Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

I. Die christliche Hochschätzung des Gewissens und die Vieldeutigkeit des Gewissensbegriffs ((1))

1. 

Daß sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu Fragen äußert, die das Verhältnis von Rechtsordnung und Gewissensentscheidung betreffen, hat ganz bestimmte konkrete Anlässe. "Militärsteuerverweigerung aus Gewissensgründen" (2) (2) und "Kirchenasyl" (3) , soweit im - seltenen - Einzelfall Rechtsverletzungen in Betracht kommen, sind zwei aktuelle Beispiele. Ein anderes Motiv liegt in der ethischen Hochschätzung des Gewissens, die dem christlichen Glauben eigentümlich ist. Durch das reformatorische Christentum ist dem in Gottes Wort gebundenen Gewissen für das christliche Leben und für die christliche Lehre zentrale Bedeutung zuerkannt worden. Diese Hochschätzung des Gewissens hat das Selbstverständnis auch von Menschen geprägt, die dem christlichen Glauben fernstehen.

Mit diesen Thesen werden zugleich Aussagen aufgenommen und fortgeführt, die die Evangelische Kirche in Deutschland 1985 in ihrer Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" getroffen hat. Im Zusammenhang der Frage nach dem "Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe", heißt es dort: "Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehört es, daß die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden." (4)

1.1

"Da ich durch die von mir angeführten Schriften überwunden bin und mein Gewissen gefangen ist in den Worten Gottes, kann ich und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch heilsam ist. Ich kann nicht anders. Hier stehe ich. Gott helfe mir. Amen". (5) Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521 gegebene Begründung für die Widerrufsverweigerung "ist das Fanal geworden, das durch die Geschichte des gesamten europäischen Geistes weiter leuchtet bis heute und von dem das Wort Gewissen seine entscheidende Bedeutung für die letzten Fragen des menschlichen Daseins empfangen hat".(6)

1.2

Daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Art. 4 Abs. 1 "die Freiheit des Gewissens" (zusammen mit der "Freiheit des Glaubens" und der "Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses") für "unverletzlich" erklärt und in Art. 4 Abs. 3 bestimmt, daß "niemand ... gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" darf, ist - zumindest auch - eine weltliche Auswirkung der dem christlichen Glauben eigentümlichen Hochschätzung des Gewissens.

2.

Der Begriff des Gewissens ist allerdings einer der umstrittensten Begriffe überhaupt. Weil "der Sprachgebrauch ... hinsichtlich desselben ein so ungeheuer chaotischer und vager" ist, hat schon Richard Rothe ihn "als einen wissenschaftlich unanwendbaren" Ausdruck behauptet. (7) Dennoch ist "die Sache auch ohne den Namen 'Gewissen' und ... unabhängig von ihm" (8) da und zu erörtern.

2.1

In der Bibel kommt der Ausdruck "Gewissen" sehr viel seltener vor als die Sache. Das Alte Testament kennt den Begriff nicht; allerdings kann hier das Herz eine dem Gewissen entsprechende Funktion übernehmen (vgl. 1. Sam 24,6; 2. Sam 24, 10; 1. Kön 2, 44; 8, 38). In den christlichen Sprachgebrauch ist der Ausdruck erst durch Paulus eingeführt worden (z.B. Röm 2, 15 und vor allem 1. Kor 8, 7 - 13). Er benutzt ihn ohne weitere Erklärung, setzt also voraus, daß er bei seinen Hörern und Lesern bekannt ist.

2.2

Die wichtigste neutestamentliche Bezugnahme auf das Gewissen ist die apostolische Mahnung, das "schwache" Gewissen des anderen zu respektieren und auf keinen Fall den anderen durch das eigene "starke" Gewissen dazu zu verführen, dem Urteil seines Gewissens entgegen zu handeln (1. Kor 10) Das eigene Gewissen wird, indem es die angefochtenen "schwachen" Gewissen anderer zu respektieren lernt, seinerseits geschärft und "kultiviert". Es wird aber nicht durch das Gewissensurteil anderer beherrscht. "Denn warum sollte ich das Gewissen eines anderen über meine Freiheit urteilen lassen?" (1. Kor 10,29)

3.

Wird der Ausdruck "Gewissen" trotz des uneinheitlichen Sprachgebrauchs verwendet, so ist eine Verständigung über die Bedeutung des Begriffs unerläßlich.

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