirchen sehen die Notwendigkeit einer ekklesiologischen Struktur, die die Selbstrelativierung der erfahrenen Kirche (als Institution?) als Raum der Glaubensvermittlung erlaubt und bewahrt und damit auch die kulturell wandelbaren Elemente ihrer Struktur als »semper reformanda« würdigt [64]. Aus anderen Kirchen hingegen kommt Skepsis auf, ob das große Gewicht des Diskurses auf der Ebene eines Priestertums aller Gläubigen wirklich vertrauenerweckend genug sein kann, um die Kontinuität der Kirche in der Sendung Gottes (Missio Dei) – und nicht ihre eigene, jeweils ganz und gar partikulare Interessen- und Machtkonstellation – sicherzustellen. Anders gesagt: Die evangelischen Kirchen haben sich der Anfrage zu stellen, wie sie sich strukturell vor Ideologieverdacht schützen wollen.

Damit wird im weltweiten multilateralen Dialog über das Verständnis der Kirche ein Problem aufgedeckt, mit dem gerade in der globalisierten Welt alle Kirchen zu ringen haben. In dieser Einsicht liegt zweifellos ein wesentliches Moment der Einsicht in die Unverzichtbarkeit einer weltweiten multilateralen und gegenseitigen ökumenischen Lebensbegleitung der Kirchen, in der sie sich als Geschwister der Kinder Gottes gegenseitig kritisch, aber auch ermutigend und tröstend in ihrer Aufgabe stärken. Insofern könnte das Modell der Kircheneinheit als Kirchengemeinschaft in einem ökumenischen ekklesiologischen Selbstverständnis, das sich primär aus der Sendung Gottes in die Welt (Missio Dei) definiert, in neuer Weise für alle Kirchen relevant werden: als eine Möglichkeit nämlich, die Kirchen in ihrem Unterwegssein in die volle Einheit sichtbar zu machen. Wenn man will, kann man das als ein Modell der gestuften Kircheneinheit verstehen.

Vor allem aber wird im Bewusstsein der Weggemeinschaft das Modell in sich abgeschlossener Identitäten überwunden. Es lebt aus der Hoffnung, dass sich die Kirchen in einem bewussten Selbstverständnis als »Weggemeinschaft« [65] einander in ihrem »gemeinsamen Verständnis des Evangeliums« erkennen, dass sie in neuer Weise ein Interesse aneinander entwickeln, das nicht ausschließlich auf identitätsstiftende Abgrenzung aus ist. Vor allem aber kann dieses Modell ernst nehmen, dass die Menschen in der heutigen globalisierten Welt auch in hohem Maße auf der Suche sind nach neuen adäquaten Ausdrucksformen des Evangeliums, und dass sie dabei angesichts der innerkirchlichen Binnendifferenzierung nicht mehr allein mit konfessionstypischen Formen der Glaubensreflexion und -praxis auskommen können. Damit wird es der beschriebenen Situation besser gerecht als die Rede von einer »Ökumene der Profile« oder einer »Ökumene der Gaben«.

Es gilt nun, diese Situation nicht als Not, sondern als Chance für eine neue Lebendigkeit der Kirchen wahrzunehmen. In diesem Sinne hat die X. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2013 in Busan/Korea die Kirchen zu einem »Pilgerweg« (Pilgrimage) eingeladen. Ausgehend von der Tradition des Pilgerns ergeben sich zahlreich theologische Konnotationen: So hat ein Pilgerweg ein Ziel, lebt aber zugleich aus den Stationen und den Begegnungen mit anderen Pilgernden unterwegs. Wer sich also auf den Pilgerweg macht, muss sich auf neue Räume einlassen und muss mitgebrachte Ansprüche auf Besitzstandswahrung »einklammern«. Im Wort »Pilger« steckt das lateinische »peregrinus«, Fremdling. In der Nachfolge Christi machen sich die Pilger auf den Weg, um aus der Erfahrung der Weggemeinschaft Beheimatung zu gewinnen. Die Pilgernden entdecken, wie ihre konfessionelle Identität sich eingewoben findet in die Dimensionen kirchlicher und christlicher Identität. Weniger die Regelmäßigkeit des Wochenrhythmus als vielmehr der herausgehobene Zeitblock mit intensiver und vielfältiger Event-Struktur prägt zunehmend auch die gemeindliche Alltagspraxis der Kirchen sowie natürlich das Leben in internationalen Kirchenpartnerschaften.

Solchen Überlegungen liegt ein altes christliches, biblisch verankertes Modell von Kirche als wanderndem Gottesvolk und umherziehender, verkündigender und heilender Jünger- und Jüngerinnengemeinschaft zugrunde. Dieses Modell gehört zum ekklesiologischen Traditionsbestand aller Kirchen und stammt durchaus nicht allein aus der Erfahrung der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Zu erinnern wäre vor allem an das 2. Vatikanische Konzil und die Kirchenkonstitution Lumen Gentium, in der u. a. die Kirche als »messianisches Volk Gottes« bezeichnet wird, die als solches »unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Lichte gelangt, das keinen Untergang kennt« (Lumen Gentium 9). Auch eine Anknüpfung an das vom Kirchenvater Johannes Chrysostomos († 407) entwickelte Motiv der »Synkatabasis« (griechisch für »Kondeszendenz«) ist im Kontext der Motivik des wandernden Gottesvolkes gut möglich, wie in den bilateralen theologischen Gesprächen zwischen EKD und Rumänischer Orthodoxer Kirche herausgearbeitet wurde [66]. Die Metapher der Pilgerschaft bestimmt Kircheneinheit als Kirchengemeinschaft unterwegs. Sie stellt die Kirchen in den Kontext von Buße und Versöhnung und wirkt damit in ökumenischer Weite einem triumphalistischen Kirchenbild entgegen [67]. Jedenfalls gilt dies dann, wenn sich die Kirchen miteinander unterwegs darauf einigen, auch aneinander prophetisch, priesterlich und diakonisch-fürsorgend zu handeln. Im Selbstverständnis der Teilhabe an der Sendung, der Missio Dei, tun sie das mit Blick auf die Herausforderungen der Welt, insbesondere mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung angesichts des Klimawandels. Dabei suchen sie auch die Kooperation mit nicht-kirchlichen Akteuren. Nicht zuletzt suchen sie, »eins zu sein« um der Bewahrheitung des Evangeliums willen – »damit die Welt glaubt«, dass Christus gesandt ist (Joh 17,21). Eine solchermaßen eine Kirche weiß sich in die Welt gesandt, um hier immer wieder neu und je konkret den Sinn des Lebens im Lichte Christi zu entdecken, sie ist in der Welt in Weggemeinschaft, die Abgrenzungen überwindet. Nicht allwissende Antwortgeberin ist diese Kirche, sondern der Raum durch Orte und Zeiten hindurch, der christliche Hoffnung und Gewissheit lebendig hält für die je konkrete Suche der Menschen nach einem gelingenden Leben in Frieden und Gerechtigkeit.

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