Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

V. Das die personale (Nicht-)Identität bezeugende und die Taten der Person beurteilende Gewissen

20. 

Für den christlichen Glauben ist es entscheidend, daß das Gewissen

20.1

sich auf das Wissen des Menschen um Gut und Böse bezieht, indem es dieses Wissen als geltendes Normbewußtsein voraussetzt;

20.2

sich auf die Einheit des ganzen vor Gott existierenden Menschen (homo coram deo) bezieht, indem es dessen personale Identität oder Nichtidentität bezeugt;

20.3

sich auf die Taten des Menschen bezieht, indem es diese beurteilt.

21.

Als Gewissen besteht der Mensch sich selbst gegenüber unbeirrbar auf Wahrheit.

22.

Im Gewissen weiß der Mensch implizit um seine Geschichte, und insofern vergegenwärtigt das Gewissen die Vielfalt kreatürlicher Stimmen, die ihn schon immer angeredet und beansprucht und gefordert haben. Jedes Gewissen ist immer auch durch die kulturelle, religiöse, politische und familiäre Sozialisation des einzelnen Menschen geprägt: Die Vielfalt kreatürlicher Stimmen, die den Menschen schon immer angeredet, beansprucht und gefordert haben, reden bei der Urteilsbildung des Gewissens mehr oder weniger deutlich mit.

23.

Aber im Gewissen weiß sich der Mensch zugleich aus der Vielfalt kreatürlicher Stimmen, die ihn schon immer angeredet, beansprucht und gefordert haben, herausgerufen, insofern er alle ihn beanspruchenden Stimmen dem Anspruch der Wahrheit unterwirft.

24.

Im Gewissen unterbricht der Mensch sich selbst, indem er sich selbst gegenüber auf Wahrheit besteht.

25.

Das Gewissen ist der Ruf an das entzweite Dasein in die Ganzheit. Im Gewissen erfährt der mit sich entzweite Mensch den Verlust seiner Einheit und Ganzheit und gerade so seine Bestimmung zu einem mit sich selbst übereinstimmenden, ungeteilten Dasein.

26.

Im Gewissen hat der Mensch sein Tun zu verantworten. Er tut es, indem er als Glaubender sein Gewissen durch Gottes Wort leiten läßt und auf seine Weisung hört und sich von ihr zum verantwortlichen Gebrauch seiner Vernunft anleiten läßt.

27.

Das Gewissen sagt nicht, was konkret zu tun ist, sondern es bezeugt dem Täter unmittelbar die Qualität seiner Tat. Es setzt nicht selber Normen, sondern sagt, daß das, was konkret getan werden soll, auch getan wird. "Das Gewissen ist nämlich keine Kraft des Handelns, sondern eine Urteilskraft, die über die Handlungen urteilt". (22) Das Gewissen ist und bleibt prüfende Instanz und nur als prüfende auch verbietende und gebietende Instanz.

27.1

"Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urtheilt der Verstand, nicht das Gewissen". (23) Seinen Gebrauch kann es ebenso wenig ersetzen, wie es an seine Stelle treten kann und darf.

27.2

Prüfendes Gewissen und handlungsanleitende Vernunft stehen jedoch zueinander in Beziehung. Die Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland etwa zur Neuregelung des § 218 StGB (24), zum "Kirchenasyl" (25) oder zur "Militärsteuerverweigerung aus Gewissensgründen" (26) machen deutlich, daß und wie der diesen Thesen zugrundeliegende Begriff vom Gewissen als Urteilskraft (virtus iudicandi) Auswirkungen auf die konkrete Urteilsbildung hat und sich dadurch handlungsorientierend auswirkt.

28.

Für sein Handeln verantwortlich kann nur sein, wer auch hätte anders handeln können. Daß der Mensch zu verantworten hat, was er tut, setzt voraus, daß er Handlungsalternativen hat und insofern in seinem Tun frei ist. Als Gewissen verantwortet der Mensch seinen Umgang mit der eigenen Freiheit, zu der er durch göttliche Anrede berufen ist.

29.

Das Gewissen ist per definitionem individuell (vgl. These 44.4). Gleichwohl ist die ethische Urteilsbildung, auf die sich das Gewissen bezieht, auf Kommunikation angewiesen. Ebenso können sich Menschen zu gemeinsamem Handeln auch aus Gewissensgründen verbinden. Dadurch geht die Verantwortung für die Gewissensentscheidung aber nicht auf die Gemeinschaft über. Sie bleibt beim einzelnen, eben weil Gemeinschaften kein Gewissen haben können, wie auch das Gewissen eines Menschen nicht für andere und für Gemeinschaften sprechen kann. Das schließt eine "Politisierung des Gewissens" (Dorothee Sölle) keineswegs aus, macht aber deutlich, daß immer nur mein Gewissen mich politisch zu binden vermag. Verantwortung des eigenen Tuns vor dem eigenen Gewissen ist deshalb von den Konsequenzen dieser Verantwortung für das gemeinsame Tun und für die Aktivitäten (und Unterlassungen) der Gesellschaft zu unterscheiden. Sein Gewissen kann einen Menschen nötigen, sich aus bestimmten Interaktionen zu lösen und eventuell andere entgegengesetzte Interaktionen zu fordern oder zu fördern. Was andere Menschen zu tun und zu lassen haben, ist jedoch Gegenstand der diskursiven (z.B. politischen) Auseinandersetzung und also dem Urteil der Vernunft unterworfen: so wie ja auch, ob "eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei", dem Urteil des Verstandes und nicht dem Urteil des Gewissens unterworfen ist (vgl. These 27.1).

30.

Der grundrechtliche Schutz der individuellen Gewissensentscheidung kann nur in Anspruch genommen werden, wenn die Berufung auf das Gewissen im gegebenen Fall einen "hinreichenden Bezug zum Verantwortungsbereich des Einzelnen" erkennen läßt. (27)

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