Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

III. Anthropologische Aussagen über das Gewissen

10. 

Gewissen hat der Mensch insofern, als er sich von sich selbst zu unterscheiden und sich zugleich auf sich selbst zu beziehen vermag. Im Gewissen ist der Mensch sich seiner selbst als eines Selbstverhältnisses bewußt: Ich weiß um mich selbst als ... Dieser Gedanke ist in drei Hinsichten näher zu entfalten:

10.1

Gewissen hat der Mensch insofern, als er handeln muß und um sein Handeln weiß. lm Gewissen ist sich der Mensch seiner selbst als eines Handelnden beziehungsweise Unterlassenden bewußt: als eines Subjekts, das handelt, gehandelt hat und handeln wird.

10.2

Gewissen hat der Mensch insofern, als er als Handelnder gefordert ist. Im Gewissen ist sich der Mensch seiner selbst als eines Geforderten bewußt: als eines von Gott, von anderen Personen, von Institutionen, von sich selbst Geforderten.

10.3

Gewissen hat der Mensch insofern, als er sein Handeln an dem von ihm als gültig anerkannten Gefordertsein mißt und beurteilt. Im Gewissen ist sich der Mensch seiner selbst als eines Urteilenden und (von sich) Beurteilten bewußt, so daß das Gewissen als das "subjektive Prinzip einer... seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung" definiert werden kann. (14)

11.

Gewissen braucht der Mensch, weil er die Fähigkeit hat, im Widerspruch zu der von ihm als gültig erkannten ethischen Forderung zu handeln und damit zu sich selbst in Widerspruch zu geraten.

11.1

Das Gewissen meldet sich in ursprünglicher Weise als schlechtes Gewissen, das mit Nachdruck auf eine bestehende oder drohende Selbstentzweiung hinweist. Es entsteht aufgrund falschen oder versäumten Tuns.

11.2

Demgegenüber ist das gute Gewissen, streng genommen, das Bewußtsein von der Abwesenheit des schlechten Gewissens und daher von diesem bestimmt.

11.3

Die Asymmetrie zwischen schlechtem und gutem Gewissen belegt: Das Handeln in Übereinstimmung mit den eigenen ethischen Überzeugungen ist der Fall, der keiner Erwähnung bedarf; das Handeln im Widerspruch zu den eigenen ethischen Überzeugungen stellt hingegen eine existenziell bedrohliche Situation dar, die durch das Gewissen zum Bewußtsein gebracht wird.

12.

Gewissen erschließt sich dem Menschen insofern, als er sich selbst als geschichtliche Existenz erfährt, die in der Differenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existiert. Wer nur im Augenblick (ephemer) existierte, könnte kein Gewissen haben.

12.1

In der Anklage des Gewissens wird der Mensch seiner selbst gewahr als von den existenziellen Widersprüchen seiner eigenen Vergangenheit verfolgt und eingeholt.

12.2

In der Warnung des Gewissens wird sich der Mensch dessen bewußt, daß er durch das von ihm beabsichtigte Handeln in einen existenziellen Widerspruch geraten wird.

12.3

In der Erregung des Gewissens erfährt der Mensch sein gegenwärtiges Handeln als existenziellen Widerspruch zu sich selbst.

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