Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

Vorwort

Die Berufung auf das Gewissen gehört zum Kernbestand ethischer Verantwortung. Sie zu achten gehört zur Anerkennung der Würde der Person. Aber sie macht nicht unangreifbar und enthebt nicht der Rechenschaft über die Gründe für eine Gewissensentscheidung. Die Berufung auf das Gewissen signalisiert Konflikte im Zusammenleben mit anderen in der Rechtsgemeinschaft wie in der Kirche. Über konkrete Gewissensentscheidungen kommt es nicht selten zum Streit, weil sie für andere nicht einsehbar oder nicht nachvollziehbar sind. In solchen Auseinandersetzungen stellt sich die Frage nach dem Verständnis des Gewissens und nach den Folgerungen, die aus Gewissensentscheidungen zu ziehen sind.

In der evangelischen Kirche ist es in den letzten Jahren immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen über die Berufung auf das Gewissen in bestimmten Situationen gekommen, vor allem dort, wo die Anerkennung bestimmter Handlungen, die bewußt mit einer Verletzung der Rechtsordnung verbunden sind, als Gewissensentscheidungen gefordert wird. Die "Militärsteuerverweigerung aus Gewissensgründen" und in jüngster Zeit die Protesthandlungen gegen Atommülltransporte nach Gorleben sind dafür Beispiele.

Dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland sind die Konflikte im Verständnis des Gewissens besonders deutlich geworden an der Kontroverse, die sich an den "Thesen zum Kirchenasyl" vom September 1994 entzündet hat. Es war vor allem These 6, auf die sich die Auseinandersetzung konzentrierte. Sie betont, daß eine "gewissensbedingte Rechtsverletzung ... nur persönlich verantwortet werden" kann. Die Kirche darf dabei "nicht ... als handelnde oder verantwortliche Institution in Anspruch genommen werden".

Ein weiterer umstrittener Punkt war und ist die Frage, ob das christliche Gewissen ganz bestimmte Handlungen, also spezifische christliche Gebote vorschreibt.

All das veranlaßte den Rat der EKD, die Kammer für Öffentliche Verantwortung, die ihm die "Kirchenasyl"-Thesen vorgelegt hatte, zu bitten, eine grundsätzliche Stellungnahme zum Gewissensbegriff zu erarbeiten. Die Kammer hat das getan. Sie hat sich dabei um argumentative Präzision ebenso bemüht wie um eine klare Verhältnisbestimmung zwischen dem theologischen Verständnis des Gewissens auf der einen und der Achtung des Gewissens in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie in der verfassungsgemäßen Auslegung des Grundgesetzes auf der anderen Seite.

Das Resultat dieser Anstrengungen hat der Rat der EKD mit Dank entgegengenommen. Er stimmt den Grundaussagen des Textes zu und ist mit seiner Veröffentlichung einverstanden.

Der Rat ist überzeugt davon, daß diese Thesenreihe den Klärungsprozeß vorantreiben und zu seiner inhaltlichen Ausrichtung einen wichtigen Beitrag leisten wird.

Die Thesen verdienen sorgfältiges Lesen. Das wird vor allem für den, der in der theologischen Fachsprache nicht so zuhause ist, manchmal nicht einfach sein. Der Text ist geschlossen, komprimiert und karg an aktueller Anschaulichkeit. Das ist Absicht. Die genaue Lektüre der Thesen lohnt, weil nur durch sie die Folgerichtigkeit des in ihnen entwickelten Gedankengangs sich erschließt. Wer sich vorschnell an dem ihnen "zugrundeliegenden Begriff vom Gewissen als Urteilskraft" (Ziff. 27.2) stößt, der möge nicht überlesen, daß zugleich festgestellt wird, daß genau dieser Begriff "Auswirkungen auf die konkrete Urteilsbildung hat und sich dadurch handlungsorientierend auswirkt" (ebd.).

Die Thesen rücken die Individualität des Gewissens als Grunderfahrung der Identität der Person mit theologisch-philosophischen und rechtlichen Gründen ins Zentrum der Darstellung. Darin liegt die sachliche Übereinstimmung zwischen dem christlichen Verständnis des Gewissens und der Bedeutung des Gewissens in der Rechtsordnung gemäß der Verfassung. Dieses Verständnis des Gewissens schließt ein, daß "die ethische Urteilsbildung, auf die sich das Gewissen bezieht, auf Kommunikation angwiesen" ist und daß "sich Menschen zu gemeinsamem Handeln auch aus Gewissensgründen verbinden" können (Ziff.29). Nachdrücklich wird jedoch daran festgehalten, daß Gewissensentscheidungen nicht an die Gemeinschaft abgegeben werden können, "eben weil Gemeinschaften kein Gewissen haben können, ... das Gewissen eines Menschen nicht für andere und für Gemeinschaften sprechen kann" (ebd.). Auch die freiheitliche Rechtsordnung anerkennt die Schonung der Gewissensentscheidung des einzelnen, nicht von Gemeinschaften oder Gruppen (vgl. Ziff. 44.4).

Was ist die Botschaft, die diese Thesen übermitteln? Ich versuche, den gründlichen und anspruchsvollen Text in drei elementare Imperative zu fassen:

  • Handle nicht gegen dein Gewissen und bringe niemanden in die Situation, gegen sein Gewissen handeln zu müssen!
         
  • Verwechsle das Ergebnis einer vernunftgemäßen Prüfung unterschiedlicher Handlungsalternativen nicht mit einer Gewissensentscheidung!
         
  • Sei sparsam mit der Berufung auf das Gewissen und immunisiere dich nicht gegen Argumente, indem du dich vorschnell auf dein Gewissen berufst!

Die Thesenreihe versteht sich als ein evangelischer Beitrag zur Versachlichung einer Debatte, von der viele Menschen auch ganz direkt und unmittelbar betroffen sind.

Hannover, im Juni 1997

Landesbischof Dr.Klaus Engelhardt
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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