Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft

Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014

Die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit

Immer wieder begegnet uns die Behauptung eines Widerspruchs zwischen Moral und Ökonomie. In der Finanzmarktkrise wurde z. B. von Bankenvertretern zugestanden, dass bestimmte Geschäftsmodelle und Investments moralisch fragwürdig waren, dass sich aber zumindest Banken mit internationalem Anspruch diesen nicht entziehen konnten. Grund seien die Spielregeln des internationalen Finanzmarktes. Eine ähnliche Argumentation findet sich immer wieder auch bei Unternehmen, die auf die Gesetzmäßigkeiten des globalisierten Marktes verweisen, wenn sie etwa damit konfrontiert werden, in Entwicklungsländern bestimmte Sozial- oder Umweltstandards verletzt zu haben.

Wir halten diese Trennung von Ökonomie und Moral für falsch und für fatal. Sie ist schon historisch grundfalsch. Die Ökonomie war immer ein Teilgebiet der Ethik, bis sie sich seit dem 18. Jahrhundert zu einer selbstständigen Wissenschaft entwickelte. Ihren moralischen Anspruch hatte sie dabei aber nicht aufgegeben, sondern ihr erklärtes Ziel blieb es, die wirtschaftlichen Grundlagen für den Wohlstand der Völker zu erforschen. Die Aufgabe der Wirtschaft sollte es sein, in bestmöglicher Weise die materiellen Grundlagen für ein gutes, selbstbestimmtes Leben aller zur Verfügung zu stellen. Die Marktwirtschaft hat sich als das bestmögliche System herausgestellt, um unter den notorischen Knappheitsbedingungen  des irdischen Lebens den Bereich der materiellen Bedarfsdeckung zu organisieren. Aber auch sie erfüllt diese Aufgabe nur in unvollkommener Weise. Der Markt bedarf einer Rahmenordnung zum Schutz des freien und fairen Wettbewerbs selbst sowie zum Schutz öffentlicher Güter und der Umwelt, und er bedarf staatlicher Sozialpolitik, um die gerechte Teilhabe aller sicherzustellen.

Wir sehen mit Sorge, dass sich in der allgemeinen Wahrnehmung die Ökonomie immer weiter von der Ethik entfernt hat. Dabei wollen wir keineswegs bestreiten, dass der Bereich der Wirtschaft gemäß einer eigenen Sachlogik funktioniert und dass derjenige, der sich als Investor, Dienstleister, Produzent oder Konsument auf den Markt begibt, dieser Sachlogik folgen muss. Trotzdem hat sich auch der, der sich auf dem Markt bewegt, an die moralischen Regeln zu halten, die im gesellschaftlichen Umgang geboten sind. Die Tugenden der Gerechtigkeit, der Ehrlichkeit und des Maßhaltens werden durch die ökonomische Rationalität in keiner Weise relativiert. Wo dies geschieht und wo dementsprechend bedenkliche Haltungen wie Gier und Maßlosigkeit propagiert und praktiziert werden, zersetzt sich der gesellschaftliche Zusammenhalt mit fatalen Folgen insbesondere für die schwächsten Glieder. Aber auch ökonomische Fehlanreize können negative soziale Folgen nach sich ziehen. Wo Ökonomie und Menschlichkeit in Widerspruch zueinander geraten, stimmt etwas an der ökonomischen Ordnung nicht mehr.

Wir Christen wissen um die Gebrochenheit der menschlichen Natur, die zum Großartigsten, aber auch zum Schrecklichsten fähig ist. Und wir werben dafür, diese Ambivalenz des Menschlichen auch bei der Gestaltung der sozialen Institutionen zu beachten. Die menschliche Gesellschaft ist keine Gemeinschaft von puren Egoisten, aber auch keine von reinen Altruisten. Dem trägt das Modell der Sozialen Marktwirtschaft Rechnung, weil es einerseits das menschliche Leistungsstreben und Konkurrenzverhalten in den Dienst volkswirtschaftlicher Effizienz stellt, aber andererseits den marktwirtschaftlichen Wettbewerb auf das Gemeinwohl hin ordnet und im Wege des Sozialstaats mitmenschliche Solidarität organisiert. Diese Verbindung von Freiheit und marktlichem Wettbewerb einerseits und einem System des sozialen Ausgleichs und der Solidarität andererseits ist mehr als eine spezifisch deutsche Wirtschaftsverfassung, sondern ein moralisch begründetes Sozialmodell, das tief in der europäischen Kultur wurzelt. Diese Kultur Europas ist ganz wesentlich durch das Christentum geprägt worden. Auch darum fühlen wir uns als Christen dazu aufgerufen mitzuwirken, um dieses kulturelle Erbe zu bewahren und lebendig zu halten.

Wir werben dafür, dass wir als Gesellschaft versuchen, eine Antwort auf die sich in der Geschichte immer wieder neu stellende Frage zu finden, wie Freiheit und soziale Gerechtigkeit zusammengedacht und -gebracht werden können. Wir sind überzeugt, dass es auch heute Antworten auf diese Frage gibt. Die vorgelegten Thesen möchten einen Diskussionsbeitrag dazu leisten. Dieser öffentliche Beitrag der Kirchen stellt aber auch Anforderungen an uns selbst. Bereits im Gemeinsamen Wort von 1997 haben wir betont: „Es genügt nicht, wenn die Kirchen die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und die Verhaltensweisen der darin tätigen Menschen thematisieren. Sie müssen auch ihr eigenes Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken. Das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirkt umso überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet.“[3] Deshalb müssen auch die Kirchen prüfen, welche Veränderungen und Aufgaben für das eigene Handeln sich aus den Fragen der Zeit ergeben.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben mit diesen Thesen die Initiative ergriffen, um die Diskussion über eine Erneuerung unserer Wirtschafts- und Sozialordnung anzustoßen. Wir laden die verschiedenen kirchlichen und gesellschaftlichen Gruppen, aber auch jeden Einzelnen ein, mit uns ins Gespräch zu kommen über den Ausgleich von Freiheit und Gerechtigkeit. Wir sind der Überzeugung, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist – aller Christen, aber auch aller Menschen, die sich für die Zukunft unserer Gesellschaft einsetzen –, sich den Fragen der Zeit zu stellen und für eine solidarische und gerechte Gesellschaft Sorge zu tragen. Mehr noch: Es ist unsere gemeinsame Verantwortung.