Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft

Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014

Gemeinsame Verantwortung heißt, die Soziale Marktwirtschaft nachhaltig weiterzuentwickeln.

2. Soziale Marktwirtschaft

Als nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft begründet wurde, war es das Ziel, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Alfred Müller-Armack). Dieses Ziel hat Deutschland ein hohes Maß sowohl an wirtschaftlichem Wohlstand als auch an sozialer Stabilität beschert. Auch durch die Rückbesinnung auf dieses Ziel hat Deutschland die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007–2009 ohne größere wirtschaftliche und soziale Verwerfungen überstanden. Damit hat sich gezeigt, dass die Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft nicht nur unter moralischer Perspektive, sondern auch unter dem Aspekt nachhaltigen gesellschaftlichen Erfolgs nach wie vor richtig ist: Wirtschaftliche Effizienz und sozialer Ausgleich sind politisch gleichermaßen im Blick zu halten. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die Soziale Marktwirtschaft kein statisches Modell ist, sondern immer wieder an die sich wandelnden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen angepasst werden muss.

Der Gesetzgeber hat in den letzten zehn Jahren zahlreiche Schritte unternommen, um das Wirtschafts- und Sozialsystem an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Gerade die Finanzmarktkrise und die europäische Staatsschuldenkrise haben deutlich gemacht, wo diese Reformpolitik Früchte trägt, aber auch, wo noch Defizite liegen. Nach wie vor besteht Handlungsbedarf etwa in der Ausgestaltung der Finanzmarktordnung. Hier, aber auch in anderen Bereichen der Wirtschaft brauchen wir eine ordnungspolitische Erneuerung wie eine Erneuerung der Verantwortungskultur. Die europäische Krise zeigt, dass eine solche Kultur der Verantwortung nicht zuletzt auch von den Regierungen und Parlamenten selbst im Hinblick auf eine nachhaltige Haushaltspolitik zu fordern ist.

Die Krisenjahre haben auch gezeigt, dass es Deutschland besser als anderen Industrieländern gelungen ist, sich auf die Herausforderungen der Globalisierung einzustellen. Trotz eines ungünstigen weltwirtschaftlichen Klimas hat sich die deutsche Volkswirtschaft positiv entwickelt; der Wohlstand unseres Landes konnte erhalten bleiben. Zugleich dürfen wir aber nicht die Augen davor verschließen, dass nicht alle Menschen in unserem Land an diesem Wohlstand teilhaben. Wie in den meisten OECD-Ländern, so hat auch in Deutschland in den letzten 30 Jahren die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen zugenommen.

Offensichtlich ist es noch nicht hinreichend gelungen, eine Antwort darauf zu finden, wie unter den Bedingungen der Globalisierung ein gerechter und fairer sozialer Ausgleich in der Sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts organisiert werden kann. Ethisches Leitbild sollte dabei die möglichst umfassende soziale Inklusion und Partizipation aller Menschen in unserem Land sein. Das ist nicht nur eine im engeren Sinne sozialpolitische, sondern eine umfassend gesellschaftspolitische und auch zivilgesellschaftliche Aufgabe. Nach wie vor gibt es – manchmal offensichtliche, manchmal sehr subtile – Ausgrenzungen von Menschengruppen aus sozialen Lebensbereichen und von Ämtern und gesellschaftlichen Positionen. Das betrifft beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund, die immer wieder die Erfahrung machen, dass ihnen der Zugang zu bestimmten Bereichen und Positionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat erschwert wird.

Eine besondere sozialpolitische Herausforderung liegt darin, dass es nach wie vor eine große Gruppe von Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die dauerhaft von der Teilhabe an Erwerbsarbeit und damit von sozialen Aufstiegschancen ausgeschlossen sind. Eine derartige soziale Exklusion ist nicht nur in moralischer, sondern auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht ein Problem. Es ist deshalb eine vordringliche Aufgabe der Sozialpolitik im 21. Jahrhundert, die soziale Aufstiegsmobilität zu fördern. Hierbei kommt dem Bereich der Bildung eine Schlüsselrolle zu. Denn Bildungspolitik ist vorsorgende Sozialpolitik.

Angesichts der mit dem demografischen Wandel verbundenen Herausforderungen können wir es weniger denn je hinnehmen, die Fähigkeiten und Begabungen von Millionen Menschen brachliegen zu lassen. Die damit verbundene Frage der Generationengerechtigkeit wird auch auf anderen Ebenen in Zukunft eine besondere Wichtigkeit und Dringlichkeit bekommen. Diejenigen, die heute in prekären Arbeitsverhältnissen leben oder aus anderen Gründen keine private Vorsorge treffen können, haben ein hohes Risiko, im Alter in Armut zu leben. Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie wir die Solidarität über die Generationen hinweg in Zukunft sicherstellen und organisieren wollen. Das bedeutet im Kern die Herausforderung, den gefährdeten Menschen durch Qualifizierung und Befähigung die Beteiligung am regulären Erwerbsleben zu ermöglichen. Angesichts gewachsener sozialer Ungleichheit darf aber nicht übersehen werden, dass gerechte Teilhabe auch eine Frage von Einkommen und Vermögen ist. Beteiligungs- und Verteilungsgerechtigkeit gehören zusammen.

Nicht nur in den Kirchen wird heute betont, dass das Ziel der Steigerung des materiellen Wohlstandes, das in den letzten Jahrzehnten in der Gesellschaft im Zentrum gestanden hat, in eine neue Balance mit der Steigerung des „Beziehungswohlstands“ gebracht werden muss. Dazu gehört auch mehr Aufmerksamkeit für die Pflege und Fortentwicklung sozialer Beziehungen, für Erziehung, liebevolle Zuwendung und die Förderung der Gemeinschaft wie für eine Beziehung zur Schöpfung, die nicht von Ausbeutung gekennzeichnet ist, sondern von Achtung.

Das berührt die ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, insbesondere den Klimawandel und die Notwendigkeit der Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Unser gegenwärtiges Wohlstandsmodell ist aufgrund der Begrenztheit der vorhandenen natürlichen Ressourcen und der Grenzen der Belastbarkeit des Planeten nicht  weltweit verallgemeinerbar und damit in gewisser Weise fragwürdig. Gleichzeitig kann niemand den sich entwickelnden Ländern das Recht bestreiten, am weltweiten Wohlstand teilzuhaben. Die dadurch notwendigen Veränderungen sind in ihrem Ausmaß noch viel zu wenig im Bewusstsein und akzeptiert.

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