Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft

Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014

Gemeinsame Verantwortung heißt, durch Inklusion und Partizipation zur Chancengerechtigkeit beizutragen.

7. Inklusion und Partizipation

In der Vergangenheit konnte man mitunter den Eindruck haben, dass viele soziale Probleme mehr verwaltet als wirklich gelöst wurden. Das Ziel, Menschen immer wieder zu befähigen, möglichst selbstverantwortlich leben zu können, schien bisweilen aus dem Blick geraten zu sein. Inzwischen haben wir gelernt, dass auch sozialstaatliche Leistungen – sowohl im Interesse der Empfängerinnen und Empfänger als auch mit Blick auf die Staatsausgaben – stets auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und gegebenenfalls neu geregelt werden müssen. Dieses Ziel haben auch die Sozialreformen der letzten zehn Jahre verfolgt. Trotz offensichtlicher Erfolge wie dem Abbau der Arbeitslosigkeit ist diese Reformpolitik in der gesellschaftlichen Debatte weiterhin umstritten. Das liegt auch daran, dass die notwendigen Veränderungsschritte neue Probleme mit sich gebracht haben. Dazu gehört etwa die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse.

Insgesamt ist die soziale Ungleichheit in den letzten 30 Jahren in Deutschland wie auch in den meisten anderen OECD-Staaten gewachsen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Damit sind Anfragen an die Gerechtigkeit der sozialen Verhältnisse verbunden. So wird unter der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit die Ungleichheit zum Gegenstand der politischen Debatte.

Wir regen aber auch dazu an, den gesellschaftspolitischen Diskurs nicht nur auf der Ebene der Verteilungsgerechtigkeit zu führen, weil dann bestimmte dringliche soziale Fragen gar nicht thematisiert werden. Sowohl hinsichtlich der angemessenen Analyse sozialer Probleme als auch der Effizienz sozialstaatlicher Möglichkeiten möchten wir deshalb dazu ermuntern, den sozialpolitischen Diskurs durch einen stärker chancenorientierten gesellschaftspolitischen Diskurs zu ergänzen. Ethische Leitbilder eines solchen chancenorientierten gesellschaftspolitischen Diskurses sollten Inklusion und Partizipation sein. Dies gilt vor allem im Blick auf Gesetzgebung, Ausgestaltung und Praxis der Arbeitsvermittlung. Es geht im Grundsatz um die Teilhabe aller Menschen in unserem Land in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Es gehört zur Würde der Person, dass ihre jeweiligen individuellen Begabungen bestmöglich gefördert werden. Dem Bereich der Bildung in allen Lebensphasen kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu.

Angesichts des demografischen Wandels und des schon jetzt in einigen Regionen und Branchen herrschenden Fachkräftemangels kann es sich die deutsche Gesellschaft zudem weniger denn je leisten, Talente brachliegen zu lassen. Auch wenn sich in diesem Bereich viel Positives entwickelt hat, so bestehen doch nach wie vor zu viele Diskriminierungen und frustrierende Hemmnisse im Arbeitsleben und im gesellschaftlichen Zusammenleben. Das betrifft ganz unterschiedliche soziale Gruppen. Frauen wird weiterhin noch zu oft der Zugang zu beruflichen Führungspositionen verwehrt, Mütter und Väter sehen keine hinreichenden Perspektiven, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Menschen mit Migrationshintergrund, auch solche, die schon in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, erfahren noch zu oft keine gleichwertige soziale Anerkennung. Es ist nicht nur eine politische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diesen Herausforderungen unter der Zielperspektive von Inklusion und Partizipation zu begegnen. Das setzt freilich auch die Bereitschaft jedes Einzelnen zu aktiver gesellschaftlicher Teilnahme voraus. Um das anspruchsvolle Projekt umfassender sozialer Inklusion zu verwirklichen, bedarf es sowohl der Chancengerechtigkeit als auch der Eigeninitiative.

Damit der Einzelne die Eigeninitiative ergreifen kann, muss er auch die tatsächliche und faire Chance haben, sich mit seinen individuellen Begabungen in der Gesellschaft einzubringen. Wirkliche Chancengerechtigkeit herzustellen, ist eine herausfordernde gesellschaftspolitische Aufgabe. Es geht dabei darum, dass Menschen mit schlechteren sozialen Startbedingungen Unterstützung erfahren, angefangen bei der frühkindlichen Förderung.

Inklusion und Partizipation sollten auch die Leitperspektiven von Sozialpolitik im engeren Sinne werden. Trotz mancher Erfolge ist nämlich ein wesentliches Ziel der Sozialreformen bisher nur unzureichend erreicht worden: die sozialen Chancen derjenigen Menschen zu verbessern, die am unteren sozialen Rand der Gesellschaft leben. Wer in Deutschland arm ist, bleibt allzu oft arm. Zudem ist es so, dass Armut weiterhin in viel zu vielen Familien von einer Generation an die nächste „vererbt“ wird. Damit  wollen wir uns als Kirchen nicht abfinden. In der Verpflichtung auf eine vorrangige Option für die Armen werben wir dafür, dass unsere Gesellschaft in Zukunft besser als bisher ihrer Verantwortung für die Schwachen gerecht wird.

Armut ist ein Mangel an ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen, und hat für die Betroffenen nicht nur finanzielle Probleme zur Folge, sondern bedeutet einen Ausschluss aus wesentlichen gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen. Zu oft folgt unser Sozialstaat jedoch noch dem Modell einer rein versorgenden Fürsorge, in dem eindimensional die materielle Seite der Armut gelindert wird. Es geht deshalb darum, stärker als bisher auch die soziale und kulturelle Dimension von Armut in den Blick zu nehmen. Sozialpolitik unter der Leitperspektive von Inklusion und Partizipation ist darauf gerichtet, soziale Chancen zu eröffnen und damit Freiheit (neu) zu ermöglichen. Sozialpolitik in diesem Sinne betrachtet den Hilfebedürftigen also nicht als bloß passiven Empfänger sozialer Leistungen, sondern nimmt ihn in seiner Personalität ernst. Soziale Hilfen sind deshalb konsequent an den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität auszurichten. Das heißt: Die Hilfe der Solidargemeinschaft muss so gestaltet und auch finanziell so bemessen sein, dass der Empfänger sich stets als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft empfinden kann. Zugleich darf die Solidargemeinschaft erwarten und einfordern, dass der Hilfeempfänger im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten aktiv an der Verbesserung seiner Lage mitwirkt. Gegebenenfalls ist es dabei freilich wiederum die Aufgabe des Sozialstaates, dafür Sorge zu tragen, dass wirklich jedem Hilfeempfänger solche Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet werden. Entsprechend verstehen wir die Ideen zu einem aktivierenden und inklusiven Sozialstaat und einer entsprechenden Gesellschaft. Sozialstaatliche Instrumente sollten in dieser Richtung weiterentwickelt werden.

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