Im Sterben: Umfangen vom Leben.

Gemeinsames Wort zur Woche für das Leben 1996: "Leben bis zuletzt - Sterben als Teil des Lebens", Gemeinsame Texte 6, 1996

1. Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft

Jahr für Jahr sterben in Deutschland etwa 900000 Menschen. Unter ihnen sind über 9500 Verkehrstote, 12000 Suizid-Tote und 2500 Totgeburten. Über die Hälfte aller Todesfälle ereignen sich in Krankenhäusern, Kliniken und Altenheimen; in manchen Großstädten sind es 90% und mehr. Nicht zu übersehen ist die zunehmende Zahl von Toten, die ohne Angehörige oder mittellos sterben. Das hängt u.a. damit zusammen, daß die Zahl von alleinlebenden Menschen in allen Altersstufen steigt und sich ihr Lebens- und Sterbeweg anders als der von Menschen in Partnerschaft und Familie gestaltet. Angesichts der zurückgegangenen Kindersterblichkeit und der steigenden Lebenserwartung verschiebt sich das durchschnittliche Todesalter immer mehr nach oben.

Allein diese wenigen Hinweise zeigen bereits: Sterben, Tod und Trauer sowie die Einstellung dazu haben sich in den letzten Jahrzehnten in unserem Land radikal verändert. Das Sterben zu Hause im Kreis der Familie und der Angehörigen sowie der Nachbarn ist eher selten geworden. Die Bestatter bieten im Trauerfall inzwischen ein umfassendes Angebot an Hilfen bis hin zur Trauerbegleitung an. Neben der Erdbestattung wird zunehmend die Feuerbestattung üblich. Die Zahl anonymer Bestattungen steigt, nicht nur in den neuen Bundesländern. Grab- und Grabmalkultur sind stereotyp und katalogmäßig geworden. Die Kirchen und ihre Gemeinden beschränken sich im Trauerfall gelegentlich auf den Bereich der Verkündigung und Liturgie: Aber die Begleitung der Angehörigen als Sorge für sie, besonders in den Wochen nach der Bestattung, ist eine gewichtige Aufgabe. Die Trauernden selbst verstecken und verdrängen ihre Emotionen durch Abwehr von Beileidsbezeugungen und durch eine möglichst rasche Rückkehr zum »normalen« Alltag.

Die Bedingungen des modernen Lebens haben zu einer sozialen Verdrängung der lebensbedeutsamen Vorgänge um Tod und Trauer geführt. Die Gestaltung des Lebens bestimmt auch den Umgang mit dem Sterben. Immer wieder wird die Forderung nach aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) laut. In unserer Gesellschaft werden Wohlstand, immer weiter steigender Lebensstandard und Vitalität bis ins hohe Alter hinein als Leitbilder propagiert. Viele Menschen können sich für das eigene Leben Entbehrungen und Grenzsituationen kaum noch vorstellen. Die Erfolge der Medizin führten zu einer zuweilen ins Unermeßliche gehenden Hoffnung auf Wiederherstellung der Gesundheit, auf Schmerzbeseitigung oder auf ein Leben mit »neuen Organen« – nicht wenige Menschen glaubten in dieser Hoffnung an eine quasi »diesseitige Unsterblichkeit«. Angesichts eines relativ kurzen und vielfach gefährdeten Lebens hofften die Menschen früherer Zeiten noch weit mehr auf ein »Weiterleben nach dem Tod«, auf eine Vollendung des irdischen Lebens in der Ewigkeit bei Gott. Heute sehen viele in einem langen und erfüllten Leben das Ganze, oder sie erträumen von einer Reinkarnation den Ausgleich für die erfahrenen Entbehrungen und die nicht erfüllten Hoffnungen.

Inzwischen werden die Grenzen des Machbaren jedoch deutlicher. So mancher Fortschritt wird als »tödlich« entlarvt. Langsam wird uns bewußt: Die privaten und sozialen Tabuisierungen von Sterben, Tod und Trauer wirken sich schädlich, ja zerstörend für unser Leben aus. Allmählich werden diese Wirklichkeiten wieder »gesellschaftsfähig«: in den Gesprächen und Publikationen, in der Bereitschaft, persönlich für Pflegebedürftige und Schwerkranke zu sorgen und sich den Sterbenden und Toten wieder neu zuzuwenden.

Maßgeblichen Anteil daran hat die Hospizbewegung mit ihrem vielfältigen Engagement. Davon inspiriert lassen sich auch verstärkt Krankenhäuser und Kliniken auf die Frage ein, welche personellen und strukturellen Konsequenzen im Blick auf die Ermöglichung und die Begleitung eines »Sterbens in Würde« zu ziehen sind. Trauergruppen und seminare werden von Hinterbliebenen dankbar angenommen; Trauernde finden sich zu Initiativ-Gruppen zusammen (z.B. »Verwaiste Eltern«). Die Frage nach dem eigenen Sterben wird allerdings eher selten gewagt oder sinnvoll beantwortet.

Über Jahrhunderte hin prägte die christliche Botschaft vom Sinn des Lebens und Sterbens und von der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten die Lebens- und Todeskultur unserer Gesellschaft. Viele fanden hier Antwort auf die Sehnsucht des Menschen nach bleibendem und vollendetem Leben. Zuweilen mag die Verkündigung dieser Zukunftshoffnung sich zu wenig inspirierend für die konkrete Lebensgestaltung ausgewirkt haben. Das irdische Leben wurde mehr als »Warteraum für das Jenseits« aufgefaßt, die Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes zu wenig als Impuls zu Veränderung der Lebensverhältnisse wirksam. Zwischenzeitlich haben der weit verbreitete Atheismus und der Glaube an den »natürlichen Tod« bei manchen die Frage nach der Zukunft des Menschen über den Tod hinaus fast verstummen lassen oder als uninteressant und unbedeutend ausgewiesen. Heute stellen sich viele Menschen diese Frage wieder neu. Die christliche Botschaft ruft dazu auf, die Erde zu lieben, sie zu gestalten und zu verändern, aber sie weiß, daß die Vollendung nicht vom Tun des Menschen, sondern von Gott abhängt.

Die Auferstehung der Toten und das ewige Leben, wie sie im apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert sind, führen in die personale Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und zugleich in die Gemeinschaft aller Menschen in einem »neuen Himmel und einer neuen Erde«: Ein Leben in Fülle, das Gott in Jesus Christus denen verheißen hat, die ihn lieben, gerade auch den Armen und Notleidenden, und das schon in Jesus Christus angebrochen ist.

Christlich motivierte und gestaltete Begleitung der Sterbenden und Zuwendung zu den Trauernden, aber auch der Umgang mit den Toten in der gottesdienstlichen Verkündigung und – je nach Konfession – in der Feier des Heiligen Abendmahles bzw. in der Feier der Sakramente, besonders aber im caritativen bzw. diakonischen Handeln der Kirchen sind von dieser Hoffnung getragen und umfangen. Der Gott Abrahams und der Gott Jesu ist »kein Gott von Toten, sondern von Lebenden; denn für ihn sind alle lebendig« (Lk 20,38).

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2. Im Sterben: Umfangen vom Leben

Wie alles Leben endet auch das menschliche Leben mit dem Tod. Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen hat aber nur der Mensch ein Bewußtsein für seine Sterblichkeit. Dies nötigt ihn, sich mit seiner Endlichkeit auseinanderzusetzen. Hinzu kommt die Erfahrung, daß Sterben und Tod nicht erst am Ende des Lebens stehen, sondern das Leben von Anfang an begleiten, z.B. in Krankheit, Leiden, Mißerfolg. »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen« heißt es in einem alten Kirchenlied.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens führt zur Frage nach dem Sinn des Todes für das Leben. Es ist die vordringliche Aufgabe von Philosophie und Theologie, Antworten auf diese Fragen zu geben. Der Heiligen Schrift kommt dabei als Urkunde des christlichen Glaubens eine besondere Bedeutung zu. Die Aussagen der Bibel über diese Grundfragen sind vielfältig.

Die Schöpfungsberichte wie überhaupt das Alte Testament sprechen sehr nüchtern vom Tod: Der Mensch stirbt ganz, seine Knochen vermischen sich mit denen der anderen und seine Individualität hört auf. »Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück«. (1.Mose/Gen 2,19) Das Leben wird als begrenzt angesehen, die Lebenszeit des Menschen wird als von Gott zugemessen ernstgenommen. Auffallend ist die Zurückhaltung gegenüber dem Schicksal der Toten und ihre Bedeutungslosigkeit für die Lebenden.

Die Psalmen begründen unsere Vergänglichkeit in unserer Entfremdung von Gott und in unserer Lebensgeschichte, ohne daß dieser Zusammenhang von uns nachgeprüft und Gott gegenüber aufgerechnet werden kann. Während wir den Tod vom Augenblick des physischen Verlöschens an bestimmen, reicht er für den Glauben Israels tief in das Leben hinein. Er beginnt schon da, wo Krankheit, Leiden, Anfeindung, Anfechtung und Verzweiflung den Menschen schwächen, wo diese die Beziehung zu Gott lockern und ihn von Gott entfremden. Für den Psalmisten ist Gott selbst im Tod wirksam, er läßt sterben und setzt unser Ende. Die Macht des Todes ist Gottes eigene Macht, und der 90.Psalm fügt hinzu: »Denn wir vergehen durch deinen Zorn, werden vernichtet durch deinen Grimm. Du hast unsere Sünden vor dich hingestellt, unsere geheime Schuld in das Licht deines Angesichts« (Ps 90,7f).

Neben dieser Vorstellung vom Tod findet sich im Laufe der Geschichte Israels aber auch die Hoffnung, daß mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Es entwickelte sich der Glaube an ein Fortleben nach dem Tod sowohl des ganzen Volkes Israels (vgl. Ez 37) wie auch des einzelnen Menschen: »Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluß und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit« (Ps 73,23f, s.a. Ps 16,9). Dieser Gedanke einer Gemeinschaft mit Gott, die am Tod nicht zerbricht, wird im Buch Daniel (um 165 vor Chr.) weiter ausgebaut: »Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.« (Dan 12,2) So nimmt das Alte Testament erst spät deutlich eine Hoffnung auf, die – im Glauben an die Auferstehung der Toten entfaltet – sich im Neuen Testament erfüllt, besonders in der Auferweckung Jesu Christi.

Wie das Alte Testament ist auch das Neue Testament von der Vorstellung geprägt, daß Gott »nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden« (Mk 12,27) ist. So ist für Paulus und für die anderen Apostel der Tod kein bloßer Naturvorgang, sondern Störung und Schrecken, der »Lohn der Sünde« (Röm 6,23). Es ist der Preis, den die an die Sünde gebundene Menschheit zu entrichten hat. Der Tod erscheint im Neuen Testament nicht als Strafe, sondern als Folge, als Konsequenz unserer willentlichen Lossagung von Gott.

Im Licht des Evangeliums von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi ist für Paulus der Tod aber auch Gnade. Denn er beendet unser von Gottesvergessenheit, Egozentrik und Lieblosigkeit bestimmtes Leben und setzt unserer Flucht vor Gott eine Grenze. Der Tod bringt uns aus der vorläufigen Gemeinschaft mit Gott in der irdischen Existenz in das vollkommene, endgültige Leben bei Gott.

Die Begegnung mit Gott, die im Tod stattfindet, bedeutet für den Menschen zugleich das Gericht über sein Leben. »Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat.« (2 Kor 5,10) Wir sind nach Paulus also für das verantwortlich, was wir getan und aus unserem Leben gemacht haben. Im Gericht wird Gott offenbar machen, was aus unserem Glauben geworden ist und wie er sich im Leben ausgewirkt hat.

Die junge Kirche war mit Paulus zudem der Auffassung, daß Jesus Christus durch seine Lebenshingabe die Sünden aller Menschen gesühnt hat (vgl. Röm 3,25). Christus hat die Verbindung von Sünde und Tod gelöst, indem er beide auf sich nahm, ohne selbst von Sünde belastet zu sein. Aufgrund der Abendmahlsüberlieferung »Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut« (1 Kor 11,25; Mk 14,24) wurde es der jungen Gemeinde bald nach Ostern zur gläubigen Gewißheit: Die durch Christus gewirkte Sühne gilt für Vergangenheit und Gegenwart, sie ist unwiederholbar und unüberbietbar.

Das Neue Testament überschreitet das Alte Testament, indem es bezeugt, daß in Jesus Christus das Leben Gottes endgültig erschienen ist. Nach dem Johannesevangelium sagt Jesus bei der Auferweckung des Lazarus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.« (vgl. Joh 11,25) Gott hat den Menschen geschaffen, um mit ihm Gemeinschaft zu haben – so sind wir im Leben und im Tode auf Gott bezogen. Die Toten sind in Gottes Hand geborgen.

Diese Überzeugung der frühen Kirche gründet in der Erfahrung der Auferweckung Jesu. Sie wird so zum sicheren Fundament für ihren Glauben an die Auferstehung der Toten. Im Sieg des Lebens über den Tod kommt eine neue Welt zum Vorschein, an der alle teilhaben werden, die mit Jesus Christus verbunden sind. Die Botschaft vom neuen Leben der Menschen in Christus wird in der Bibel im Buch der Offenbarung mit verschiedenen Bildern beschrieben: Gott »wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.« (Offb 21,3–5)

In Jesus Christus, seinem Leben, Sterben und Auferstehen, ist Gottes neue Welt unter den Menschen angebrochen (Mk 1,15; Lk 4,16–21). Die Zuversicht auf die Gegenwart Christi gibt Menschen den Mut, auch in schwierigsten Situationen ihres Lebens Zeichen des kommenden Reiches Gottes aufzurichten. Sie haben die Kraft, Menschen auf der letzten Wegstrecke ihres Lebens, dem Sterben, zu begleiten. Exemplarisch ist dies in der Emmausgeschichte dargestellt: Der Auferstandene geht unerkannt mit den vom Karfreitagsgeschehen bedrückten Jüngern nach Emmaus; er spricht mit ihnen, tröstet sie, ermutigt sie und richtet sie auf (Luk 24,13–25). Solches Begleiten bringt die in unserem Leben verborgene, aber dennoch wirksame Kraft des Heiligen Geistes zur Erfahrung und macht deutlich: Auch im Sterben sind wir von Jesus Christus umfangen.

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3. Sterbebegleitung in der Kraft des Geistes Gottes

Eine todbringende Krankheit oder der Verlust einer geliebten Person können Menschen in tiefe Angst, Panik und Verzweiflung führen. Nicht selten setzen solche Erfahrungen aber auch nicht vermutete Kräfte des Widerstandes und die Fähigkeit zur Annahme der belastenden Lebenssituation frei. So wachsen mitunter von plötzlicher Krankheit betroffene und unmittelbar vor dem Tod stehende Menschen gleichermaßen wie diejenigen über sich selbst hinaus, die ihnen als Verwandte, Freunde oder professionelle Helferinnen und Helfer zur Seite stehen. Aus welchem Geist, aus welcher Hoffnung, aus welcher Gesinnung vermögen Menschen so zu leben und zu handeln? Die Brüchigkeit menschlichen Lebens und die Ohnmacht gegenüber unheilbarer Krankheit und dem unvermeidlichen Tod stellen den Menschen unausweichlich vor sich selbst. Der ihm aufgezwungene Blick in die Abgründe menschlichen Daseins nötigt ihn zu klären, wie er selbst zu Leiden und Tod steht, ob er die Endlichkeit und Todverfallenheit des Menschen auf sich beruhen lassen will, oder ob es für ihn hilfreicher ist, die sich stellende Sinnfrage zuzulassen.

Für Christen hat die Zielrichtung ihres Hoffens einen Namen: Jesus Christus. Er hat uns Menschen ein Ende aller Tränen dieser Erde und ein Leben bei Gott verheißen. Dieses Leben ist jetzt schon in ihm angebrochen. Das Ziel christlicher Hoffnung weist so über alle irdischen Wege des Menschen hinaus. Es stellt sich in Jesus Christus dar, der als unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes an die Menschen von sich sagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). So leibhaftig der einzelne Mensch leidet und stirbt, so konkret ist seine Hoffnung auf den leidenden, sterbenden und auferstandenen Christus gegründet.

Wenn jedoch Menschen unter großen Leiden sterben, kann die Frage aufbrechen: Warum läßt Gott das zu? Die Bibel, insbesondere das Buch Hiob, zeigt uns, daß sich das Schicksal der Menschen und der Lauf der Welt nicht mit direkten göttlichen Eingriffen von oben erklären lassen. Die Spannung zwischen der Güte Gottes und dem von ihm zugelassenen Leiden der irdischen Existenz bleibt bestehen. Sie will im Leben und Leiden ausgehalten werden. Jesus ermutigt uns, an Gott zu glauben und trotz der scheinbaren Verborgenheit Gottes im Leben Sinn zu suchen und zu erleben. Gott bestätigt in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen, daß er uns Menschen liebt und daß diese Liebe stärker ist als der Tod.

Immer wieder wird versucht, die Frage nach dem Sinn des Leidens durch die Forderung nach aktiver Sterbehilfe zu beantworten. Der Ruf nach dem erlösenden Tod ist jedoch nicht selten ein Schrei nach Nähe und Begleitung sowie die Bitte, nicht allein gelassen zu werden. Gerade das Verhältnis zwischen Arzt bzw. Ärztin und Kranken ist von dem Vertrauen getragen, daß der ärztliche Auftrag unbedingt gilt: menschlichem Leben nicht zu schaden, sondern es zu erhalten und zu fördern. Dieses Vertrauen würde erheblich gefährdet, wenn dieser Auftrag infrage gestellt wird. Deswegen setzen sich die Kirchen für eine Ablehnung jeder Form von aktiver Sterbehilfe und für eine Förderung von menschlich-christlicher Sterbebegleitung ein.

Die Weltdeutung und Lebensauffassung vieler Menschen gründen heute oft nicht mehr in Jesus Christus und in dem Gott Israels. Unabhängig vom persönlichen Glauben verbieten sich für die Betreuenden alle Versuche religiöser Indoktrination angesichts der existentiellen Not des sterbenden Menschen. Vielmehr sind aufmerksame Zuwendung, sorgfältige medizinische und pflegerische Betreuung und – wenn es gefragt ist und verstanden werden kann – das unaufdringliche Wort des Glaubens gefordert. Dies sind – über Gebet, Gottesdienste und je nach Konfession die Feier des Heiligen Abendmahls bzw. die Feier der Sakramente hinaus – die wesentlichen Ausdrucksformen christlicher Liebe.

Dabei darf ein christliches Verständnis von Nächstenliebe in der Sterbebegleitung nicht dazu führen, sich oder den kranken Menschen emotional zu überfordern. Der sterbende Mensch darf erwarten, daß seine Nähe oder Ferne zu Gott und zu den Menschen, die seinen Lebensweg bestimmt haben, auch jetzt respektiert werden. Wenn in Kontakten zwischen Kranken und Betreuenden tiefe Zuneigung, Verständnis und Angenommensein erfahrbar wird, dann ist dies ein Gnadengeschenk des Heiligen Geistes, den wir auch den Tröster nennen. Erzwungen oder eingefordert werden können solche beglückenden Erfahrungen jedoch nicht. Zu bedenken ist auch, daß die Begleitenden selbst mit ihren Ängsten umgehen lernen müssen und daß sie dazu oft selbst der Begleitung bedürfen.

Christen, die sich unter großem persönlichen Einsatz schwerkranker und sterbender Menschen annehmen, gewinnen ihre Kraft aus der Zusage des Apostels Paulus: »Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn« (Röm 14,8). Diese Zusage begründet für Gläubige die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen, auch wenn diese selbst den religiös-geistlichen Hintergrund für sich nicht annehmen können oder wollen. In Jesus Christus hat sich Gott allen Menschen mitgeteilt, auch wenn diese es nicht wissen oder wahrhaben wollen. Die Glaubenden stehen so stellvertretend für andere vor Gott. Im Gottesdienst, im Gebet, in geistlicher Besinnung und Meditation können die Not und die Leiden der Schwerkranken und Sterbenden vor Gott gebracht werden, und zugleich erfahren die Begleitenden dabei immer neu die stärkende Gottesgegenwart, die für ihr Handeln zur tragenden Kraft wird.

Es ist ein Zeichen nicht erlöschender Lebenskraft der Kirchen, daß viele Frauen und Männer sich unter nicht geringen Anstrengungen auch heute um Schwerkranke und Sterbende bemühen. Diese Christen stehen in einer langen Tradition der Liebestätigkeit, wie sie Ordensgemeinschaften, Schwestern- und Bruderschaften, Caritas und Diakonie sowie ungezählte Einzelinitiativen seit jeher in den Kirchen gelebt haben. Die Kirche wird glaubwürdig, wenn und insofern sie sich aus all ihren geistlichen, sozialen und pastoralen Kräften dem ganzen Menschen in Not unter größtmöglicher Achtung seiner Freiheit und Eigenverantwortung zuwendet.

Menschen, die sich in der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden engagieren, entdecken Sinnspuren des Lebens. Überzeugt, daß Leiden und Tod einen im Glauben ruhenden Sinn haben, stehen sie für Menschen an der Sinnschwelle ihrer Existenz ein. Sie stehen vor den Lebensschicksalen anderer und werden – bewußt oder unbewußt – mit ihrem eigenen Leben und Sterben konfrontiert. Indem sie den leidenden Menschen tragen, erfahren sie sich von ihm getröstet. Oft wird dabei erlebbar: Die Lebensängste des Menschen sind auch seine Sterbensängste und die Lebenshoffnungen prägen auch seine Sterbenshoffnungen. Diese mitzutragen und vor Gott zu bringen: Das ist die Haltung des Christen, geschenkt aus gläubigem Vertrauen.

Wenn wir diesen Dienst Sterbenden noch tun können, ist es ein Anlaß, dankbar zu sein; denn es gibt Formen des Sterbens und des Todes, denen gegenüber wir machtlos sind, wo wir nur noch wenig oder nichts mehr tun können. Das ist z.B. der Fall, wenn wir bei einem qualvollen Sterben zugegen sind. In solchen Situationen bleibt uns nur noch das stille oder betende Dasein als letzter Beistand, der die Sterbenden in ihrem Erleben aber oft noch erreichen kann. Bei plötzlichem Sterben z.B. durch Unfälle oder Katastrophen werden wir mit dem unvorbereiteten, nicht von anderen begleiteten Sterben und Tod konfrontiert. Der Blick auf den Tod des Gekreuzigten lehrt uns, keine Rückschlüsse von den verschiedenen Todesarten auf Annahme oder Ablehnung durch Gott zu ziehen. Alle Toten – wie immer sie auch sterben – ruhen in Gottes Hand und harren der Gnade Gottes entgegen. Zugleich ist die Möglichkeit eines plötzlichen Todes eine Mahnung für jeden einzelnen, wachsam zu sein und so zu leben, wie er in seiner Todesstunde wünschen wird, gelebt zu haben.

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4. Sterbebegleitung in Gemeinde und Hospizbewegung

Im Matthäus-Evangelium (Kapitel 25) werden sechs Werke der christlichen Nächstenliebe genannt: Hungernde speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Schon früh kam in den urchristlichen Gemeinden ein siebentes Werk der Barmherzigkeit hinzu, nämlich die Toten zu begraben. Außerhalb der Zählung dieser klassischen »sieben Werke der Barmherzigkeit« galt die Tröstung der Trauernden als selbstverständliche seelsorgerliche Aufgabe.

Auch heute sind die Bestattung und alle damit verbundenen Riten für den Menschen wichtig, um mit Tod und Angst umgehen zu können. Gräber sind in besonderer Weise Orte, an denen Menschen trauern können. Für Christen ist das Begräbnis nicht nur Pietät gegenüber den Toten und den Hinterbliebenen, sondern auch Ausdruck der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten.

Immer wieder wurden Menschen mit Zeiten besonders hoher Sterblichkeit konfrontiert. Naturkatastrophen, Massenerkrankungen, hohe Säuglingssterblichkeit und Kriege rafften die Menschen zu Tausenden dahin. Besonders in den Pestzeiten des Mittelalters waren die Kräfte der Menschen angesichts dieses Elends bis aufs äußerste angespannt. In dieser Zeit entstand eine breit gestreute Ars-moriendi-Literatur, die zum Begleiten der Schwerkranken und Sterbenden und zum Trösten der Trauernden ermutigen wollte. In einem der bekanntesten mittelalterlichen Sterbebüchlein heißt es: »Es ist kein Werk der Barmherzigkeit größer, als daß dem kranken Menschen in seinen letzten Nöten geistlich und sein Heil betreffend geholfen wird«.

Die Grundhaltung, aus der Sterbe- und Trauerbegleitung geschieht, wird heute auch »Freundschaftsdienst« genannt: Menschen in existentiellen Herausforderungen durch Krankheit, Leiden, Sterben und Tod Begleiterin oder Begleiter zu sein und als Freundin oder Freund zuhörend und mitfühlend beizustehen. Ob es sich um Angehörige, Geistliche oder andere Helferinnen und Helfer handelt: Sie alle können ihren Dienst nur leisten, wenn sie selbst begegnungsfähig sind. In vielen Initiativen privater oder öffentlicher Art werden deshalb heute Ausbildungsmöglichkeiten angeboten, die helfen sollen, solche Fähigkeiten zu entwickeln, die der Begleitung Schwerkranker und Sterbender und ihnen nahestehender Menschen dienlich sein können. Dazu gehören u.a. Eigenschaften wie Wahrnehmen, Mitgehen, Zuhören, Verstehen, Weitergehen und Loslassen, die in Gruppen und Vorbereitungskursen geübt werden. Dabei geht es nicht nur um ein Tätigwerden und Handeln nach außen, sondern um eine innere Haltung. Es wird versucht, der eigenen Betroffenheit Ausdruck zu geben und Grundhaltungen gegenüber dem Ende des Lebens in sich zu entwickeln. Als Begleiterin und Begleiter geben Menschen weiter, was sie selber in der Gemeinschaft der Lernenden und Liebenden empfangen haben. Sie sind in dieser seelsorgerlichen Aufgabe nicht »Kenner« und »Könner«, sondern Gerufene und Begabte. Als solche entwickeln sie die Kraft, anderen nahe zu sein und Liebe und Freundschaft zu schenken, wo es besonders nötig ist. Und sie sind in der Lage, den sie tragenden Grund ihres Handelns anderen Menschen mitzuteilen.

Eine solche »Freundschaftsbewegung« ist auch die Hospizbewegung in Deutschland. In ihr entdecken nicht wenige, die bisher eher kritisch und distanziert den Kirchen gegenüberstanden, daß gelebter christlicher Glaube zur Menschwerdung im Leben und im Sterben wertvolle Anregungen und Halt gibt.

Die Hospizbewegung in Deutschland hat sich, angeregt durch Impulse aus Großbritannien und den USA, erst relativ spät auf den Weg gemacht, hat schwierige Zeiten und Rückschläge hinnehmen müssen. Sie hat sich aber in ihren Zielen nicht beirren lassen:

  • Annahme des Sterbens als Teil des Lebens
  • Erfahrung von Sinn im Sterben
  • Wahrnehmen der Sterbenden und ihrer Angehörigen als gemeinsame Adressaten
  • Unterstützung durch ein interdisziplinär arbeitendes Team
  • Einbeziehung freiwilliger Helferinnen und Helfer
  • Supervision der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden
  • Kooperation aller Beteiligten
  • Integration der Hospizidee in die bestehenden Dienste und Einrichtungen
  • Spezielle Kenntnisse in der Symptomkontrolle
  • Kontinuität in der Betreuung
  • Begleitung Trauernder

Mit diesen Zielen vor Augen haben sich in Deutschland sehr unterschiedliche Zugänge und Verwirklichungen der gemeinsamen Hospizidee im Rahmen längst vorhandener Sorge um kranke und alte Menschen in Krankenhäusern, in Alten- und Pflegeheimen sowie in der ambulanten Krankenpflege entwickelt. Großherzige Spenden und Stiftungen ermöglichen es, die Arbeit, z.B. in den Krankenhäusern, besser auf die Bedürfnisse Schwerkranker und Sterbender abzustimmen. Zunehmend entstehen dort auch Palliativ-Stationen, z.T. in Zusammenarbeit mit Begleiterinnen und Begleitern des ambulanten Hospizes.

Das vielfältige und differenzierte Bild der Hospizbewegung in Deutschland läßt sich auf begrenztem Raum nicht leicht beschreiben: Es gibt inzwischen mehrere hundert Hospizinitiativen, von denen die Mehrzahl ökumenisch arbeitet. Zudem entstehen auf regionaler und überregionaler Ebene weitere Zusammenschlüsse.

Zeit haben für andere – »Sozialzeit« – gehört neben Arbeits- und Freizeit zu den Grundbedingungen eines erfüllten Lebens. Sie wird nicht mit klingender Münze bezahlt, sondern anders vergolten: mit neuer Aufmerksamkeit für die Tiefe des Lebens, mit Erfahrungen der Begegnung, des Lernens und des Lebensaustausches in Gruppen, mit fachkundiger Vorbereitung und Begleitung, mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die klärend und strukturierend, herausfordernd und bereichernd das eigene Leben verändert.

Die Kirchen beider großen Konfessionen leisten auf allen Ebenen Hilfen, ohne die Hospizbewegung als exklusiv kirchliche Arbeit zu verstehen. Die weitaus meisten Hospizinitiativen in Deutschland werden von engagierten Christen mitgetragen. Manche haben im Dienst für Schwerkranke, Sterbende und ihre Angehörigen die gemeinschaftsbildende Kraft eines christlichen Engagements für die Schwachen und Hilfsbedürftigen neu entdeckt. So kann in der Begleitung Sterbender tätiger Glaube neu Gestalt gewinnen, und so können alternative Weisen des gegenseitigen Gebens und Nehmens für die in unserer Gesellschaft zunehmend notwendige »belastbare Solidarität« prägend werden.